BT-Drucksache 14/7143

Sicherung eines fairen und nachhaltigen Handels durch eine umfassende Welthandelsrunde

Vom 16. Oktober 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7143
14. Wahlperiode 16. 10. 2001

Antrag
der Abgeordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Brigitte Adler, Klaus Barthel
(Starnberg), Ingrid Becker-Inglau, Wolfgang Behrendt, Dr. Axel Berg, Rudolf
Bindig, Lothar Binding (Heidelberg), Hans-Günter Bruckmann, Hans Büttner
(Ingolstadt), Detlef Dzembritzki, Gabriele Fograscher, Harald Friese, Dieter
Grasedieck, Monika Griefahn, Anke Hartnagel, Nina Hauer, Frank Hempel,
Reinhold Hemker, Rolf Hempelmann, Monika Heubaum, Frank Hofmann (Volkach),
Brunhilde Irber, Dr. Uwe Jens, Anette Kramme, Karin Kortmann, Winfried Mante,
Tobias Marhold, Lothar Mark, Ulrike Mehl, Siegmar Mosdorf, Michael Müller
(Düsseldorf), Andrea Nahles, Günter Oesinghaus, Johannes Andreas Pflug,
Edelbert Richter, Gudrun Roos, Thomas Sauer, Dr. Hansjörg Schäfer, Siegfried
Scheffler, Dagmar Schmidt (Meschede), Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Regina
Schmidt-Zadel, Heinz Schmitt (Berg), Fritz Schösser, Ottmar Schreiner,
Dr. Angelica Schwall-Düren, Jörg-Otto Spiller, Dr. Ditmar Staffelt, Ludwig Stiegler,
Jörg Tauss, Jella Teuchner, Franz Thönnes, Adelheid Tröscher, Wolfgang
Weiermann, Matthias Weisheit, Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Dr. Norbert
Wieczorek, Klaus Wiesehügel, Uta Zapf, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Kristin Heyne, Annelie Buntenbach, Rita Grießhaber,
Winfried Hermann, Ulrike Höfken, Angelika Köster-Loßack, Reinhard Loske,
Sylvia Voß, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sicherung eines fairen und nachhaltigen Handels durch eine umfassende
Welthandelsrunde

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Im Prozess der Globalisierung der Weltwirtschaft kommen zum einen politi-
sche, ökonomische und technologische Faktoren zum Tragen. Zum anderen
entwickelt sich gleichzeitig eine Globalisierung von Werten, kulturellem und
wissenschaftlichem Austausch und sozialen Beziehungen unterhalb staatlicher
Zusammenarbeit. Wenn von Globalisierung gesprochen wird, handelt es sich
um eine vielschichtige – auch wechselhafte Entwicklung, an der Gesellschaf-
ten, Staaten, Individuen und Unternehmen in unterschiedlichem Maße partizi-
pieren.
Der Deutsche Bundestag betont, dass zur Gestaltung einer globalisierten
Marktwirtschaft jenseits ökonomischer Prozesse umfassendere gesellschaft-
liche Ziele gehören. Die Politik hat dabei die Aufgabe, den Prozess der welt-
wirtschaftlichen Interdependenzen im Sinne einer internationalen Struktur- und

