BT-Drucksache 14/7444

Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad

Vom 13. November 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7444
14. Wahlperiode 13. 11. 2001

Antrag
der Abgeordneten Lothar Mark, Hans Büttner (Ingolstadt), Anke Hartnagel, Klaus
Barthel (Starnberg), Ingrid Becker-Inglau, Wolfgang Behrendt, Friedhelm Julius
Beucher, Christel Deichmann, Peter Enders, Petra Ernstberger, Renate
Gradistanac, Reinhold Hemker, FrankHempel, Monika Heubaum, JelenaHoffmann
(Chemnitz), Karin Kortmann, Detlev von Larcher, Waltraud Lehn, Dr. Christine
Lucyga, Heide Mattischeck, Markus Meckel, Christoph Moosbauer, Volker
Neumann (Bramsche), Manfred Opel, Johannes Pflug, Renate Rennebach, Bernd
Reuter, Dieter Schloten, Carsten Schneider, Walter Schöler, Reinhard Schultz
(Everswinkel), Volkmar Schultz (Köln), Joachim Tappe, Gert Weisskirchen
(Wiesloch), Dr. Wolfgang Wodarg, Uta Zapf, Dr. Peter Struck
und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Christa Nickels, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Walter Hirche, Dr. Werner Hoyer,
Ulrich Irmer, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. 1961 begann mit der Errichtung der Colonia Dignidad (CD), heute Villa

Baviera, ca. 400 km südlich von Santiago de Chile durch einen deutschen
Staatsbürger ein dunkles Kapitel, das die deutsch-chilenischen Beziehungen
bis heute belastet. Die CD wurde unter dem Namen „Sociedad Benefactora
Educacional Dignidad“ auf einem heruntergewirtschafteten Landgut von aus-
gewanderten Mitgliedern der „Privaten Socialen Mission e.V.“ gegründet.
Deren Leiter entzog sich einem 1961 gegen ihn ergangenen Haftbefehl des
Amtsgerichts Siegburg wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen
durch die Übersiedlung nach Chile mit dem Großteil seiner Gemeinschaft.

2. Das dort erworbene Landgut wurde durch Zukauf weiterer Ländereien zu
einem landwirtschaftlichen „Musterbetrieb“ umgewandelt, der sich von
Anfang an nach außen hermetisch abschirmte. Die CD hat sich seitdem zu
einem nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor – nicht nur in der süd-
chilenischen Region Maule – entwickelt: Auf dem ca. 18 500 ha großen
Gelände wird bis auf Reis und Salz alles produziert, was die Kolonisten für
eine autarke Versorgung benötigen. Auf dem Gelände befinden sich u. a.
eine Flugpiste, eine Großbäckerei, ein Wasserkraftwerk sowie ein Kranken-
haus, das gegenwärtig als Erste-Hilfe-Station benutzt wird. Die CD unter-
hält des weiteren Steinbruchanlagen und in Bulnes einen Restaurations-
betrieb. Die CD besitzt Schürfrechte an Gold- und Titanminen in Südchile.

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3. Dem Leiter und seinen Komplizen wird vorgeworfen, seit dem Bestehen
der CD rund 350 deutsche Koloniemitglieder entmündigt und ausgebeutet
sowie ihnen anvertraute deutsche und chilenische minderjährige Jungen
sexuell missbraucht zu haben. 1991 wurde der CD die Rechtspersönlich-
keit entzogen. Inhaber von deren Rechte sind heute mehrere Gesellschaf-
ten. Gegen den Leiter, der seit 1996 untergetaucht ist, liegt sowohl ein
deutscher als auch ein chilenischer Haftbefehl wegen sexuellen Miss-
brauchs von Minderjährigen in 12 Fällen vor.

4. Insgesamt sind seit der Wiedererlangung der Demokratie in Chile rund
70 Straf- und Zivilverfahren gegen den Koloniegründer und weitere CD-
Mitglieder in Chile eingeleitet worden. Großen Anteil bei den Bemühun-
gen um justizielle Aufklärung der in Rede stehenden schweren Vorwürfe
kommt insbesondere den chilenischen Anwälten Hernán Fernández,
Roberto Garretón und Héctor Salazar, sowie Vereinigungen der Opfer, wie
dem gemeinnützigen Verein Flügelschlag e.V. in Hamburg und Not- und
Interessengemeinschaften zu, die die chilenischen Opfer seit Jahren unter-
stützen.

5. Die Lebensverhältnisse innerhalb der Colonia Dignidad verstoßen gegen
die fundamentalen Menschenrechte. Sowohl die Vereinten Nationen als
auch Amnesty International erheben seit mehr als 20 Jahren aufgrund
glaubhafter Zeugenaussagen schwerwiegende Vorwürfe, so z. B., dass in
der CD unmenschliche Zustände herrschen (u. a. ungeklärte Todesfälle,
sexuelle Misshandlungen, Folter mit Elektroschocks, Verabreichung von
Psychopharmaka bis zur psychischen und physischen Zerstörung bei zu-
sätzlicher totaler Überwachung).

6. Nach verschiedenen glaubwürdigen Zeugenaussagen diente die Kolonie
während der Pinochet-Diktatur als Haft- und Verhörzentrum des chileni-
schen Geheimdienstes DINA, in dem Regimegegner gefoltert wurden.
Zahlreiche Spuren politischer Gefangener enden in der CD. Dieser Sach-
verhalt wurde unlängst von einem früheren DINA-Angehörigen, Osvaldo
Enrique Romo Mena, bestätigt.

7. In den Zeiten der Militärdiktatur wurde die Kolonie offenbar mit unterirdi-
schen Bunkern, Kommandozentralen und einem umfassenden geheimen
Warn- und Überwachungssystem ausgestattet.

