BT-Drucksache 14/7425

Weltoffenheit als Chance für die Hochschulen

Vom 12. November 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7425
14. Wahlperiode 12. 11. 2001

Antrag
der Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Ulla Jelpke, Dr. Evelyn
Kenzler, Heidemarie Lüth, Angela Marquardt, Petra Pau, Gustav-Adolf Schur,
Dr. Ilja Seifert und der Fraktion der PDS

Weltoffenheit als Chance für die Hochschulen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Hochschulen und Wissenschaft sind ohne die Internationalität von Forschung,
Lehre und Studium nicht denkbar. Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess ist
schon von seinem Grundverständnis her international ausgerichtet: Kommuni-
kation, Kooperation und Konkurrenz von Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern machen nicht an den Grenzen nationaler Bildungs- und Forschungs-
systeme Halt. Im Zusammenhang mit der Globalisierung der wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung haben sich die Hochschulen der
Herausforderung einer Zunahme der internationalen Vernetzung von Bildung,
Wissenschaft und Forschung zu stellen. Voraussetzung für die Internationalisie-
rung von Forschung, Lehre und Studium an deutschen Hochschulen ist ein um-
fassender internationaler Austausch von Studierenden sowie Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt und damit ein erleichterter
Zugang von Studierenden aus dem Ausland zu den Hochschulen in der Bun-
desrepublik Deutschland.
Bislang ist der internationale Charakter der deutschen Hochschulen erst unzu-
reichend ausgeprägt. Der Anteil der ausländischen Studierenden, die ihre
Hochschulzugangsberechtigung nicht in Deutschland erworben haben (so ge-
nannte Bildungsausländer) an allen Studierenden liegt bei nur 5,5 Prozent
(Angaben nach der 15. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks). Die
meisten ausländischen Studierenden stammen aus Europa, während die Ent-
wicklungs- und Transformationsländer unterrepräsentiert sind. Nur 1 Promille
aller Studierenden sind Bildungsausländer aus unterentwickelten Ländern.
Für Studierende aus dem Ausland ist ein Studium in Deutschland nicht attrak-
tiv genug. Dies gilt in besonderem Maße für Studierende aus den Entwick-
lungs- und Transformationsländern. Ausländische Studierende aus Nicht-EU-
Staaten müssen schon vor ihrer Einreise einen Finanzierungsnachweis erbrin-
gen, d. h. nachweisen, dass sie gerechnet auf ein Jahr über Mittel in Höhe des
BAföG-Regelsatzes verfügen oder ein entsprechendes Stipendium erhalten.
Jobben während des Studiums ist Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländern
nur an maximal 90 Arbeitstagen im Jahr gestattet. Darüber hinaus darf nach der
so genannten Bevorrechtigtenregelung des Sozialgesetzbuches ausländischen
Studierenden eine Arbeit erst vermittelt werden, wenn fest steht, dass keine
deutschen oder ihnen gleichgestellte ausländischen Arbeitskräfte zur Verfü-
gung stehen. Diese Regelung findet auch bei der Vergabe von studentischen

Drucksache 14/7425 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Hilfskraft- und Tutorenstellen Anwendung. Da Bildungsausländer in der Regel
auch keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben, werden sie durch
diese diskriminierende Regelung häufig in Armut und prekäre oder illegale Be-
schäftigungsverhältnisse getrieben. Nach Abschluss ihres Studiums erhalten
ausländische Hochschulabsolventinnen und -absolventen nicht einmal zeitlich
befristet eine Aufenthaltserlaubnis zur Aufnahme einer Beschäftigung, sondern
müssen sofort in ihr Herkunftsland zurück.
Auch die unzureichende finanzielle Ausstattung der Hochschulen, der Abbau
von Studienplätzen und von Stellen für Personal sowie die dadurch bedingten
Defizite bei der Betreuung und Beratung von Studierenden haben keine anzie-
hende Wirkung auf Studierende aus dem Ausland. Die Anerkennung ausländi-
scher Hochschulzugangsberechtigungen und die Zulassung ausländischer
Studierender zum Studium an deutschen Hochschulen werden zu restriktiv
gehandhabt und sind für die Betroffenen häufig intransparent. Spezifische Stu-
dien- und Betreuungsangebote für ausländische Studierende sind häufig unzu-
reichend oder fehlen völlig. Die Wohnungssuche gestaltet sich für ausländische
Studierende besonders schwierig. Hinzu kommen fremdenfeindliche Tenden-
zen an etlichen Hochschulorten. An den Hochschulen stoßen ausländische
Studierende häufig auf Gleichgültigkeit ihrer Kommilitoninnen und Kommili-
tonen, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer; interkulturelle soziale
Kontakte sind unterentwickelt. Der internationale Charakter von Lehr- und
Studienangeboten an deutschen Hochschulen ist nur schwach ausgeprägt.
Das deutsche Hochschuldienstrecht ist nach wie vor ein Hemmnis für die
Tätigkeit ausländischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutsch-
land. Die Regelbeschäftigung von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern
als Beamtinnen und Beamte, die restriktive und häufig intransparente Aner-
kennung ausländischer Hochschulabschlüsse und akademischer Grade und die
international unübliche Habilitation erschweren den Zugang von Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftlern aus dem Ausland in das deutsche Hochschul-
system.