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Ordnungspolitik (global governance) mit zu gestalten und sich dabei insbeson-
dere am Ziel einer gerechteren, sozial und ökologisch nachhaltigen Wirt-
schaftsweise zu orientieren.
Der Deutsche Bundestag hält starke, transparente, internationale Institutionen,
durch die sich Industrieländer und Entwicklungsländer gleichermaßen reprä-
sentiert sehen, für unerlässlich. Dies gilt im Besonderen auch für die Welthan-
delsorganisation (WTO), die vor der Notwendigkeit steht, ihre Struktur und ihr
Mandat zu überprüfen und zu verändern.
Offene Märkte, Globalisierung durch Handel und Direktinvestitionen und tech-
nische Entwicklungen haben in Deutschland und Europa zu Wohlstandsgewin-
nen und zusätzlichem Wachstum geführt und damit zur Schaffung und Siche-
rung von Arbeitsplätzen beigetragen. Europäische Unternehmen – auch
mittlere – sind stark auf weltweite Märkte ausgerichtet und profitieren von
ihnen, sind damit aber auch von Veränderungen auf den Weltmärkten abhängig.
Marktöffnungen führen zu mehr Wettbewerb und einem schnelleren Struktur-
wandel. Dies ist grundsätzlich positiv, erfordert jedoch von allen Beteiligten
ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit. Die deutsche und
europäische Nachkriegsgeschichte zeigt, dass die Öffnung der Märkte zusätz-
liches Wachstum und zusätzliche Arbeitsplätze gebracht hat. Deutschland und
Europa haben sich im Globalisierungsprozess gut behauptet und können es
auch künftig, wenn sie ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten, Innovationen kon-
sequent fördern und soziale Stabilität bewahren und weiterentwickeln. Zu be-
tonen ist, dass auch eine Anzahl von Schwellenländern von einer stärkeren
Integration in das Welthandelssystem profitiert haben.
Diese positive Entwicklung ist nicht allen am Weltmarkt Beteiligten im glei-
chen Ausmaß zugute gekommen. Es sind vor allem die ärmsten Länder, denen
Ausschluss und Abkoppelung von der internationalen Integration drohen. Ohne
die Teilhabe dieser Länder an den Gewinnen der internationalen Arbeitsteilung
ist die gemeinsame Zukunft der Welt nicht nachhaltig zu sichern. Deswegen ist
es notwendig, die Chancen der Globalisierung fairer zu verteilen.
Auf der Ministerkonferenz in Doha/Katar im November 2001 werden die wei-
tere Zukunft des Handelssystems und konkret Umfang, Struktur und Modalitä-
ten einer neuen multilateralen Welthandelsrunde diskutiert werden. Im Abkom-
men von Marrakesch wurden bereits wichtige Bereiche für die anstehende
Tagesordnung (Built-in-Agenda) fest vereinbart. Dies sind Verhandlungen zur
Landwirtschaft und zum Handel mit Dienstleistungen; diese Verhandlungen
sind zwischenzeitlich angelaufen. Darüber hinaus wird es darauf ankommen,
eine grundlegende Bestandsaufnahme und Analyse der bestehenden Verträge
und deren Umsetzungsstand vorzunehmen.
Seit dem Jahr 2000 werden zahlreiche wichtige WTO-Abkommen wie die Ver-
einbarungen zu Antidumping, zum Zollwert, zum Streitschlichtungsverfahren,
zu den Importlizenzen, zu den Ursprungsregeln, zu sanitären und phytosanitä-
ren Maßnahmen, zu Schutzklauseln, zu Subventionen und zu Ausgleichszöllen,
über technische Handelshemmnisse, zu Textil, zu den handelspolitischen Län-
derüberprüfungen, zum Schutz des geistigen Eigentums (TRIPS) und zu den
handelsbezogenen Maßnahmen bei Investitionen überprüft.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt:
Die Bundesregierung hat in der EU erfolgreich darauf gedrängt, die neue
WTO-Runde unter das Motto einer besseren Entwicklung und Unterstützung
der Entwicklungsländer zu stellen. Der Deutsche Bundestag unterstützt die Be-
mühungen der EU, stärker auf die Entwicklungsländer einzugehen. Er hält die
Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und den Entwicklungslän-
dern für den Schlüssel zu einer erfolgreichen Verhandlungsrunde. Der Deut-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/7143

sche Bundestag ist sich der Bedenken der Entwicklungsländer über die Tages-
ordnung der EU im Hinblick auf die Bereiche Umwelt, Gesundheits-,
Verbraucher- und Tierschutz sowie soziale Entwicklung bewusst. Doch die
Entwicklungsländer haben selbst wichtige eigene Zielsetzungen in Bezug auf
Marktzugang, TRIPS, Antidumping, Implementierung usw. Zum verbesserten
Marktzugang gehören auch faire Wettbewerbschancen für die Erzeugnisse,
deren Qualität und Ruf mit dem geographischen Ursprung und traditionellen
Herstellungsverfahren zusammenhängen.
Der Deutsche Bundestag unterstützt Anstrengungen der Bundesregierung für
eine umfassende neue WTO-Verhandlungsrunde, die insbesondere als Ent-
wicklungsrunde dafür Sorge trägt, dass
l eine weitere Liberalisierung und Handelsausweitung zum Nutzen aller Län-