8. Die Führung der Colonia Dignidad steht ferner im Verdacht, weitere Straf-
taten nach chilenischem Recht begangen zu haben.

9. Die CD war und ist seit ihrem Bestehen darum bemüht, sich nach außen in
Richtung der deutschen und chilenischen Öffentlichkeit als eine sozial
engagierte Gemeinschaft darzustellen, die den armen Landbewohnern im
Süden Chiles kostenlose medizinische Versorgung und kostenlosen Schul-
unterricht bietet. Über Jahre hat sich damit ein verlässlicher Freundeskreis
aufgebaut. Wenn auch dieser Rückhalt zunehmend schwindet, so genießt
die CD zumindest in einigen Kreisen der chilenischen Gesellschaft weiter
Sympathien.

10. Die Errichtung eines Untersuchungsausschusses zur CD im chilenischen
Parlament im Jahr 1997 und ein von den Abgeordneten erarbeiteter Unter-
suchungsbericht markieren einen wichtigen Schritt zur Aufarbeitung der
CD-Problematik. Die Ankündigung des seit März 2000 amtierenden chile-
nischen Staatspräsidenten Ricardo Lagos, eine intensivere Beschäftigung
mit dem Fall CD zu erwirken, ist in dieser Perspektive zu begrüßen. Ein
solcher Prozess ist für die chilenische Seite eng mit der Aufarbeitung der

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jüngsten eigenen Vergangenheit vor dem Hintergrund der Verbrechen wäh-
rend der Pinochet-Diktatur verknüpft.

11. In Deutschland besteht ein nachhaltiges Interesse an der Ahndung der in
Rede stehenden auf chilenischem Boden begangenen Straftaten sowie ins-
besondere das Bedürfnis und die Verpflichtung, den Opfern eine schnelle
und unbürokratische Hilfe zukommen zu lassen.

12. Zu lange Zeit wurde der Fall CD nicht in ausreichendem Maße als eine
Problematik erkannt, zu deren Lösung intensive koordinierte Bemühungen,
insbesondere der chilenischen Behörden, notwendig sind. Zur umfassen-
den Aufarbeitung des CD-Problems gilt es, alle Möglichkeiten der Zusam-
menarbeit zwischen Deutschland und Chile zu nutzen. Die Erklärung vom
Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, nach der Verhaftung Au-
gusto Pinochets am 16. Oktober 1998 in London, dem Problem Colonia
Dignidad in den deutsch-chilenischen Beziehungen Priorität einzuräumen,
ist zu begrüßen.

13. Der Deutsche Bundestag erkennt das große Leid der Koloniebewohner und
ihrer in Deutschland lebenden Angehörigen an. Er sieht es als seine morali-
sche Verpflichtung an, alles in seiner Macht stehende zu tun, damit die
fortwährenden schwerwiegenden Menschenrechtsverstöße innerhalb der
Colonia Dignidad wirksam abgestellt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,
1. dem Fall CD, wie angekündigt, eine höhere Priorität einzuräumen. Der

aktuelle politische Wandel in Chile sollte für eine verstärkte Zusammenar-
beit beider Länder auf Regierungsebene zur Aufklärung der Vergehen und
unverzüglichen Hilfe für die Bewohner der Kolonie genutzt werden. Die
Bundesregierung sollte den vergangenheitsbezogenen Aufarbeitungsprozess
in der chilenischen Gesellschaft ausdrücklich begrüßen und ihn unterstüt-
zen;

2. sich für die Einrichtung einer Arbeitsgruppe in Chile (unabhängige bilate-
rale Expertenkommission mit deutscher Beteiligung) einzusetzen mit dem
Ziel, in einem Zeitraum von 6 Monaten ein Strategiepapier zur Lösung des
Problems zu erarbeiten. Folgende Ziele sollten dabei im Mittelpunkt stehen:
Ermöglichung von Besuchen von Angehörigen, unzensierte Zustellung von
Post, ungehinderter Kontakt zur Außenwelt sowie das Angebot zur Auf-
nahme von freiwilligen Gesprächen mit Sektenexperten und Psychothera-
peuten, eine unverzügliche Isolierung der kriminellen Führungsgruppe der
CD mit dem Ergebnis, die Abhängigkeit der Koloniebewohner zu beseitigen
und ihnen psychologische Betreuung anzubieten. Es gilt, eine negative In-
tegration der CD-Mitglieder zu verhindern und sie auf ein selbstbestimmtes
Leben in Freiheit vorzubereiten;

3. im engen Dialog mit der chilenischen Seite Möglichkeiten der personellen
und technologischen Unterstützung bei der Aufklärung des CD-Komplexes
zu eruieren. Gedacht werden könnte an die zeitlich befristete Entsendung
von Experten des Bundeskriminalamtes zur Unterstützung der chilenischen
Behörden und Justiz;

4. einen Fonds zur Finanzierung der notwendigen Hilfs- und Reintegrations-
maßnahmen einzurichten, aus dem ausreisewillige Koloniebewohner bei ei-
ner eventuellen Rückkehr nach Deutschland unterstützt und betreut werden
können. Die Klärung der Eigentumsverhältnisse der CD sollte Entschädi-
gungszahlungen aus diesem Vermögen – auch zu Existenzgründungen in
Chile – erleichtern;

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5. bei den Bemühungen um Aufklärung auch die Zusammenarbeit mit der
Interamerikanischen Menschenrechtskommission zu suchen. Ebenfalls
sollten die VN-Menschenrechtskommission sowie die VN-Kinderkommis-
sion über den Problemkomplex informiert und darum gebeten werden, das
Thema aufzunehmen;

6. nach 12 Monaten über ihre Aktivitäten zu berichten.

Berlin, den 13. November 2001
Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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