Der Deutsche Bundestag erklärt:
Erste Reaktionen auf die Terroranschläge in New York und Washington vom
11. September 2001 geben Anlass zu Befürchtungen, dass die bisher eingelei-
teten ersten Schritte zur Internationalisierung der Hochschulen grundsätzlich in
Frage gestellt werden könnten. Die ausländerfeindliche Stimmung, insbeson-
dere gegen Migrantinnen und Migranten aus dem arabischen Raum, hat zuge-
nommen. Das Unwort von den Hochschulen als „Ruheraum“ für Terroristen
macht die Runde. Die Innenbehörden mehrerer Bundesländer haben die Hoch-
schulen aufgefordert, die Daten ausländischer Studierender aus bestimmten
Herkunftsstaaten zur Durchführung von Rasterfahndungen zur Verfügung zu
stellen. Die hochschulpolitische Betätigung ausländischer Studierender im
Rahmen von gewählten Studierendenvertretungen wird unter den Generalver-
dacht eines „Ausländerextremismus“ gestellt. Dabei ist es gerade nach dem
11. September 2001 noch wichtiger und dringender, die Internationalisierung
der Hochschulen voranzubringen.
Der Deutsche Bundestag appelliert an Hochschulleitungen, Studierendenvertre-
tungen und alle Hochschulangehörigen, pauschalen Verurteilungen von Men-
schen anderer Nationalität und Religionszugehörigkeit entgegenzutreten und
nicht zuzulassen, dass an den Hochschulen eine Atmosphäre des Verdachts, der
Denunziation und der Denktabus entsteht. Die Hochschulen müssen sich gerade
jetzt als Ort der Toleranz, der Weltoffenheit, der internationalen und interkultu-
rellen Verständigung und des freien Gedankenaustausches erweisen.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/7425

Der Deutsche Bundestag fordert die Innen- und Sicherheitsbehörden auf, bei ih-
ren Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung nicht Studierende mit bestimmten
Nationalitäten und Religionszugehörigkeiten unter Generalverdacht zu stellen.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
1. Die Bundesregierung schafft durch Änderung der Verwaltungsvorschriften

zum Ausländergesetz bzw. durch Vorlage eines Entwurfs zur Änderung des
Ausländergesetzes die Voraussetzungen für eine Liberalisierung der auslän-
derrechtlichen Rahmenbedingungen:
l Allen, die an einer Hochschule in Deutschland ein Studium, eine wissen-

schaftliche Qualifikation (z. B. Promotion) oder eine Forschungs- oder
Lehrtätigkeit aufnehmen möchten, ist ein individueller Rechtsanspruch
auf Einwanderung zu geben. Der Finanzierungsnachweis als Vorausset-
zung für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung für ausländische
Studierende ist abzuschaffen. Allen ausländischen Studierenden ist die
Erwerbstätigkeit im Rahmen des für Inländer üblichen Umfangs (wäh-
rend der Vorlesungszeit maximal 20 Stunden pro Woche, außerhalb der
Vorlesungszeit unbegrenzt) zu gestatten. Nach Abschluss des Studiums
oder der Qualifikation erhalten die Absolventinnen und Absolventen eine
Aufenthaltserlaubnis für weitere drei Jahre, um Berufserfahrung sam-
meln zu können. Wer danach weiter einer Beschäftigung in Deutschland
nachgeht oder ein Unternehmen gründet, dem ist die Perspektive einer
dauerhaften Niederlassung in Deutschland zu eröffnen.

l Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Ausland, die ein Be-
schäftigungsverhältnis an einer deutschen Hochschule nachweisen kön-
nen, ist ein Rechtsanspruch auf Einwanderung und eine unbefristete
Aufenthaltserlaubnis zu geben. Zur Beschäftigungssuche ist Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Ausland für einen Zeitraum
von sechs Monaten der Aufenthalt in Deutschland zu gestatten.