der ist und zu mehr nachhaltigem Wachstum und Beschäftigung führt;
l mehr Transparenz, Fairness und Verlässlichkeit in das WTO-Regelwerk und

seine Verfahren eingeführt werden, bis hin zur besseren Zugänglichkeit der
WTO-Datenbank (Integrated Data Base) zu den tarifären und nicht-tarifären
Handelshemmnissen;

l die Liberalisierung eine nachhaltige Entwicklung fördert, eine ökologische
und soziale Gestaltung der Globalisierung ermöglicht und die Sorgen der
Zivilgesellschaft und der Sozialpartner berücksichtigt werden;

l die Bemühungen innerhalb der WTO erhöht werden, die Integration der Ent-
wicklungsländer – insbesondere auch der am wenigsten entwickelten Län-
der – in die Weltwirtschaft zu verbessern, z. B. durch verbesserten Marktzu-
gang, den Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse, eine Verringerung der
Zolleskalation bei verarbeiteten Produkten, spezielle und differenzierte Be-
handlung, verbesserte entwicklungsländerspezifische Regeln und zusätzli-
che technische Hilfe, auch zur Verbesserung ihres Warenangebots;

l eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen der WTO und anderen inter-
nationalen Organisationen, insbesondere der ILO, den Bretton-Woods-
Institutionen, der UNCTAD sowie UNEP und UNDP, unter Beteiligung der
Sozialpartner und der Zivilgesellschaft ermöglicht wird;

l die Europäische Union sicherstellt, dass die Integration von anderen Politik-
feldern in die weltweite Handelsordnung, wie z. B. Umwelt- und Ressour-
censchutz, soziale Fragen und Wettbewerb, systematisch angegangen wird
mit dem Ziel einer sozial-ökologischen Gestaltung des multilateralen Han-
dels- und Investitionsregimes;

l die besondere Bedeutung der Landwirtschaft für Entwicklungsländer be-
rücksichtigt und in diesem Bereich ein deutlich verbesserter Marktzugang in
die Industrieländer erreicht wird. Den Entwicklungsländern müssen außer-
dem die notwendigen Maßnahmen zur Sicherung der Ernährung ihrer Be-
völkerung ermöglicht werden;

l die multifunktionale Rolle der Landwirtschaft anerkannt wird, was sowohl
in den Entwicklungsländern als auch in den Industriestaaten ihren Beitrag
zur Ernährungssicherung, zur nachhaltigen Entwicklung, zum Umwelt-,
Natur- und Landschaftsschutz, zur nachhaltigen Lebensfähigkeit des ländli-
chen Raumes und zur Armutsbekämpfung einschließt.

Die immer weiter fortschreitende Interdependenz und die vertiefte Integration
in die globale Wirtschaft werfen für die Zukunft Fragen auf, die weit über die
klassischen Handelsinstrumente, wie z. B. Zölle und nicht-tarifäre Handels-
hemmnisse sowie eng definierte wirtschaftliche Interessen, hinausgehen. Ge-
sellschaftspolitische Wertvorstellungen und die Einbeziehung von Zielen wie
z. B. den Schutz von Umwelt und Gesundheit, kulturelle Vielfalt und soziale

