BT-Drucksache 14/5612

Aufhebung der nationalsozialistischen Unrechtsurteile gegen Deserteure

Vom 19. März 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/5612
14. Wahlperiode 19. 03. 2001

Antrag
der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, Heidi Lippmann,
Heidemarie Lüth, Petra Pau, Christina Schenk, Roland Claus und der Fraktion der PDS

Aufhebung der nationalsozialistischen Unrechtsurteile gegen Deserteure

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Regelungen im Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsur-
teile in der Strafrechtspflege (NS-AufhG) vom 25. August 1998 (BGBl. I
S. 2501) haben bei den meisten Opfergruppen zu der einzig angemessenen Lö-
sung geführt, nämlich zur Aufhebung der Unrechtsurteile per Gesetz. Für die
Opfer der nationalsozialistischen Militärjustiz steht eine solche Lösung noch
aus. Zu Recht kritisieren die Deserteure der Nazi-Wehrmacht, dass die Un-
rechtsurteile gegen diese Opfergruppe nicht unter den Regelfällen der durch das
Gesetz aufgehobenen Entscheidungen in § 2 erfasst sind. Dies empfinden die
wenigen überlebenden Deserteure zu Recht als eine Ungleichbehandlung ge-
genüber anderen Opfern der Nazi-Justiz, denn dadurch werden diese Urteile in
eine Grauzone zwischen Recht und Unrecht gerückt, die eine Entscheidung und
damit eine Überprüfung des Einzelfalls nach § 6 des Gesetzes erforderlich
macht. Einer solchen Überprüfung wollen sich die Opfer aus verständlichen
moralischen Gründen nicht aussetzen.

Als für eine Lösung des Problems geeignet erscheint ein Vorschlag der Bundes-
tagsfraktion der SPD, der in § 2 des Gesetzentwurfs vom 4. Februar 1998 aus
der 13. Wahlperiode enthalten war (Bundestagsdrucksache 13/9774). Dieser
Vorschlag erfasst die Todesurteile des Reichskriegsgerichts und anderer Mili-
tärgerichte und die Todesurteile anderer Gerichte und stellt zugleich klar, dass
Fälle ausgeschlossen sind, die nach allgemeinem Strafrecht bereits vor dem Be-
ginn der nationalsozialistischen Diktatur mit der Todesstrafe bedroht waren.
Mit hinreichender Genauigkeit werden ferner in diesem Vorschlag Verurteilun-
gen nach dem während der Nazizeit gültigen Militärstrafrecht erfasst.

Der Deutsche Bundestag stellt des Weiteren mit Genugtuung fest, dass das
Bundesministerium der Finanzen in Verwirklichung der Entschließung des
13. Deutschen Bundestages vom 15. Mai 1997 durch den Erlass zur abschlie-
ßenden Regelung der Rehabilitierung und Entschädigung von während des
Zweiten Weltkrieges aufgrund der Tatbestände Wehrkraftzersetzung, Kriegs-
dienstverweigerung und Fahnenflucht Verurteilten vom 17. Dezember 1997 da-
für Sorge getragen hat, dass zahlreiche Opfer der nationalsozialistischen Mili-
tärjustiz die vorgesehene einmalige Leistung von 7 500 DM erhalten konnten.
Es ist jedoch nicht akzeptabel, dass Ehegatten oder Kindern der Opfer die Leis-
tung nur dann gewährt wird, wenn der Berechtigte erst nach Antragstellung
verstorben ist. Insbesondere für die Fälle vollzogener Todesurteile, in denen so-
mit von vornherein kein Antragsberechtigter vorhanden war, erweist sich diese

Drucksache 14/5612 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Regelung als ungerecht gegenüber den Angehörigen der Opfer. Aber auch in
anderen Fällen, in denen Ehegatten und Kinder der später verstorbenen Opfer
unter der Verfolgung mit zu leiden hatten, ist der Ausschluss von der Leistung
unangemessen.

II. Der Deutsche Bundestag bekräftigt sein Ersuchen an die Bundesregierung in
seinem Beschluss vom 7. Dezember 2000, „einen Entwurf zur Ergänzung des
Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Straf-
rechtspflege (NS-AufhG) vorzulegen, um so ein der Unrechtserfahrung Homo-
sexueller angemessenes Verfahren zur gesetzlichen Rehabilitierung der Opfer
der §§ 175, 174a Nr. 4 RStGB aus den Jahren 1935 bis 1945 sicherzustellen. In
diesem Zusammenhang sollten auch weitere offene Fragen der Rehabilitierung
im Bereich der Opfer der Militärjustiz angegangen werden.“

