BT-Drucksache 14/2921

zu der Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der PDS -14/860, 14/2622- Zur Entwicklung und zur Situation in Ostdeutschland

Vom 15. März 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/2921
14. Wahlperiode 15. 03. 2000

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Christa Luft, Gerhard Jüttemann, Dr. Heidi Knake-Werner,
Christine Ostrowski, Dr. Evelyn Kenzler, Dr. Ruth Fuchs, Kersten Naumann,
Maritta Böttcher, Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Ilja Seifert, Dr. Heinrich Fink,
Monika Balt, Petra Bläss, Dr. Klaus Grehn, Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

zu der Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der PDS
– Drucksachen 14/860, 14/2622 –

Zur Entwicklung und zur Situation in Ostdeutschland

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die rot-grüne Bundesregierung legt in ihrer Antwort auf die Große Anfrage
bei der verbalen Einschätzung der Lage in Ostdeutschland streckenweise
mehr Realismus an den Tag als ihre Vorgängerin. Allerdings stellt sie ihren
eigenen Anteil am Geschehen seit Regierungsübernahme vor fast anderthalb
Jahren genauso wenig kritisch auf den Prüfstand wie ehemals das Kabinett
Kohl. Im zehnten Jahr der deutschen Einheit lautet die Botschaft an die Ost-
deutschen lapidar: Bis zur Angleichung der Lebensverhältnisse, bis zur ge-
sellschaftlichen Einheit ist es noch ein langer Weg. Der Aufbau Ost – so die
Auskunft – ist eher Aufgabe einer ganzen Generation und nicht weniger
Jahre. In der praktischen Politik der Regierung wird nicht deutlich, dass sie
aus ihrer eigenen Lagebeschreibung in Ostdeutschland – anhaltend hohe
Arbeitslosigkeit, Stagnation bei der Angleichung der Lebensverhältnisse,
weiterhin fehlender selbsttragender Wirtschaftsaufschwung, Gefahr des
weiteren Auseinanderdriftens beider Landesteile – substantielle, rasche, von
einem großen Teil der Bevölkerung erwartete Schlussfolgerungen für Ver-
änderungen zieht. Ein Nachweis dafür, dass der Aufbau Ost Chefsache ge-
worden sein soll, findet sich nicht. Die Antworten bleiben weit hinter den im
Regierungsprogramm selbst gesteckten Zielen zurück. Im Osten eine Ent-
wicklungschance für das vereinte Land zu sehen, verpasst auch Rot-Grün
bislang.

2. Viele ostdeutsche Wählerinnen und Wähler hatten im Herbst 1998 einen
Regierungswechsel mit herbeigeführt in der Hoffnung auf einen Politik-
wechsel auch für die neuen Bundesländer. Nun erfahren sie: Die neue Bun-
desregierung besitzt ebenfalls kein schlüssiges Konzept für den Aufbau Ost.

Drucksache 14/2921 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Sie setzt vorrangig auf die bereits unter der Kohl-Regierung gescheiterte
und für gravierende Fehlentwicklungen verantwortliche Politik der Anglei-
chung von Wirtschafts- und Sozialniveau vorrangig über den Marktmecha-
nismus. Ihre so genannte Gesamtstrategie für den Aufbau Ost, bestehend aus
Haushaltssanierung, Steuerreform, Festhalten am Solidarpakt, Förderung
von Zukunftsfeldern sowie Effizienz und Zielgenauigkeit der Förderpolitik
ist in sich widersprüchlich und bei näherem Hinsehen Stückwerk. Durch das
Sparpaket mit Ausgabenkürzungen zu Lasten der Masseneinkommen, der
Kommunen und öffentlicher Investitionen werden notwendige Entwicklun-
gen in die Zukunft verschoben. Statt an ostdeutschen Stärken anzuknüpfen
und den Versuch zu unternehmen, mit neuen Lösungen für Ostdeutschland
auch anstehende Probleme in den alten Ländern anzugehen, hält sie am
weitgehend gescheiterten „Nachbau West“ fest.

