BT-Drucksache 14/1126

Entwurf eines Gesetzes zur Demokratisierung des Wahlrechts

Vom 9. Juni 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/1126
14. Wahlperiode

09. 06. 99

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Maritta Böttcher, Roland Claus, Ulla Jelpke,
Sabine Jünger, Heidemarie Lüth, Rosel Neuhäuser, Petra Pau, Dr. Gregor Gysi
und der Fraktion der PDS

Entwurf eines Gesetzes zur Demokratisierung des Wahlrechts

A. Problem
In der Bundesrepublik Deutschland ist eine große Zahl von Mit-
bürgerinnen und Mitbürgern vom Wahlrecht ausgeschlossen. Dies
sind zum einen mehrere Millionen Ausländerinnen und Ausländer,
die längere Zeit ihren ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik
Deutschland haben, und zum anderen Jugendliche zwischen 16 und
18 Jahren, die heute sowohl die Reife als auch das Bedürfnis haben,
durch Wahrnahme des aktiven Wahlrechts am politischen Willens-
bildungsprozeß teilzunehmen. Die anhaltende Parteien- und Politik-
verdrossenheit bei Wählerinnen und Wählern hat auch eine Ursache
im bestehenden Wahlsystem. Das betrifft insbesondere die Privile-
gierung der großen Parteien mittels der Fünfprozentklausel und die
Übervorteilung kleiner Parteien durch die Vergabe von Überhang-
mandaten.

B. Lösung
Das Wahlalter wird auf 16 Jahre gesenkt. Neben deutschen Staats-
bürgerinnen und Staatsbürgern erhalten auch die ständig in der Bun-
desrepublik Deutschland lebenden ausländischen Bürgerinnen und
Bürger das aktive und passive Wahlrecht. Die Fünfprozentsperre im
Bundeswahlgesetz und im Europawahlgesetz wird gestrichen. Die
Wählerinnen und Wähler erhalten mittels Präferenzstimmen die
Möglichkeit, die Reihenfolge der Kandidatinnen und Kandidaten zu
beeinflussen. Überhangmandate werden mit den Mandaten der Lan-
deslisten verrechnet.

C. Alternativen
Keine

D. Kosten
Erhöhung der Wahlkampfkostenerstattung entsprechend der Erweite-
rung des Kreises der Wahlberechtigten.

Drucksache 14/1126 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Entwurf eines Gesetzes zur Demokratisierung des Wahlrechts

Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates
das folgende Gesetz beschlossen; Artikel 79 Abs. 2 des
Grundgesetzes ist eingehalten:

Artikel 1
Änderung des Grundgesetzes

Artikel 38 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundes-
republik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. I S. 1),
zuletzt geändert durch ..., wird wie folgt gefaßt:
„(2) Wahlberechtigt sind deutsche Staatsbürgerinnen
und Staatsbürger, die das sechzehnte Lebensjahr vollen-
det haben und ausländische Bürgerinnen und Bürger, die
seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig ihren ständigen
Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland und das
sechzehnte Lebensjahr vollendet haben; wählbar ist, wer
wahlberechtigt ist und das Alter erreicht hat, mit dem die
Volljährigkeit eintritt.“

Artikel 2
Gesetz zur Demokratisierung des Wahlrechts

1. Das Bundeswahlgesetz in der Fassung der Bekannt-
machung vom 23. Juli 1993 (BGBl. I S. 1288, 1594),
zuletzt geändert durch ..., wird wie folgt geändert:
a) Nach § 3 Abs. 2 Nr. 4 wird folgende Nummer 4a

eingefügt:
„4a. Die Bundesregierung hat im Falle der Erfor-

derlichkeit einer Änderung der Wahlkreis-
einteilung entsprechend dem Bericht der
Wahlkreiskommission unverzüglich einen
Gesetzentwurf zur Änderung der Wahlkreis-
einteilung vorzulegen.“

b) § 6 Abs. 5 Satz 2 wird durch folgende Sätze er-
setzt:
„Erringt eine Partei in den Wahlkreisen eines Lan-
des mehr Sitze als gemäß § 7 Abs. 3 in Verbin-
dung mit den Absätzen 2 und 3 auf ihre Landes-
liste entfallen sind (Überhangmandate), wird ab-
weichend von § 7 Abs. 3 Satz 1 die Zahl der in
diesem Land errungenen Wahlkreismandate von
der nach § 7 Abs. 2 in Verbindung mit den Absät-
zen 2 und 3 für ihre Listenverbindung ermittelten
Abgeordnetenzahl abgerechnet. Die verbleibenden
Sitze werden gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 in Verbin-
dung mit Absatz 4 auf die Landeslisten der Partei
in den Ländern verteilt, in denen keine Überhang-
mandate entstanden sind. Entstehen dabei Über-
hangmandate, findet eine erneute Berechnung nach
den Sätzen 1 und 2 statt.“

c) Absatz 6 wird gestrichen.

