BT-Drucksache 14/8083

30 Jahre Berufsverbot - Bereinigung von Verstößen gegen Art. 10 und Art. 11 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)

Vom 25. Januar 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8083
14. Wahlperiode 25. 01. 2002

Antrag
der Abgeordneten Maritta Böttcher, Wolfgang Gehrcke, Ulla Jelpke, Dr. Evelyn
Kenzler, Heidi Lippmann, Petra Pau, Roland Claus und der Fraktion der PDS

30 Jahre Berufsverbote – Bereinigung von Verstößen gegen Artikel 10 und
Artikel 11 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten (EMRK)

I. Der Bundestag stellt fest:
1. Am 28. Januar 1972 fassten der damalige Bundeskanzler und die Minister-

präsidenten der Länder gemeinsam den Beschluss, bestehende Gesetze für
die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes dahingehend zu interpretieren,
dass in Zukunft die Mitgliedschaft in einer als verfassungswidrig angesehe-
nen Partei oder Organisation, die Tätigkeit oder Kandidatur für diese und de-
ren Förderung als nicht vereinbar mit einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst
angesehen werden. Die Bundesregierung und alle Landesregierungen – mit
Ausnahme des Saarlandes – erließen danach Verfahrensregelungen, die eine
Regelanfrage beim Verfassungsschutz sowie eine Anhörung bei der jeweili-
gen Personalabteilung vorsahen, wenn die vom Verfassungsschutz erstellten
Dossiers gerichtsverwertbare oder vorhaltbare Ansatzpunkte für ein Berufs-
verboteverfahren ergeben hatten.

2. Daraufhin kam es von 1972 bis 1990 zu 3,5 Millionen Überprüfungen von
Angehörigen oder Bewerberinnen und Bewerbern des öffentlichen Dienstes
bei Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden sowie weiteren Einrichtun-
gen wie der Bundesbank oder der Bundesanstalt für Arbeit. Betroffen davon
waren Mitglieder der DKP und anderer kommunistischer Parteien und Grup-
pen, Jungsozialisten und Mitglieder der SPD, Jungdemokraten der FDP so-
wie Christen und Pazifisten, wenn sie mit Kommunisten in der Studenten-,
Friedens-, Umwelt- oder Solidaritätsbewegung zusammengearbeitet hatten.
Die 35 000 erstellten Dossiers führten zu 11 000 Berufsverboteverfahren,
2 200 Disziplinarverfahren, 1 250 endgültigen Ablehnungen von Bewerbe-
rinnen und Bewerbern und zu 265 Entlassungen aus dem öffentlichen
Dienst. Nicht gezählt wurden versagte Berufungen an Hochschulen und
Beförderungen. Zu den Betroffenen zählten Angehörige aller Berufsgruppen
des öffentlichen Dienstes: Postboten und Zöllner, Lokführer und Friedhofs-
wärter, Verwaltungsangestellte und Professoren, Juristen und Ärzte, am
häufigsten jedoch Lehrerinnen und Lehrer sowie Sozialpädagoginnen und
Sozialpädagogen. Tausende von Gerichtsverfahren aller Art und Ebenen, bis
hin zum Bundesverfassungsgericht und zum Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg, folgten. Dort sind derzeit noch sechs Verfah-
ren anhängig. Auch wenn rund 80 % der Berufsverboteverfahren für die Be-
troffenen letztendlich positiv ausgingen, so mussten diese doch wochen- und
jahrelang um ihre Bürgerrechte kämpfen. Einige Verfahren dauerten bis zu
22 Jahre.

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3. Überall in der Bundesrepublik Deutschland erhob sich breiter Protest. Zahl-
reiche Kirchen-, Partei- und Gewerkschaftstage beschlossen Protesterklä-
rungen und forderten die Beendigung der Berufsverbotepolitik. Ab Mitte der
siebziger Jahre nahmen die Proteste im Ausland zu. Die IAO (ILO), das Eu-
ropaparlament, die UNO-Menschenrechtskommission und weitere Gremien
forderten mehrfach die Aufhebung der Berufsverbote, weil sie Grund- und
Menschenrechte verletzt sahen.

