BT-Drucksache 14/6435

Weiterbildung im Bildungssystem verankern - Chancengleichheit stärken

Vom 26. Juni 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/6435
14. Wahlperiode 26. 06. 2001

Antrag
der Abgeordneten Ernst Küchler, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Doris Barnett,
Klaus Barthel (Starnberg), Klaus Brandner, Hans-Werner Bertl, Willi Brase,
Ursula Burchardt, Peter Dreßen, Dr. Peter Eckardt, Lothar Fischer (Homburg),
Konrad Gilges, Kerstin Griese, Wolfgang Grotthaus, Klaus Hagemann,
Monika Heubaum, Renate Jäger, Ulrich Kasparick, Siegrun Klemmer,
Anette Kramme, Angelika Krüger-Leißner, Helga Kühn-Mengel, Ute Kumpf,
Brigitte Lange, Robert Leidinger, Erika Lotz, Lothar Mark, Andrea Nahles,
Dietmar Nietan, Leyla Onur, Adolf Ostertag, Renate Rennebach,
Dr. Edelbert Richter, René Röspel, Dr. Hansjörg Schäfer, Siegfried Scheffler,
Silvia Schmidt (Eisleben), Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Heinz Schmitt (Berg),
Dr. Angelica Schwall-Düren, Bodo Seidenthal, Jörg Tauss, Lydia Westrich,
Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Grietje Bettin,
Ekin Deligöz, Dr. Thea Dückert, Irmingard Schewe-Gerigk, Christian Simmert,
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Weiterbildung im Bildungssystem verankern – Chancengleichheit stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In den letzten Jahren hat sich die Weiterbildung zu einem maßgeblichen
Segment unseres Bildungssystems entwickelt. Die Weiterbildungspolitik ist in-
zwischen, neben der Schul-, Hochschul-, und Berufsbildungspolitik, ein eigen-
ständiges Politikfeld. Ausgelöst und beschleunigt wurde diese Entwicklung
durch den Bedeutungszuwachs, den das lebensbegleitende Lernen im Zuge des
Strukturwandels in Wirtschaft und Gesellschaft und angesichts der technischen
Entwicklungen erfahren hat. Es gehört heute zur allgemein akzeptierten Auf-
fassung, dass die schulische und berufliche Erstausbildung nicht mehr aus-
reicht, um an den Chancen im Beruf und in der Gesellschaft dauerhaft, ein
Leben lang, teilhaben zu können und die oben genannten Veränderungspro-
zesse zu bewältigen.

Die politische Förderung der Weiterbildung ist damit insgesamt unverzichtbar
im Sinne unseres Verständnisses von Bildungspolitik, das von der lebenslangen
Befähigung und prinzipiellen Motivation aller Menschen zur Kompetenzent-
wicklung und Persönlichkeitsbildung durch Lernen ausgeht.

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Festzuhalten ist daher:

– Der Bedarf an Weiterbildung für alle Menschen wächst. Das Recht und die
Möglichkeit zur Weiterbildung müssen für alle Menschen gesichert werden.
Dabei geht es nicht nur um Weiterbildung zur Förderung und zum Erhalt der
Beschäftigungsfähigkeit, sondern auch um soziale Kompetenzen und die
Persönlichkeitsentwicklung.

– Die Qualifikations- und Kompetenzerwartungen erfordern eine zeitgemäße
und effektive Ausgestaltung des Bildungs- und Weiterbildungssystems.

– Vernetzung bestehender, fortzuschreibender und zu entwickelnder neuer
Strukturen sind erforderlich und möglich.

– Lernen, auch im Erwachsenenalter, wird sich und muss sich in Zukunft ver-
stärkt in Lernverbünden und in neuen Lernarrangements abspielen, wobei
neue Formen des Lehrens und Lernens zu berücksichtigen sind.

– Individuelle und öffentliche Verantwortung müssen als komplementäre Be-
dingungen für die Weiterentwicklung des quartären Bildungsbereichs ver-
standen werden.