3. Die Bundesregierung hat sich vom Prinzip der Vollbeschäftigung verab-
schiedet und ihre beschäftigungspolitische Zielstellung auf den Abbau der
Arbeitslosigkeit reduziert, ohne konkrete Quoten und Zeiträume festzu-
legen. Für die Bevölkerung Ostdeutschlands mit seiner doppelt so hohen
Arbeitslosenrate wie in den westlichen Bundesländern hat das gravierende
Folgen und bringt besonders für viele Frauen, ältere Erwerbstätige, Jugend-
liche und Menschen mit Behinderungen nicht hinnehmbare soziale Härten
mit sich. Das Bündnis für Arbeit hat sich bisher vor allem als ein von den
Unternehmerverbänden angestrebtes Bündnis für mehr Wettbewerbsfähig-
keit erwiesen. Dass die rot-grüne Bundesregierung geplante Mittel für inno-
vative Maßnahmen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit für Experi-
mente zur Einrichtung eines Niedriglohnsektors missbrauchen will und
zugleich jeden Vorschlag zur Gestaltung von öffentlich geförderter Beschäf-
tigung bei tariflicher Bezahlung abwehrt, gleicht einem neoliberalen Offen-
barungseid.

4. Die neue Bundesregierung hat bisher keine Maßnahmen gegen die massive
Verdrängung ostdeutscher Frauen vom Arbeitsmarkt ergriffen. Die Erwerbs-
tätigkeit von Frauen in Ostdeutschland ist nach zehn Jahren von 90 auf 55
Prozent abgesunken und hat sich damit dem niedrigen Niveau im Westen
angeglichen.

Die Ostfrauen wurden aus Führungsfunktionen verdrängt, von denen sie im-
merhin einmal ein Drittel gestellt haben. Hunderttausendfach wurden sie auf
niedrigere Berufsabschlüsse herunterqualifiziert. Dennoch halten Frauen in
den neuen Ländern an einem selbständigen und selbstbestimmten Leben
fest. Immerhin 73 Prozent verstehen sich weiterhin als Erwerbspersonen.
Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung trägt diesen
Lebensentwürfen nicht Rechnung.

5. Kennzeichnend für die Haltung der Regierung zu Sorgen und Befindlich-
keiten der Bevölkerung im Osten ist der Umgang mit gestellten Fragen zur
Diskriminierung und Benachteiligung Ostdeutscher im Zusammenhang mit
Treuhandtätigkeit, Rentenüberleitung, Eigentumsproblemen und Landwirt-
schaft. Ihre Antworten zu den Komplexen Wohnungs- und Gesundheitswe-
sen verdeutlichen nicht nur große Kenntnislücken zu ostdeutschen Problem-
lagen, sondern auch Ignoranz gegenüber vorliegenden wissenschaftlichen
Untersuchungen. Dort, wo Antworten gegeben werden, weisen diese auf
deutliche Unterschiede auf wichtigen Gebieten der Lebens- und Vermögens-
verhältnisse zwischen den neuen und den alten Ländern sowie auf eine
Reihe von Fehlentwicklungen in Ostdeutschland hin.

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6. Das Hochschulbauprogramm in den neuen Ländern, die stärkere DFG-För-
derung, das Programm „Chancengleichheit von Frauen in Forschung und
Lehre“ sowie die Programme FUTOR, INNONET, PROINNO und InnoRe-
gio sind begrüßenswerte Ansätze für eine besondere Förderung von Wissen-
schaft, Forschung und Technologie in den neuen Ländern. Allerdings fehlt
weiterhin eine Gesamtkonzeption für diesen Bereich. Die Feststellung der
Bundesregierung, wonach der Aufbau der wissenschaftlich-technischen In-
frastruktur im Bereich der öffentlichen Forschung im Wesentlichen abge-
schlossen sei, geht an der Realität vorbei.

7. Der Bundesregierung fehlen in erheblichem Umfang statistische Angaben
zur Entwicklung in Ostdeutschland (z.B. Selbstversorgungsgrad der neuen
Länder, Nutzungsgebühren für Pachtgrundstücke, Wiedereingliederung
Arbeitsloser) und sie lässt nicht erkennen, ob sie hier Handlungsbedarf sieht.
Eine umfassende Analyse der Entwicklung in Ostdeutschland, die sowohl
Potenziale beschreibt als auch ungelöste Probleme aufzeigt, ist nur auf der
Grundlage ausreichender empirischer Daten möglich. Der Mangel an analy-
tischem Material erschwert auch die Erarbeitung einer Konzeption für die
Gestaltung des weiteren Entwicklungsprozesses in Ostdeutschland mit kon-
kreten Schritten und Zeiträumen.

Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer und der ersten freien Wahl zur Volks-
kammer der DDR ziehen immer mehr Ostdeutsche eine ernüchternde Bilanz.
Anstelle erhoffter demokratischer Selbstbestimmung trat häufig das Diktat
politisch und wirtschaftlich Mächtiger. Diese entfernen sich bis in Spitzen-
positionen hinauf nicht nur von selbst gesetzten und für Ostdeutsche zu Vorbild
deklarierten rechtsstaatlichen Normen, sondern in ihrer Politik auch immer
weiter von eigenen Versprechen sowie der Berücksichtigung elementarer Be-
lange der Menschen in den neuen Bundesländern. Politik- und Parteienverdros-
senheit – deutlich sichtbar an der Zahl der Nichtwähler – haben zugenommen.
Rechtsextremistisches Potenzial ist besorgniserregend gewachsen.

All das gilt trotz unbestrittener Erfolge bei der Infrastrukturentwicklung, der
Sanierung von Wohnungen und Städten, der Schaffung demokratischer Institu-
tionen und der Gewährung politischer Freiheiten.

Insgesamt bleibt am Beginn des ersten Jahrzehnts deutscher Einheit die Auf-
gabe dringlich, für brennende Probleme, die die ostdeutsche Bevölkerung be-
wegen, Lösungen zu finden, die auch für Westdeutschland Bedeutung erlangen
können.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

für die in der Antwort auf die Große Anfrage durch sie selbst herausgearbeite-
ten Problemfelder bei der Angleichung der Lebensverhältnisse der Bevölke-
rung Ostdeutschlands an die der alten Bundesländer und beim Zusammen-
wachsen der beiden Landesteile rasch tragfähige Lösungen zu finden, die den
Erwartungen der ostdeutschen Bevölkerung entsprechen. Dies betrifft vor al-
lem ein höheres Tempo beim Abbau der Massenarbeitslosigkeit, sichere Rah-
menbedingungen für eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung und die um-
gehende Aufhebung zahlreicher Benachteiligungen und Diskriminierungen
ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger:

1. Eine gestaltende und koordinierende, aktive regionale Wirtschafts-, Struk-
tur- und Beschäftigungspolitik muss im Regierungshandeln einen höheren
Stellenwert erhalten. Die Überwindung alter und das Verhindern neuer wirt-
schaftlicher Fehlentwicklungen in Ostdeutschland kann dabei ohne eine
Veränderung des Verhältnisses von gesellschaftlicher und marktwirtschaft-
licher Regulierung zugunsten ersterer nicht gelingen.

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Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit muss mit einer innovativen,
ökologisch orientierten Reindustrialisierung, einer umweltgerechten Revita-
lisierung der Landwirtschaft und der ländlichen Räume sowie mit einer
stärkeren Entwicklung von Humandienstleistungen und hochwertigen
produktionsnahen Dienstleistungen verbunden werden. Notwendig sind die
Schaffung von Rahmenbedingungen für die Erhöhung der Konkurrenzfähig-
keit regionaler, dezentraler Fertigungen und Wirtschaftsverflechtungen, die
Begünstigung regionaler Wirtschaftskreisläufe sowie die Stärkung der in-
dustriepolitischen Koordinierung, der Ansiedlungsförderung sowie der Ver-
netzungspolitik. Unterstützt werden muss die Herausbildung und rasche
Erweiterung neuer Absatzmöglichkeiten ostdeutscher Produkte durch
entsprechende Beschaffungspolitik des Bundes und Anwendung des Ord-
nungsrechts (z. B. für erneuerbare Energien, Kraft-Wärme-Kopplung, Recy-
clingtechnologien durch Festlegung von Mindestquoten). Weitere Aufgaben
bestehen in der Stärkung der Nachfrage durch Erhöhung der Massenein-
kommen in Übereinstimmung mit der Produktivitätserhöhung, Einführung
einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung sowie in der Weiterfüh-
rung der Investitions- und Forschungsförderung.