Drucksache 14/7143 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Ausgestaltung einer Gesellschaft müssen künftig in der globalen Weltwirt-
schaft gleichrangig bedacht werden.
Der Deutsche Bundestag unterstreicht die Notwendigkeit, einen angemessenen
Ausgleich zwischen weiterer Handelsliberalisierung und den Zielen einer nach-
haltigen Entwicklung, des Umweltschutzes, des sozialen Fortschritts und der
Beachtung sozialer Mindeststandards, der Armutsbekämpfung, der Sicherung
des Wettbewerbs und dem Gesundheits- und Verbraucherschutz sowie dem
Tierschutz zu finden. Insbesondere ermutigt der Deutsche Bundestag die Bun-
desregierung, ihre Bemühungen fortzusetzen, in der WTO ökologische, soziale
und gesundheitsschutzbezogene Kriterien stärker zu berücksichtigen und dabei
das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung zu verfolgen. So wird die WTO
besser in der Lage sein, auf die Herausforderungen zu antworten, die sich aus
dem sozialen, ökonomischen und technischen Wandel ergeben.
Der Welthandel muss nach festen Regeln abgewickelt werden. Das bedeutet je-
doch nicht, dass die Welt und die Beziehungen zwischen den Staaten allein
durch die Regeln des Handels bestimmt werden können. Die Umsetzung der
von den Staaten eingegangenen Verpflichtungen im Bereich des Handels darf
nicht zu Lasten der Einhaltung ihrer anderen Verpflichtungen in überaus wich-
tigen Bereichen wie der Umwelt oder den Sozialrechten gehen. Dies impliziert
die Notwendigkeit einer klar strukturierten Beziehung der WTO zu anderen in-
ternationalen Abkommen und Organisationen und eine Klärung der WTO-eige-
nen Vorschriften, damit politisch sensible Entscheidungen nicht länger aus-
schließlich nach den bisherigen Kriterien der WTO-Streitschlichtungsgremien
getroffen werden. So fordert z. B. das Europäische Parlament auf, das Verhält-
nis zwischen den WTO-Streitschlichtungsverfahren einerseits und den Streit-
schlichtungsverfahren und Verpflichtungen anderer internationaler Abkommen
andererseits zum Verhandlungsgegenstand zu machen und dabei sicherzustel-
len, dass in WTO-Streitschlichtungsverfahren eine Berufung auf anderweitige
Verpflichtungen erfolgen kann. Außerdem ist eine stärkere Integration zwi-
schen WTO und anderen Institutionen der „global governance“ erforderlich,
um der Organisation Zugang zu unabhängigen und effizienten Mechanismen
für die Beurteilung der Vertretbarkeit umwelt- und verbraucherschutzspezi-
fischer sowie anderer Maßnahmen zu verschaffen, die zur Behinderung des
Handels eingesetzt werden könnten. Erfahrungen mit dem WTO-Streitschlich-
tungsverfahren zeigen ebenfalls, dass Entwicklungsländer hier verstärkt
unterstützt werden sollten, dass die Transparenz bei laufenden Verfahren ver-
bessert und dass auf Wunsch der betroffenen Parteien oder des Schiedsgerichts
gesellschaftliche Gruppen und Nichtregierungsorganisationen hinzugezogen
werden könnten.
Der Deutsche Bundestag befürwortet eine stärkere Verankerung des Umwelt-
schutzes innerhalb der WTO. Umweltschutz darf durch Handelsliberalisierung
nicht unterlaufen werden. Insbesondere unterstützt der Deutsche Bundestag die
Bundesregierung in ihrem Bestreben, auf die Unterstützung der Vorschriften
der multilateralen Umweltabkommen durch das WTO-Regime zu achten.
Das Verhältnis zwischen WTO-Regeln und Umweltschutzregeln sowie Um-
weltstandards muss geklärt werden: insbesondere die Berücksichtigung von
Rücknahmeverpflichtungen und Kennzeichnungssystemen basierend auf der
Analyse von Produktions- und Herstellungsprozessen bei WTO-Regeln. Außer-
dem muss das Vorsorgeprinzip zum Schutz der Verbraucher verfestigt und ver-
ankert werden. Wegweisend sind hier die im Januar 2000 im Rahmen des Bio-
safety-Abkommens vereinbarten Regelungen für den Handel mit gentechnisch
veränderten Organismen. Die Koordination mit UNEP muss verbessert werden.
Möglichkeiten und Bedingungen für die Unterstützung des verstärkten Trans-
fers von Umwelttechnologien in Entwicklungsländer sollen geklärt und berück-
sichtigt werden.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/7143