– Ziel muss nicht nur der Ausbau eines bedarfsgerechten und flexiblen Weiter-
bildungsangebots sein, sondern auch die verstärkte Inanspruchnahme von
Weiterbildungs- und Qualifizierungsangeboten und die gerechte Verteilung
der Chancen, auch an diesem Teil des Bildungssystems partizipieren zu kön-
nen. Dies beinhaltet auch geschlechtsspezifische Benachteiligungen in der
Weiterbildung zu beseitigen.

Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es einer Ordnungspolitik, die weder einem
neoliberalen Ansatz folgt, der davon ausgeht, dass das Weiterbildungssystem
sich marktgängig und von selbst in der gewünschten Richtung weiterent-
wickelt, noch einer Vorstellung, die ausschließlich und vorrangig auf staatliche
Regelungen setzt, in der Hoffnung, dass sich die bestehenden Defizite mit einer
bundesgesetzlichen Regelung schnell und effektiv beheben ließen.

Eine zeit- und systemgerechte Weiterbildungspolitik muss vielmehr folgende
bildungspolitischen Handlungsfelder berücksichtigen:

– Die Einbindung weiterbildungspolitischer Komponenten in vorhandene,
bzw. zu novellierende und neue Gesetze (z. B. SGB III, Betriebsverfas-
sungsgesetz, Aufstiegsfortbildungsgesetz, Fernunterrichtsschutzgesetz, Zu-
wanderungsgesetz etc.).

– Eine Projektförderung, die sich an den Kriterien Nachhaltigkeit, Strukturbil-
dung und Integration orientiert (z. B. das Netzwerkprogramm „Lernende
Regionen“, Qualitätssicherungsprojekte, Projekte zur Entwicklung von
Lernsoftware, Jobrotation etc.).

– Ein kontinuierlicher und innovativer Diskurs im Rahmen der Bildungs-
reformdebatte, um die Einbindung von Weiterbildung in das Bildungssys-
tem zu gewährleisten, z. B. im „Forum Bildung“, um die Rolle der Weiter-
bildung im Rahmen der Qualifizierungsoffensive im „Bündnis für Arbeit,
Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ zu definieren und um die Verant-
wortlichen im Weiterbildungsbereich (Bund, Länder und Kommunen, Ver-
bände und Weiterbildungsträger) an dieser Diskussion zu beteiligen, wie es
z. B. in der „Konzertierten Aktion Weiterbildung“ geschieht.

Der Deutsche Bundestag begrüßt daher die Initiativen der Bundesregierung zur
Stärkung des Weiterbildungsbereichs. Hierzu zählen:

Das Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ in dem folgende
Einzelprogramme zusammengefasst sind:

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– Aufbau lernender Regionen – Förderung von Netzwerken,

– Offensive „Qualität in der Weiterbildung“,

– Initiativen in der dualen Berufsausbildung und Förderkonzept „Überbetrieb-
liche Berufsbildungsstätten“,

– Berufliche Kompetenzentwicklung und innovative Arbeitsgestaltung,

– Programm „Schule – Wirtschaft/Arbeitsleben“,

– Ausbau der Weiterbildung an den Hochschulen,

– Nutzung neuer Medien zur Entwicklung einer breiten Lernbewegung,

– Teilnahme am BLK-Modellversuchsprogramm „Lebenslanges Lernen“.

Vorbildlich im Sinne der Berücksichtigung der oben genannten Kriterien bei
der Projektgestaltung ist das Programm „Lernende Regionen“, zu dem sich
über 250 Initiativen beworben haben. 50 Projektanträge wurden inzwischen
ausgewählt. Dieses Programm wird dazu beitragen, dass dauerhaft stabile
Strukturen entstehen und sich verbindliche Formen der Zusammenarbeit der
Akteure im Weiterbildungsbereich auf regionaler Ebene entwickeln können.
Diese Verbünde sind in der Lage, Transparenz zu schaffen, Beratung zu si-
chern, Qualitätsstandards zu garantieren und die Weiterbildungsangebote be-
darfsgerecht zu entwickeln. Vergleichbare Impulse werden auch von den ande-
ren Projekten des Aktionsprogramms ausgehen.