Bei der Wirtschaftsförderung geht es um die Konzentration auf innovative
Existenzgründungen und kleine und mittlere Unternehmen sowie um die
Umstellung von Zuschuss- auf Beteiligungsförderung im Zusammenhang
mit erweiterten Mitbestimmungsrechten der Belegschaften. Die Sicherung
und der Ausbau der Forschungs- und Entwicklungspotenziale sollen durch
Schaffung von Möglichkeiten institutioneller Grundförderung für For-
schungsvereinigungen in den neuen Ländern sowie durch verstetigte Son-
derförderung der ostdeutschen Industrieforschung erfolgen.

2. Auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik ist ein Regierungsprogramm zur
deutlichen Senkung der Massenarbeitslosigkeit speziell in den neuen Bun-
desländern mit folgenden Schwerpunkten zu erarbeiten und umzusetzen:

– Erstellung eines 10-Jahre-Rahmenplanes für die Arbeits- und Ausbil-
dungsförderung, wodurch höhere Projekt-Planungssicherheit und damit
Zieleffektivität hinsichtlich der verfügbaren Mittel und eine bessere
Koordination der unterschiedlichen Fördermittel erreicht werden soll.
Gleichzeitig geht es dabei um die Vorgabe übergreifender, qualitativ aus-
gewiesener Zielstellungen, insbesondere zur Förderung des Struktur-
wandels von der „Industrie-“ zur „Informations- und Dienstleistungs-
gesellschaft“ (absehbarer Qualifikationsbedarf auf den regionalen
Arbeitsmärkten, neue Formen der Verzahnung von persönlicher Arbeits-
und Lebenswelt sowie gezielter Ausbau der personenbezogenen Dienst-
leistungen) und den Aufbau eines „Öffentlich geförderten Beschäfti-
gungssektors“. Dabei ist sicherzustellen, dass Frauen ihrem Anteil an den
Erwerbspersonen entsprechend an der Förderung des Strukturwandels
beteiligt werden. Dazu müssen Quotenregelungen bei Arbeits- und Aus-
bildungsfördermaßnahmen vereinbart werden, und es muss bei der Ver-
gabe von Projektmitteln die gleichberechtigte Berücksichtigung von
Frauen garantiert werden.

– Vorlage eines „Arbeitsmarkt-Integrations-Berichtes Ostdeutschland“
zum 1. September 2000 und danach zweijährlich jeweils zum 1. Juni für
die Bundesrepublik Deutschland, der eine zusammenfassende Darstel-
lung und Bewertung der laufenden Modellprojekte in der Arbeits- und
Ausbildungsförderung sowie Vorschläge für die quantitative und qualita-
tive Weiterentwicklung enthalten soll. Zielgrößen sind dabei: Verbesse-
rung und Anpassung des Qualifikationsniveaus, dauerhafte Reintegration
Langzeitarbeitsloser in den Arbeitsmarkt, Förderung der Frauenerwerbs-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/2921

tätigkeit, Förderung der beruflichen Ausbildung und der Erwerbstätigkeit
von Menschen mit Behinderungen, Förderung der Kooperation regiona-
ler Akteure in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und Qualitätssi-
cherung öffentlicher bzw. gemeinwohlorientierter Aufgaben.

– Entwicklung eines Bundesförderprogramms zur arbeitsplatzschaffenden
Arbeitszeitverkürzung und sozial verträglichen Arbeitszeitflexibilisie-
rung für den Bundeshaushalt 2001.

3. Zur Beendigung der Benachteiligungen und Diskriminierungen der Bürge-
rinnen und Bürger in Ostdeutschland hat die Bundesregierung beschleunigt
eine Reihe von Maßnahmen in die Wege zu leiten. Vordringlich sind dabei

– noch im Jahr 2000 eine verbindliche Zusage über die ungekürzte Fort-
setzung der Finanztransfers in den Osten auch nach dem Jahr 2004;

– die Entlohnung im öffentlichen Dienst sowie die Beamtenbesoldung bis
spätestens zum Jahre 2002 auf das Niveau der alten Bundesländer anzu-
heben und die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst mit dem kommenden
Tarifvertrag auf das Westniveau zu senken, wobei den Ländern und
Kommunen ein entsprechender Zuschuss zu gewähren ist;

– im Bündnis für Arbeit auf die Angleichung der Löhne, Gehälter und Ar-
beitszeiten in Ostdeutschland an das in der westdeutschen Privatwirt-
schaft übliche Niveau hinzuwirken und durch die Wirtschaftspolitik ent-
sprechende Rahmenbedingungen zu schaffen;