2. Die Bundesregierung legt einen Gesetzentwurf für eine Änderung des Drit-
ten Buches Sozialgesetzbuch vor, der die Diskriminierung von Nicht-EU-
Ausländerinnen und -Ausländern durch die so genannte Bevorrechtigtenre-
gelung aufhebt.

3. Die Bundesregierung legt einen Gesetzentwurf für eine Änderung des Hoch-
schulrahmengesetzes vor, der
l ein faires, transparentes und nachvollziehbares Verfahren und Leistungs-

kriterien für die Zulassung zum Studium und für die Anerkennung von
im Ausland erbrachten Hochschulzugangsberechtigungen sowie Studien-
und Prüfungsleistungen gewährleistet,

l die Studienkollegs zu Gunsten einer in die Hochschulen integrierten Stu-
dieneingangsphase mit begleitendem allgemeinem und fachsprachlichem
Unterricht in Deutsch auflöst und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern
der Studieneingangsphase die vollen Mitgliedschaftsrechte in ihrer
Hochschule und ihrer Studierendenschaft gibt,

l die institutionelle Verankerung von Ausländerbeauftragten an den Hoch-
schulen vorsieht, die die Aufgabe der Gleichstellung von Ausländerinnen
und Ausländern und zum Abbau struktureller Diskriminierungen haben
und entsprechende Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte haben,

l die Berufung und Bewerbung von Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern aus dem Ausland erleichtert.

4. Die Bundesregierung legt einen Gesetzentwurf für eine Änderung des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes vor, der ausländische Studierende

Drucksache 14/7425 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
mit Deutschen gleichstellt, wenn sie sich rechtmäßig in Deutschland aufhal-
ten und einen Studienplatz nachweisen können.

5. Die Bundesregierung wirkt durch spezielle Förderprogramme des Bundes
sowie durch Vereinbarungen in der Bund-Länder-Kommission für Bildungs-
planung und Forschungsförderung darauf hin, dass
l die Stipendienprogramme für Studierende und Promovierende aus Ent-

wicklungs- und Transformationsländern, insbesondere aus unterentwi-
ckelten Ländern, ausgeweitet werden,

l die Gastdozentenprogramme für die Lehr- und Forschungstätigkeit aus-
ländischer Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer in Deutschland
ausgeweitet und verstetigt werden und dabei Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler aus Entwicklungs- und Transformationsländern, insbe-
sondere aus unterentwickelten Ländern, stärker berücksichtigt werden,

l die Hochschulen für ausländische Studierende unentgeltliche spezielle
studienbegleitende Lehrveranstaltungen, Betreuungs- und Beratungsleis-
tungen anbieten,

l die Studentenwerke in ihren Bemühungen unterstützt werden, in ausrei-
chender Zahl Wohnheimplätze als integrationsfördernde Wohnform für
ausländische Studierende bereitzustellen und den Einsatz von Tutorinnen
und Tutoren zur Integration ausländischer Studierender in den Wohn-
heimen zu fördern,

l die Hochschulen in- und ausländischen Studierenden ein bedarfsgerech-
tes Angebot an Sprachkursen bereitstellen,

l die Hochschulen, Studierendenschaften, Studentenwerke und Kommu-
nen die Kommunikation und interkulturelle Verständigung zwischen in-
und ausländischen Studierenden fördern,

l bei der Evaluation von Lehr- und Forschungsleistungen, bei der Geneh-
migung oder Akkreditierung von Studiengängen sowie bei der erfolgsori-
entierten Mittelverteilung an Hochschulen und Hochschuluntergliederun-
gen die Internationalisierung als zentrales Kriterium anerkannt wird,

l die Hochschulen und der Deutsche Akademische Austauschdienst
(DAAD) sich bei ihren Beratungs- und Informationsaktivitäten im Aus-
land sowie bei Offshore-Aktivitäten an eine möglichst breite Zielgruppe
von Studierenden aus allen Bevölkerungsschichten, an Frauen und Män-
ner gleichermaßen, in einem möglichst breiten Spektrum von Ländern,
insbesondere auch in Entwicklungs- und Transformationsländern, richten
und die Strategie eines internationalen Hochschulmarketing entspre-
chend überarbeiten,

l bestehende Studiengänge eine stärkere internationale Ausrichtung erfah-
ren und neue internationale Studienangebote entwickelt werden.

Berlin, den 12. November 2001
Maritta Böttcher
Dr. Heinrich Fink
Ulla Jelpke
Dr. Evelyn Kenzler

Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Gustav-Adolf Schur
Roland Claus und Fraktion

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