Zu den gesetzlichen Regelungen mit weiterbildungspolitischen Anteilen ge-
hören:

– Die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, mit der der beruflichen,
innerbetrieblichen Weiterbildung ein höherer Stellenwert beigemessen wird.
Berufliche Weiterbildung berührt in Zukunft auch die Kompetenzen der Be-
triebsräte. Die einschlägigen Mitwirkungsrechte wurden gestärkt.

– Die Novellierung des Aufstiegsfortbildungsgesetzes. Mit ihr werden die
Möglichkeiten zur Inanspruchnahme des Meister-Bafög erweitert, die finan-
zielle Anreize zur beruflichen Fortbildung verstärkt und die Voraussetzun-
gen für mehr Selbständigkeit geschaffen.

– Die Novellierung des SGB III. Mit der geplanten Novelle werden die Rah-
menbedingungen für die berufliche Fortbildung verbessert und die Qualifi-
zierung als Teil einer aktiven Arbeitsmarktpolitik anerkannt. Die im Antrag
der Koalitionsfraktionen geforderten gesetzlichen Regelungen für die Ein-
führung von Jobrotation sind ein Beispiel für die gelungene Verbindung von
Weiterbildungs- und Arbeitsmarktpolitik.

– Auch die Regelungen zur Integration von Aussiedlern und Ausländern im
Rahmen einer Zuwanderungspolitik werden davon ausgehen müssen, dass
sprachliche und berufliche Weiterbildung unabdingbare Voraussetzungen
sind, für eine gelungene Integration. Schon heute werden erhebliche Mittel
für diese Maßnahmen aufgewandt.

Die Arbeitsgruppe „Aus- und Weiterbildung“ im „Bündnis für Arbeit, Ausbil-
dung und Wettbewerbsfähigkeit“ hat am 5. Februar 2001 unter anderem be-
schlossen:

– „Die Möglichkeiten zur betrieblichen Weiterbildung müssen insbesondere
für die Gruppen, die bisher unterproportional an betrieblicher Weiterbildung
teilnehmen, verbessert werden.“

– „Die Tarifparteien werden Rahmenbedingungen für Weiterbildung im Sinne
eines lebensbegleitenden Lernens vereinbaren. Zeitinvestitionen für Qualifi-
zierung sind neue Aufgaben der Arbeitszeitpolitik. Die Tarifparteien streben
im Zusammenhang mit der Nutzung von Langzeitarbeitskonten und anderen

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arbeitszeitpolitischen Maßnahmen an, dass bei einem Einsatz von Zeitgut-
haben für Weiterbildung zugleich auch Arbeitszeit investiert wird.“

– „Vereinbarungen der Bündnispartner zu einer Initiative zur Qualitätssiche-
rung, Transparenz, Information und Beratung in der beruflichen Weiterbil-
dung bis Ende 2001.“

– „Entwicklung eines – auch international verwertbaren – Berufsbildungs-
und Kompetenzpass, mit dem sowohl in Kursen als auch informell – z.B. am
Arbeitsplatz – erworbene Qualifikationen fortlaufend dokumentiert und
nachgewiesen werden können.“

Das „Forum Bildung“ hat eine Expertengruppe eingerichtet, die Empfehlungen
zur Verwirklichung lebenslangen Lernens erarbeitet hat. Diese Empfehlungen
wurden in der 9. Sitzung des Forum Bildung im Mai 2001 diskutiert. Das Glei-
che gilt für den Bereich der Qualitätssicherung, der auch Bedeutung für den Be-
reich der Weiterbildung hat. Der zweite Fachkongress des Forums wird sich im
September 2001 mit „Neuer Lern- und Lehrkultur“ und mit lebenslangem Ler-
nen beschäftigen und gelungene Beispiele aus der Praxis vorstellen.

Der Deutsche Bundestag hat sich im Plenum und im Ausschuss für Bildung
und Forschung inzwischen mit verschiedenen Anträgen zur Weiterbildung be-
fasst. Auch die Anhörung zur Weiterbildung hat zahlreiche Hinweise erbracht,
auf welchen Feldern die Weiterbildungspolitik vorangebracht werden muss.
Die Beantwortung der großen Anfrage der PDS-Fraktion zur Weiterbildung
gibt darüber hinaus wichtige Hinweise auf den weiterbildungspolitischen
Handlungsbedarf.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

anknüpfend an die in dieser Legislaturperiode bereits unternommenen Anstren-
gungen noch in dieser Legislaturperiode Initiativen zu folgenden Themen zu
ergreifen:

– Entwicklung von Bausteinen zur breiten Umsetzung eines Systems zur
Qualitätssicherung in der Weiterbildung. Dabei sollten auch europäische
Standards berücksichtigt werden.