Die Frage, wie der Export und der Gebrauch von umwelt- und gesundheitsge-
fährdenden Gütern, Stoffen, Produktionsmethoden, welche im Exportland ver-
boten sind, zu behandeln und zu sanktionieren sind, muss international disku-
tiert werden.
Im Rahmen der WTO sollen durch internationale Umweltabkommen gerecht-
fertigte Handelsmaßnahmen nicht für unzulässig erklärt werden können. Im
Gegenzug müssen Anforderungen an internationale Umweltabkommen defi-
niert werden, die einen Missbrauch zu handelspolitischen Zwecken verhindern.
Analog zu den Ausführungen im Cartagena-Protokoll zur biologischen Sicher-
heit befürwortet der Deutsche Bundestag, dass Handel und Umwelt gegenseitig
ergänzend auf das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung hinwirken sollen.
Der Deutsche Bundestag begrüßt das Ziel der EU, ein Globales Forum für
Soziale Entwicklung zur Prüfung von Handel und Sozialer Entwicklung zu ini-
tiieren. Eine Koordinierung der Politik zwischen den internationalen Organisa-
tionen ist eine wesentliche Voraussetzung für einen Fortschritt in der Armuts-
bekämpfung. Es muss eine Strategie entwickelt werden, wie die Beziehung
zwischen Handel und entwicklungshemmenden Problemen wie Verschuldung,
Seuchen, Armut und Waffenhandel angegangen werden kann. Darüber hinaus
müssen die Kernarbeitsnormen als Teil der Menschenrechte im WTO-Regime
verankert werden. Das geplante Forum ist ein wichtiger Schritt in diese Rich-
tung, aber keine Alternative hierzu. Die Frage der Kernarbeitsnormen muss in
der kommenden Welthandelsrunde diskutiert und die Bemühungen müssen
verstärkt werden, eine für Industrie- und Entwicklungsländer gleichermaßen
akzeptable Lösung zu finden und durch positive Anreize zu fördern. Die Kern-
arbeitsnormen, hergeleitet aus den universellen Menschenrechten, sind Teil
einer umfassenderen Agenda zur sozialen Entwicklung und können dazu bei-
tragen, die Ungleichbehandlung der Geschlechter und die soziale und wirt-
schaftliche Ausgrenzung in den Griff zu bekommen sowie eine gerechtere Auf-
teilung der Handelsgewinne innerhalb und zwischen den Ländern zu erreichen.
In der Abschlusserklärung der ersten Ministerkonferenz der WTO in Singapur
wurde in der Schlusserklärung explizit die „Verpflichtung, die international an-
erkannten Kernarbeitsstandards einzuhalten“ aufgenommen. Doch verbind-
liche Kernarbeitsnormen und Sozialstandards in der WTO zu verhandeln und
verankern, trifft nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Widerstand der
Entwicklungsländer. Vergleichbar der Diskussion über Umweltstandards wird
hier ebenfalls die Befürchtung neuer protektionistischer Barrieren geäußert.
Der von der EU angeregte hochrangige Dialog in der internationalen Arbeits-
organisation (ILO) zur Frage der Arbeitnehmerrechte und Sozialstandards
unter Beteiligung der WTO und anderer internationaler Organisationen ist des-
halb sinnvoll. Der Deutsche Bundestag ist überzeugt, dass die Einhaltung von
Kernarbeitsnormen nicht nur eine ethische Frage ist, sondern dass dadurch
auch die wirtschaftliche Entwicklung der betroffenen Länder positiv gefördert
wird.
Die EU-Ziele können nur erreicht werden, wenn die Industrieländer in allen
genannten Bereichen ausreichend auf die Entwicklungsländer zugehen. Die EU
kann und sollte hier eine Vorreiterrolle spielen zum Beispiel bei der Unterstüt-
zung der Forderung nach einer Überprüfung und eventuellen Revision des
TRIPS-Abkommens Die Notwendigkeit der Revision ist in der Frage der
lebenserhaltenden AIDS-Medikamente in jüngster Zeit deutlich geworden.
Durch Handelsvereinbarungen wie TRIPS darf nicht der Zugang zu lebensnot-
wendigen, kostengünstigen Medikamenten in Entwicklungsländern behindert
werden. Eine Revision des TRIPS-Abkommens sollte weiterhin zum Ziel ha-
ben, die Patentierung der Entdeckung lebender Organismen zu verbieten, das
WTO-Regime mit der internationalen Biodiversitätskonvention in Einklang zu
bringen, das traditionelle Wissen, die Innovationen, Verfahren und Technologie
der indigenen Völker und kleiner Landwirte in den Entwicklungsländern anzu-