4. Diese Berufsverbotepraxis als Mittel der inneren Abgrenzung im Kalten
Krieg bei gleichzeitiger außenpolitischer Öffnung (Ostverträge) wurde zwar
im Zuge der Entspannungspolitik gelockert, aber niemals ganz abgeschafft.
Die Regelanfrage wurde – bis auf Bayern – in Bund und Ländern aufgege-
ben und durch anlass- und fallbezogene Anfragen ersetzt.
Hunderttausende junge Menschen und kritische Mitbürger wurden verun-
sichert und zweifelten an der Rechtsstaatlichkeit des Systems und an der
Realisierung der Menschenrechte. Die Berufsverbotepolitik zerstörte zuneh-
mend die Identifikation mit der demokratischen Ordnung anstatt sie zu festi-
gen, wie behauptet wurde. Dennoch wurde bis heute das Instrument Berufs-
verbot nicht aufgehoben. Es hat den Kalten Krieg überlebt. Jetzt, 30 Jahre
nach dem Beschluss von 1972 und zwölf Jahre nach dem Ende des Kalten
Krieges ist es an der Zeit, die Folgen des damaligen „Irrtums“ (Willy
Brandt) zu bereinigen, die Betroffenen zu rehabilitieren und sie für erlittenes
Unrecht und erfahrene Benachteiligungen zu entschädigen.

5. Am 26. September 1995 entschied der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte in Straßburg, dass das verhängte Berufsverbot gegen die Lehre-
rin D. V. gegen Artikel 10 der EMRK (Recht auf Freiheit der Meinungsäuße-
rung) und Artikel 11 (Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit)
verstoßen hat. Später erhielt sie daraufhin Schadensersatz in Höhe von
222 639 DM. Auch wenn dieses Urteil nur für den konkreten Fall D. V. end-
gültig, rechtskräftig und für die Bundesrepublik Deutschland als betroffe-
nem Vertragsstaat juristisch verbindlich ist, erscheint es aus politischen und
moralischen Gründen angezeigt, aus dem Straßburger Urteil gesetzgeberi-
sche Konsequenzen zu ziehen und alle Betroffenen zu rehabilitieren. Die in
sieben gleich gelagerten Fällen an die Disziplinargerichte und -höfe des
Bundes und der Länder gerichteten Wiederaufnahmeanträge wurden ableh-
nend beschieden. Die dazu eingereichten Verfassungsbeschwerden sind
durch das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung nicht zur Entschei-
dung angenommen worden. Die Betroffenen waren deshalb gezwungen,
ebenso wie D. V., Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg einzureichen. Es
besteht deshalb auch vor dem Hintergrund der zu erwartenden Entscheidun-
gen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugunsten der Be-
rufsverboteopfer dringender gesetzlicher Handlungsbedarf.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
ein Gesetz zur Bereinigung von Verstößen gegen Artikel 10 und 11 der EMRK
im Zusammenhang mit der Berufsverbotepraxis vorzulegen, das
a) alle auf Grund des Beschlusses des Bundeskanzlers und der Ministerpräsi-

denten der damaligen Länder vom 28. Januar 1972 zum Nachteil der Betrof-
fenen ergangenen Entscheidungen von Verwaltungsbehörden von Amts
wegen aufhebt und von Gerichten auf Antrag ermöglicht,

b) den Betroffenen einen angemessenen Schadensersatz sowie weitergehende
Ausgleichsleistungen für berufliche Benachteiligungen (z. B. Ausgleich von
Nachteilen in der Rentenversicherung) gewährt,

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c) die Entfernung der in Verbindung mit den Berufsverboteverfahren angeleg-
ten Dossiers zum Nachteil der Betroffenen in Verfassungsschutz- und Perso-
nalakten regelt,

d) die zur Umsetzung des Ministerpräsidentenbeschlusses vom 28. Januar 1972
etwaig noch in Kraft befindlichen Verfahrensregeln aufhebt.

Berlin, den 22. Januar 2002
Maritta Böttcher
Wolfgang Gehrcke
Ulla Jelpke
Dr. Evelyn Kenzler
Heidi Lippmann
Petra Pau
Roland Claus und Fraktion

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