– die umgehende Schaffung der notwendigen rechtlichen Voraussetzungen,
um die Verdrängung von Eigentümerinnen und Eigentümern sowie Nut-
zerinnen und Nutzern von Wohn- und Erholungsgrundstücken zu been-
den und die offenen Vermögensfragen abschließend im Sinne des Rechts-
friedens, der Rechtssicherheit und des sozialen Ausgleichs zu regeln;

– die gesetzliche Umsetzung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts
vom 28. April 1999 zur Neuregelung der Überführung von Ansprüchen
und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der
DDR im beschleunigten Verfahren, ohne Ausschöpfung der vom Bundes-
verfassungsgericht gesetzten Fristen, zu realisieren und das Problem der
faktisch bestehenden Überführungslücken im Rentenversicherungsrecht
im Interesse der Betroffenen rasch zu regeln. Dabei ist zu beachten, dass
das Bundesverfassungsgericht nur Mindestanforderungen festgelegt hat,
die nach oben im Interesse der Angleichung der Lebensverhältnisse in
Ost und West auszuschöpfen sind;

– die Sozialhilferegelsätze bis spätestens 2001 an das Westniveau anzuglei-
chen.

4. Im Interesse von Chancengleichheit in Beruf, Lehre, Forschung und Wis-
senschaft wird sich die Bundesregierung für die Anerkennung aller in der
DDR erworbenen und anerkannten Berufsabschlüsse – auch der Fach- und
Ingenieurschulabschlüsse ohne Entsprechung an Fachhochschulen der Bun-
desrepublik Deutschland (Berufe aus den Bereichen Medizintechnik, Phar-
mazie, Tierproduktion, Museumskunde, Brandschutz, Kulturwissenschaf-
ten, Sportwissenschaften, Tanzpädagogik) sowie der an Offiziersschulen
erworbenen Zivilberufe einsetzen. Sie sichert eine angemessene Berück-
sichtigung der ostdeutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus
dem WIP und HSP III beim HSP III – Nachfolgemaßnahmenpaket. Weiter-
hin wird eine bedarfsgerechte elternunabhängige Studienförderung durchge-
setzt, um die Absenkung der Studierquote im Osten (insbesondere bei jun-
gen Frauen) aufzuhalten. Da auch das 100 000-Stellen-Programm und die
Bündnisgespräche nicht zur ausreichenden Bereitstellung von betrieblichen

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Lehrstellen geführt haben, wird die gesetzliche Regelung einer Umlage-
finanzierung der betrieblichen Ausbildung auf den Weg gebracht.

5. Angesichts des Erstarkens rechtsextremistischer Kräfte – 58 Prozent aller
erfassten Neonazis und 50 Prozent der gewaltbereiten Skinheads konzen-
trieren sich auf Ostdeutschland – sind die Anstrengungen und Mittel für
Aufklärungsarbeit gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Frem-
denfeindlichkeit durch die Bundesregierung zu erhöhen. Das von der Regie-
rung bei Amtsantritt groß angekündigte „Bündnis für Demokratie und Tole-
ranz – gegen Extremismus und Gewalt“ muss nach sechzehn Monaten
endlich aus der Vorbereitungsphase gelangen und in gesellschaftliche Reali-
tät umgesetzt werden.

6. Die Finanz- und Investitionskraft der Kommunen ist im Rahmen einer all-
gemeinen Reform der Kommunalfinanzierung und durch die Wiedereinfüh-
rung einer kommunalen Investitionspauschale für die neuen Bundesländer
mindestens bis zum Jahre 2004 zu stärken. Zugleich erhalten die Länder und
Kommunen größere Rechte bezüglich der Verwendung und Vergabe öffent-
licher Fördermittel, die vor allem auf die Realisierung von Landesentwick-
lungsplänen bzw. -konzeptionen zielen sollen. Gemeinsam mit den Regie-
rungen der neuen Bundesländer wird ein Solidarfonds gebildet, um
Kommunen in Ostdeutschland vor Überschuldung und die Bürgerinnen und
Bürger vor unbezahlbaren Wasser-, Abwasser- und Erschließungskosten zu
bewahren.

7. Die Gewährleistung einer sozial orientierten Wohnungs-, Stadt- und Landes-
entwicklungspolitik für Ostdeutschland ist zu einem weiteren Schwerpunkt
der Regierungspolitik zu machen.