Drucksache 14/7143 – 6 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

erkennen und zu wahren. Durch das WTO-Regime darf der Zugang zu pflan-
zengenetischen Ressourcen nicht eingeschränkt werden. Das Recht der Länder,
traditionelle Verwendung von biologischen Materialien fortzuführen sowie
Saatgut für die Wiederaussaat und für die lokale Forschung uneingeschränkt
verwenden zu können, sollte gestärkt werden. Gleichzeitig sollten Entwick-
lungsländer bei der Einführung eines Patentrechts und der Umsetzung des
TRIPS-Abkommens unterstützt werden.
Der Deutsche Bundestag ist sich der besonderen Bedeutung der Landwirtschaft
für viele Entwicklungsländer bewusst. Dies betrifft sowohl die Ernährungs-
sicherheit, als auch die Zahl der Beschäftigten in diesem Sektor. Die von der
Bundesregierung beschlossene Neuorientierung der Agrarpolitik begrüßt der
Deutsche Bundestag als einen richtigen Schritt, um die verfehlte Agrarpolitik
der Vergangenheit zu beendigen. Zentrale Punkte der Agrarverhandlungen in-
nerhalb der WTO müssen sein:
l die gleichzeitige Sicherstellung von Ernährungssicherheit, Lebensmittel-

sicherheit- und -qualität,
l die schrittweise Reduzierung und schließlich die Abschaffung der Export-

subventionen der Industrieländer, um Störungen der lokalen Märkte in den
Entwicklungsländern zu vermeiden,

l die Anerkennung der Multifunktionalität der Landwirtschaft.
Es gilt, die mit der Uruguay-Runde in der EU begonnene Umwandlung han-
delsverzerrender interner Stützungsmaßnahmen in neutrale Maßnahmen fort-
zusetzen und Exportsubventionen abzubauen. Im Hinblick auf das Kohärenz-
ziel sind die „Blue-box-Maßnahmen“ in der WTO auf ihre Entwicklungsver-
träglichkeit zu prüfen und die „Green-box-Maßnahmen“ zu unterstützen. Den
Entwicklungsländern soll es ermöglicht werden, ihre landwirtschaftliche Pro-
duktion zu schützen, sofern dies für die Ernährungssicherung erforderlich ist.
Außerdem sollte die EU die Präferenzen für Produkte aus Entwicklungslän-
dern, welche die hohen EU-Standards erfüllen, deutlich ausbauen sowie frei-
willige Initiativen im Bereich des Labeling und der Verhaltenskodizes verstärkt
fördern.
Die besonderen Probleme, welche Entwicklungsländer bei der Liberalisierung
ihrer Volkswirtschaften haben, sind zu berücksichtigen. Hieraus folgt auch die
Notwendigkeit einer entwicklungsländerfreundlichen Interpretation bzw. Wei-
terentwicklung der GATT/WTO-Regeln auf der Grundlage und im Rahmen des
„Special and Differential Treatment“. Alle Verpflichtungen der Entwicklungs-
länder in der WTO sind daraufhin zu prüfen, ob sie aufgrund ihrer Ausgangs-
lage Ausnahmeregelungen benötigen. Die Probleme, welche viele Entwick-
lungsländer haben, die in der Uruguay Runde eingegangenen Verpflichtungen
umzusetzen, sind ernst zu nehmen. Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass die
EU den Entwicklungsländern in dieser Frage bereits entgegengekommen ist. In
Doha muss die EU den Entwicklungsländern weiter entgegenkommen.
Damit die Entwicklungsländer, insbesondere die ärmsten Länder gleichberech-
tigt an den WTO-Prozessen teilnehmen können, ist es notwendig, sie in viel-
facher Hinsicht zu unterstützen. Insbesondere geht es darum, ihre analytische
Fähigkeit zu stärken, die relevanten WTO-Regeln zu interpretieren, zum Nut-
zen für das eigene Land auszulegen und umzusetzen sowie daraus eine eigen-
ständige Verhandlungsposition abzuleiten. Weiterhin sollte die Verhandlungs-
fähigkeit der Entwicklungsländer gestärkt werden. Die bereits eingeleiteten
Unterstützungsmaßnahmen der Bundesregierung sind zu begrüßen.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Umsetzung von WTO-Regeln
häufig administrativ schwierig und finanziell aufwändig ist. Dies gilt insbeson-
dere für die Einhaltung von Gesundheits-, Umwelt-, Wettbewerbs- und anderen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 7 – Drucksache 14/7143