– Die Netzwerke in den „Lernenden Regionen“ sind, unter Berücksichtigung
der Erfahrungen und Ergebnisse dieses Programms systematisch auszu-
bauen.

– Gezielte Programme zur Benachteiligtenförderung in der beruflichen Wei-
terbildung, wie sie teilweise bereits von der Bundesanstalt für Arbeit ent-
wickelt wurden, sind aufzunehmen und umzusetzen.

– Bund und Länder sollen sich in einem auszuhandelnden „Orientierungs-
rahmens“ über eine konzertierte Weiterbildungspolitik verständigen.

– Um eine Verankerung des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung im
Bereich der Weiterbildung zu fördern und vorhandene Ansätze zu stärken,
sollte ein entsprechendes Bund-Länder-Modellversuchsprogramm, analog
zum BLK-Programm „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“, vorberei-
tet werden.

– Projekte zur Erprobung von Modellen mit Lernzeitkonten, unter Beteiligung
der Tarifparteien und unter Berücksichtigung bestehender gesetzlicher Frei-
stellungsregelungen sollen Aufschluss darüber geben, wie Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern Ansprüche eröffnet werden können, an beruflichen
Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/6435

– Die im Zusammenhang mit der Migration und Integration stehenden Weiter-
bildungsanstrengungen zur Sprachförderung und zur beruflichen Qualifizie-
rung sind zu verstärken.

– Die geplante SGB III Novelle muss Vorsaussetzungen schaffen, die beruf-
liche Weiterbildung, auch als Teil präventiver Arbeitsmarktpolitik, auszu-
bauen.

– Ob und inwieweit mit Hilfe einer „Stiftung Bildungstest“ der Verbraucher-
schutz gestärkt werden kann, wird die vom Bundesministerium für Bildung
und Forschung in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie zeigen, die hierzu
wichtige Aufschlüsse geben wird.

– Die Weiterbildungsforschung ist zu verstärken, insbesondere mit Blick auf
geschlechtsspezifische Aspekte sowie auf die Ansprache von besonderen
bisher noch bildungsfernen oder benachteiligten Zielgruppen, das infor-
melle Lernen und die Qualifizierung der Weiterbildner.

– Die mit Mitteln des Bundes geförderte Lernsoftwareentwicklung soll auch
den Bereich der Weiterbildung berücksichtigen, wobei die Aspekte der Ein-
beziehung von Lernsoftware im Lernzusammenhang und die Frage der Qua-
litätssicherung berücksichtigt werden müssen.

– Verbesserungen in der statistischen Erfassung und Dokumentation von Wei-
terbildungsangeboten und -nutzung und regelmäßige Berichterstattung im
Parlament, wie sie im Zusammenhang mit dem Berufsbildungsbericht schon
erfolgreich eingeleitet worden ist.

– Die Initiativen der Europäischen Union, der Weiterbildung in Europa im
Rahmen der Verwirklichung des Grundsatzes „lebenslanges Lernen für alle“
aufzugreifen.

– Die Überlegungen für neue Konzepte und Modelle zur Deckung der indivi-
duellen Kosten des lebenslangen Lernens zu Lösungen zu führen und mittel-
fristig in ein innovatives System der Weiterbildungsfinanzierung zu integrie-
ren.

Ziel muss es sein, im Rahmen der finanzpolitischen Leitlinien ein System der
Weiterbildung zu schaffen, das dem Weiterbildungs- und Qualifikationsbedarf
auf allen Feldern der allgemeinen und der beruflichen Bildung genügt, das
Qualität sicherstellt, und das dem Gebot der Chancengleichheit gerecht wird.

Berlin, den 26. Juni 2001

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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