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

III. 1. angesichts der politischen Bedeutung der Angelegenheit, vor allem der
bestehenden Gerechtigkeitsdefizite und des fortgeschrittenen Alters der
Betroffenen, den Gesetzentwurf so rechtzeitig vorzulegen, dass er vor
der Sommerpause verabschiedet werden kann;

2. in dem Gesetzentwurf die Aufzählung der Regelfälle aufzuhebender Un-
rechtsentscheidungen in § 2 des Gesetzes durch folgenden Regelfall zu
ergänzen:

„Die vom Reichskriegsgericht, den übrigen Militärgerichten und sonsti-
gen Gerichten gefällten Todesurteile, es sei denn sie beruhten auf einem
Delikt, das nach allgemeinem Strafrecht bereits vor dem 30. Januar 1933
mit Todesstrafe bedroht war, sowie Verurteilungen aufgrund der
§§ 64 bis 88, 92 bis 99, 102 und 102a des Abschnittes III des Militär-
strafgesetzbuches in den Fassungen der Gesetze vom 16. Juni 1926
(RGBl. I S. 275), 26. Mai 1933 (RGBl. I S. 297), 23. November 1934
(RGBl. I S. 1165) und 16. Juli 1935 (RGBl. I 1021) einschließlich aller
zusätzlichen Durchführungsbestimmungen, Verordnungen und Erlasse.“;

3. eine Regelung durch das Bundesministerium der Finanzen zu veranlas-
sen, die sichert, dass Ehegatten und Kinder von zum Tode Verurteilten
und Hingerichteten eine Entschädigung erhalten können, und zu prüfen,
ob eine solche Regelung auch für Ehegatten oder Kinder von Antragsbe-
rechtigten nach Nummer 1 Abs. 2 des Erlasses des Bundesministeriums
der Finanzen vom 17. Dezember 1997 in den Fällen getroffen werden
kann, in denen der Antragsberechtigte vor Antragstellung verstorben ist
und die Ehegatten und Kinder unter der Verfolgung des Antragsberech-
tigten zu leiden hatten.

Berlin, den 19. März 2001

Dr. Evelyn Kenzler
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Heidi Lippmann
Heidemarie Lüth
Petra Pau
Christina Schenk
Roland Claus und Fraktion

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/5612

Begründung
Mehr als 50 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus durch den Sieg der
Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg ist es dringlicher denn je, für eine
eindeutige Rehabilitierung und für eine angemessene Entschädigung aller Op-
fer der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft zu sorgen. Dies gilt für die
Opfer der nationalsozialistischen Militärjustiz ebenso wie für die verfolgten
Schwulen und Lesben und die Zwangsarbeiter. Angesichts der politischen Bri-
sanz dieser Frage und des fortgeschrittenen Alters der Betroffenen ist jeder Tag
des Hinauszögerns einer abschließenden Regelung ein Tag zu viel. Hitlers Mili-
tärrichter haben über 30 000 Todesurteile und zehntausende Zuchthausurteile
verhängt. Es ist moralisch unangemessen und praktisch auch gar nicht möglich,
Einzelfälle zu untersuchen. Die überlebenden Opfer betrachten ein solches Ver-
fahren als entwürdigend und diskriminierend. Sie verlangen, den anderen Op-
fergruppen gleichgestellt zu werden. Spekulationen darüber, ob Deserteure im
Einzelfall vielleicht zu Recht von der nationalsozialistischen Militärjustiz zum
Tode oder zu Freiheitsstrafen verurteilt worden sind oder aus welchen Motiven
sie desertiert sind, beleidigen die Betroffenen. Es muss deshalb eine Regelung
geschaffen werden, die zweifelsfrei gewährleistet, dass die Unrechtsurteile der
faschistischen Mititärjustiz per Gesetz aufgehoben sind. Es handelt sich dabei
um eine antifaschistische politisch-moralische Verpflichtung gegenüber den
Opfern.

In Bezug auf die genauere juristische Ausformung des hinzuzufügenden Regel-
falls in Teil IV Nummer 2 des Antrags wird auf die ausführliche Begründung
im Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, Bundestagsdrucksache 13/9774, S. 10 f.,
verwiesen.

Zu Teil IV Nummer 3 des Antrags wird auf zahlreiche Petitionen verwiesen,
die wegen der geltenden Rechtslage abschlägig beschieden werden mussten.
Auf jeden Fall sollte den Angehörigen von hingerichteten Opfern eine Entschä-
digung zuteil werden. Ehegatten und Kinder, die unter der Verfolgung mit gelit-
ten haben, gehören ebenfalls zu den Opfern und sollten von einer Entschädi-
gung nicht ausgeschlossen bleiben. Im Rahmen einer Regelung sollte eine
angemessene Ausschlussfrist gesetzt werden.

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