Standards, weil hierfür die Schaffung von komplexen Institutionen erforderlich
ist. Bei der Festlegung neuer WTO-Verpflichtungen für Entwicklungsländer
sollte dieser Aspekt berücksichtigt werden und möglichst parallel gleicher-
maßen verpflichtende Regeln für Industrieländer festgeschrieben werden, die
notwendige Unterstützung zum Kapazitätsaufbau der Entwicklungsländer zu
leisten.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. darauf hinzuwirken, dass sich die weiteren Liberalisierungsmaßnahmen in-

nerhalb der WTO an dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung orientieren
und somit eine soziale und ökologische Gestaltung der Globalisierung er-
möglichen;

2. sich für die Stärkung der internationalen Umwelt- und Sozialpolitik einzu-
setzen und die Einhaltung internationaler Abkommen und Konventionen
auf diesen Gebieten durch das WTO-Regime künftig sicherzustellen;

3. sich dafür einzusetzen, dass über die eigenen legitimen Interessen hinaus
eine „Entwicklungsrunde“ eingeleitet wird, in der die Interessen und Vor-
schläge aus den Entwicklungsländern angemessen berücksichtigt werden.
Dazu gehören insbesondere angemessene Übergangsfristen für Entwick-
lungsländer bei der Implementierung bereits eingegangener Liberalisie-
rungsverpflichtungen, die Verbesserung des Marktzugangs bei Produkten,
die für Entwicklungsländer von besonderer Bedeutung sind, der Abbau
von Handelsbarrieren für die ärmsten Entwicklungsländer und die Bereit-
stellung von Hilfen für Aufbau und Ausbau von handelspolitischen Kapa-
zitäten in Entwicklungs- und Schwellenländern sowie die Berücksichti-
gung des Grundrechts auf Ernährung;

4. gegenüber den Entwicklungsländern in Bereichen Flexibilität zu zeigen,
z. B. durch angemessene Übergangszeiten, sowie in anderen Handelsberei-
chen angemessene Zugeständnisse zu machen und positive Anreize zu ge-
ben sowie Hilfen für Aufbau- und Ausbaumaßnahmen zur Verfügung zu
stellen;

5. sich für die Verankerung des Vorsorgeprinzips in das WTO-Regime einzu-
setzen;

6. den multifunktionalen Ansatz der europäischen Landwirtschaft und Krite-
rien der verbraucher-, umwelt- und tierschutzorientierten Agrarproduktion
in den WTO-Verhandlungen nachhaltig zu unterstützen;