Das Altschuldenhilfe-Gesetz wird umgehend novelliert, um einen Schluss-
strich unter die Privatisierungspflicht zum Stichtag 31. Dezember 1999 ohne
weitere Erlösabführungen an den Erblastentilgungsfonds zu ziehen und
die Streichung der Altschulden auf leerstehende Wohnungen sowie die
Befreiung der Wohnungsunternehmen von Altschulden auf Wohnungen,
die ihnen durch abgelehnte Restitutionsanträge seit 1993 zugefallen sind
sowie den Wegfall der Sanktionen bei Nichterfüllung der Privatisierungs-
pflicht zu sichern.

Die Folgen des drastischen Rückgangs der Wohnbevölkerung, der über-
durchschnittlichen Arbeitslosigkeit und des dramatischen Wohnungsleer-
standes in den neuen Ländern wird durch ein Programm „Nachhaltige Stadt-
und Regionalentwicklung“ für die besonders strukturschwachen Regionen
der neuen Ländern aufgefangen und nicht allein den betroffenen Kommunen
und Wohnungsunternehmen angelastet.

Im Zusammenwirken mit den ostdeutschen Landesregierungen und den
Kommunalen Spitzenverbänden hat die Regierung einen ordnungspoliti-
schen Rahmen zu schaffen, der wirtschaftliche und kostengünstige Ver- und
Entsorgungs-Dienstleistungen ermöglicht.

Die unter Naturschutz stehenden und für den Naturschutz vorgesehenen
Flächen aus dem Bodenreformfonds werden nicht privatisiert.

8. Zur Sicherung der wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven der ostdeut-
schen Landwirtschaft ist es u.a. erforderlich, die Enteignungen der Boden-
reformlandbesitzer nach Artikel 233 EGBGB unverzüglich zu beenden und
die Altschulden der LPG-Nachfolgebetriebe kurzfristig an den Wert des tat-
sächlich nutzbaren Vermögens anzupassen sowie die 3 000-DM-Obergrenze
für die Gasölbeihilfe zurückzunehmen.

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9. Auf kulturellem Gebiet sind die ostdeutschen Kommunen vor allem in die
Lage zu versetzen, ihren Aufgaben im öffentlichen Bereich wie auch bei
der Unterstützung freier Träger nachzukommen. Darüber hinaus werden
das „Aufbauprogramm ,Kultur in den neuen Ländern‘“ jährlich mindestens
auf dem Niveau fortgeführt, wie es im ersten Jahr nach dem Regierungsan-
tritt (90 Mio. DM) bestand, die Sanierung, Erhaltung und Pflege der über-
regional bedeutsamen sowjetischen Ehrenmale in Berlin und Ostdeutsch-
land in die alleinige Verantwortung des Bundes übernommen und
geeignete Maßnahmen ergriffen, die den Bestand der Künstlersozialver-
sicherung dauerhaft gewährleisten sowie eine gesetzgeberische Initiative
zur Einführung einer Ausstellungsvergütung für bildende Künstler auf den
Weg gebracht.

10. Zur Qualifizierung der Analyse für Entscheidungen zur Entwicklung in den
neuen Bundesländern wird die Bundesregierung Maßnahmen zur Siche-
rung einer ausreichenden statistischen Datenbasis ergreifen. Das betrifft
insbesondere Daten

– zur Bestandsaufnahme des volkseigenen Vermögens der DDR

– zum Vermögenstransfer von Ost nach West

– zu Ursachen von Produktionseinstellungen ehemaliger Treuhandbetriebe

– zum Bedarf an Arbeitsplätzen im Bereich personenbezogener Dienste,
Denkmalpflege, Pflege der natürlichen Umwelt, Breitenkultur und
Breitensport

– zur Reichtums- und Armutsentwicklung

– zu Eigentum und Nutzungsrecht der Ostdeutschen an Grundstücken.

Berlin, den 15.März 2000

Dr. Christa Luft
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Christine Ostrowski
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Ruth Fuchs
Kersten Naumann
Maritta Böttcher

Dr. Uwe-Jens Rössel
Dr. Ilja Seifert
Dr. Heinrich Fink
Monika Balt
Petra Bläss
Dr. Klaus Grehn
Ulla Jelpke
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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