7. die besondere Bedeutung der Landwirtschaft für die Ernährungssicherheit
in Entwicklungsländern anzuerkennen und sich für eine generelle Überprü-
fung und gegebenenfalls Revision der entsprechenden TRIPS-Bestimmun-
gen sowie von Agrarexportsubventionen und umweltschädlichen Subven-
tionen einzusetzen;

8. sich für den weitreichenden Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten
in Entwicklungsländern und eine entsprechende Präzisierung des TRIPS-
Abkommens in diesem Bereich einzusetzen;

9. auf eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen der WTO und anderen in-
ternationalen Organisationen, insbesondere der ILO, den Bretton-Woods-
Institutionen und Institutionen des UN-Systems, hinzuwirken; als einen
realisierbaren Schritt dahin unterstützt die Bundesregierung die Einrich-
tung eines ständigen Forums zwischen WTO und ILO zu Fragen der
Sozialstandards;

10. darauf hinzuwirken, dass in den anstehenden, insbesondere auch den infor-
mellen Verhandlungsprozessen die Beteiligung auch der ärmeren und klei-
neren Entwicklungsländer sichergestellt wird;

Drucksache 14/7143 – 8 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
11. sich dafür einzusetzen, dass die Entscheidungsprozesse in der Handelspoli-
tik der EU transparenter, offener und verantwortungsbewusster gestaltet
werden;

12. insbesondere deutlich zu machen, dass zum einen die internen demokrati-
schen Grundstrukturen der WTO und zum anderen die Prüfung ihrer Akti-
vitäten durch Parlamente und Öffentlichkeit verbessert werden müssen.
Handelspolitik auf nationaler wie multilateraler Ebene darf nicht mehr iso-
liert betrieben werden, sondern bedarf im Sinne der oben dargelegten Ko-
härenz der Handelspolitik mit anderen Politikfeldern, insbesondere nach-
haltiger Umwelt- und Sozialpolitik, einer parlamentarischen Beratung und
Kontrolle. So soll eine größere Transparenz der Streitschlichtungsverfah-
ren der WTO gewährleistet werden, insbesondere durch den Zugang der
Öffentlichkeit zu den Verfahren. In diesem Zusammenhang ist die Einrich-
tung einer parlamentarischen Versammlung der WTO, die eine beratende
Rolle im Hinblick auf die strategischen Entscheidungen im Bereich des in-
ternationalen Handels erhalten würde, anzustreben;

13. dem Deutschen Bundestag einen Bericht über die Ergebnisse der Minister-
konferenz unmittelbar nach ihrem Abschluss vorzulegen, ihn zeitgerecht
und laufend über den Fortgang der Welthandelsrunde zu unterrichten und
ihn gegebenenfalls rechtzeitig in die Ausarbeitung des EU-Verhandlungs-
mandats für die Welthandelsrunde einzubeziehen;

14. die deutsche Öffentlichkeit und insbesondere Wirtschaftsverbände, Ge-
werkschaften und Nicht-Regierungsorganisationen über die Ergebnisse der
Ministerkonferenz umfassend zu informieren, einen intensiven Dialog
sicherzustellen, um die Partizipation einer möglichst breiten Öffentlichkeit
zu ermöglichen;

15. mit ihrer Verhandlungsstrategie deutlich zu machen, dass die Europäische
Union im Zusammenhang mit Umwelt- und Verbraucherschutz, Handel
und sozialer Entwicklung sowie den WTO-Reformen nur bei nachweislich
wesentlichen Fortschritten eine Garantie für den Erfolg einer neuen Runde
als Entwicklungsrunde sehen kann, und dass mit einer solchen Perspektive
weitergehende Zugeständnisse vertretbar sein können. Denn diese Berei-
che tragen wesentlich zur künftigen Ausrichtung, Rechtmäßigkeit und
Akzeptanz der Welthandelsordnung bei. Angesichts der Tatsache, dass in
erster Linie die meisten Entwicklungsländer in hartem Wettbewerb unter-
einander stehen, hilft eine Berücksichtigung der Kernarbeitsnormen im
WTO-Regime zu deren allgemeiner Einhaltung.

Berlin, den 16. Oktober 2001
Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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