d) § 7 Abs. 1 wird wie folgt gefaßt:
„(1) Landeslisten derselben Partei gelten als
verbunden.“

e) § 12 Abs. 1 erhält folgende Fassung:
„(1) Wahlberechtigt sind deutsche Staatsbürge-
rinnen und Staatsbürger und diejenigen ausländi-
schen Bürgerinnen und Bürger, die seit mindestens
fünf Jahren rechtmäßig ihren ständigen Wohnsitz
in der Bundesrepublik Deutschland haben und am
Wahltage
1. das sechzehnte Lebensjahr vollendet haben,
2. nicht nach § 13 vom Wahlrecht ausgeschlossen

sind.“
f) In § 12 Abs. 2 wird der Satzteil „diejenigen Deut-

schen im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grund-
gesetzes“ durch den Satzteil „diejenigen deutschen
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger“ ersetzt.

g) § 15 Abs. 1 erhält folgende Fassung:
„(1) Wählbar sind deutsche Staatsbürgerinnen
und Staatsbürger und ausländische Bürgerinnen
und Bürger, die wahlberechtigt sind und am Wahl-
tage das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben.“

h) In § 30 Abs. 2 Nr. 2 werden die Worte „ersten
fünf“ gestrichen.

i) § 34 Abs. 2 Nr. 2 wird wie folgt gefaßt:
„2. seine Zweitstimme in der Weise ab, daß er

durch ein auf den Stimmzettel gesetztes Kreuz
oder auf andere Weise eindeutig kenntlich
macht, welcher Landesliste sie gelten soll. Er
kann darüber hinaus zur Veränderung der Rei-
henfolge der Bewerber auf der Landesliste einer
Partei durch bis zu drei auf den Stimmzettel ge-
setzte Kreuze oder auf andere Weise eindeutig
kenntlich machen, welchem Bewerber oder
welchen Bewerbern dieser Landesliste seine
Zweitstimme gelten soll. Wird auf dem Stimm-
zettel für die Wahl der Landesliste ohne Kenn-
zeichnung bestimmter Bewerber nur die Partei
angekreuzt oder werden innerhalb einer Lan-
desliste mehr als drei Bewerber angekreuzt, so
ist die Stimme der Landesliste der betreffenden
Partei in der von der Partei vorgeschlagenen
Reihenfolge der Bewerber zuzurechnen. Wer-
den Bewerber unterschiedlicher Landeslisten
angekreuzt, ist die Stimme ungültig.“

j) § 37 wird wie folgt gefaßt:
㤠37

Feststellung des Wahlergebnisses im Wahlbezirk
Nach Beendigung der Wahlhandlung stellt der
Wahlkreisvorstand fest, wieviel Stimmen im Wahl-
bezirk auf die einzelnen Kreiswahlvorschläge, die
Landeslisten und jeden Bewerber auf der Landes-
liste entfallen.“

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/1126

k) § 41 Abs. 1 wird wie folgt gefaßt:
„(1) Der Kreiswahlausschuß stellt fest, wie viele
Stimmen im Wahlkreis für die einzelnen Kreis-
wahlvorschläge, Landeslisten und die einzelnen
Bewerber auf den Landeslisten abgegeben worden
sind und welcher Bewerber als Wahlkreisabgeord-
neter gewählt ist.“

l) § 42 Abs. 1 wird wie folgt gefaßt:
„(1) Der Landeswahlausschuß stellt fest, wie
viele Stimmen im Land für die einzelnen Landes-
listen und die einzelnen Bewerber auf den Lan-
deslisten abgegeben worden sind.“

2. Das Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des
Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik
Deutschland (Europawahlgesetz) in der Fassung der
Bekanntmachung vom 8. März 1994 (BGBl. I S. 423)
wird wie folgt geändert:
a) § 2 Abs. 6 wird gestrichen.
b) § 6 wird wie folgt geändert:

aa) In Absatz 1 wird der Satzteil „alle Deutschen
im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grund-
gesetzes“ durch den Satzteil „deutsche Staats-
bürgerinnen und Staatsbürger“ ersetzt. In
Nummer 1 wird das Wort „achtzehnte“ durch
das Wort „sechzehnte“ ersetzt.

bb) In Absatz 3 Nr. 1 wird das Wort „achtzehnte“
durch das Wort „sechzehnte“ ersetzt.

cc) Es wird ein neuer Absatz 4 eingefügt:
„(4) Wahlberechtigt sind ferner diejenigen
ausländischen Bürgerinnen und Bürger, die
seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig ihren
ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik
Deutschland haben und am Wahltage
1. das sechzehnte Lebensjahr vollendet haben,
2. nicht nach § 6a Abs. 2 vom Wahlrecht aus-

geschlossen sind.“
dd) Die Absätze 4 und 5 werden die Absätze 5

und 6.
c) § 6a Abs. 2 erhält folgende Fassung:

„(2) Ein Bürger eines anderen Staates ist vom
Wahlrecht ausgeschlossen, wenn
1. bei ihm eine der Voraussetzungen des Absat-

zes 1 Nr. 1 bis 3 erfüllt ist oder
2. er in einem Mitgliedstaat der Europäischen

Gemeinschaft infolge einer zivil- oder straf-
rechtlichen Einzelfallentscheidung das Wahl-
recht zum Europäischen Parlament nicht be-
sitzt.“

d) § 6b wird wie folgt geändert:
aa) Absatz 1 Nr. 1 wird wie folgt gefaßt:

„Wählbar sind deutsche Staatsbürgerinnen und
Staatsbürger, die am Wahltage das achtzehnte
Lebensjahr vollendet haben.“

bb) Es wird ein neuer Absatz 3 eingefügt:
„(3) Wählbar sind ferner diejenigen auslän-
dische Bürgerinnen und Bürger, die am
Wahltage seit mindestens fünf Jahren recht-
mäßig ihren ständigen Wohnsitz in der Bun-
desrepublik Deutschland und das achtzehnte
Lebensjahr vollendet haben.“

cc) Absatz 4 erhält folgende Fassung:
„(4) Nicht wählbar ist ein Bürger eines an-
deren Staates, der
1. nach § 6a Abs. 2 Nr. 1 in der Bundesrepu-

blik Deutschland vom Wahlrecht ausge-
schlossen ist,

2. nach § 6a Abs. 2 Nr. 2 in einem Mitglied-
staat vom Wahlrecht ausgeschlossen ist,

3. infolge Richterspruchs in der Bundesrepu-
blik Deutschland die Wählbarkeit oder die
Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Äm-
ter nicht besitzt oder

4. infolge einer zivil- oder strafrechtlichen
Einzelfallentscheidung in einem Mitglied-
staat die Wählbarkeit nicht besitzt.“

e) § 15 Abs. 2 Nr. 4 wird wie folgt gefaßt:
„4. die Bewerber der zugelassenen Wahlvor-

schläge mit Vor- und Familiennamen, Beruf
oder Stand, Ort der Wohnung (Hauptwohnung)
sowie bei Bewerbern für gemeinsame Listen
für alle Länder zusätzlich die Abkürzung des
Landes, in dem der Ort der Wohnung liegt.“

f) § 16 Abs. 2 wird wie folgt gefaßt:
„(2) Der Wähler gibt seine Stimme in der Weise
ab, daß er durch bis zu drei auf den Stimmzettel
gesetzte Kreuze oder auf andere Weise eindeutig
kenntlich macht, welchem Bewerber oder welchen
Bewerbern auf der gemeinsamen Liste oder der
Liste für ein Land sie gelten sollen. Wird auf dem
Stimmzettel ohne Kennzeichnung bestimmter Be-
werber nur die Partei angekreuzt oder werden in-
nerhalb einer Liste mehr als drei Bewerber ange-
kreuzt, so ist die Stimme der Liste der betreffenden
Partei in der von der Partei vorgeschlagenen Rei-
henfolge der Bewerber zuzurechnen. Werden Be-
werber unterschiedlicher Listen angekreuzt, ist die
Stimme ungültig.“

g) § 18 wird wie folgt gefaßt:
㤠18

Feststellung des Wahlergebnisses
(1) Nach Beendigung der Wahlhandlung, jedoch
nicht vor dem Ende der Stimmabgabe in den ande-
ren Mitgliedstaaten der Europäischen Gemein-
schaften, stellt der Wahlvorstand fest, wie viele
Stimmen im Wahlbezirk auf die einzelnen Wahl-
vorschläge und die einzelnen Bewerberinnen und
Bewerber abgegeben worden sind. Der für die
Briefwahl eingesetzte Wahlvorstand stellt fest, wie
viele durch Briefwahl abgegebene Stimmen auf die

Drucksache 14/1126 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

einzelnen Wahlvorschläge und die einzelnen Be-
werberinnen und Bewerber entfallen.
(2) Die Kreiswahl- und Stadtwahlausschüsse
stellen fest, wie viele Stimmen in den Kreisen und
kreisfreien Städten für die einzelnen Wahlvor-
schläge und die einzelnen Bewerberinnen und Be-
werber abgegeben worden sind. Sie haben das
Recht der Nachprüfung der Feststellung der Wahl-
vorschläge.
(3) Die Landeswahlausschüsse stellen fest, wie
viele Stimmen in den Ländern für die einzelnen
Wahlvorschläge und die einzelnen Bewerberinnen
und Bewerber abgegeben worden sind.

(4) Der Bundeswahlausschuß stellt fest, wie
viele Stimmen für die einzelnen Wahlvorschläge
und die einzelnen Bewerberinnen und Bewerber
insgesamt abgegeben worden sind, wie viele Sitze
auf die einzelnen Wahlvorschläge entfallen und
welche Bewerberinnen und Bewerber gewählt
sind.“

Artikel 3
Inkrafttreten

Das Gesetz tritt am Tage seiner Verkündung in Kraft.

Bonn, den 9. Juni 1999

Dr. Evelyn Kenzler
Maritta Böttcher
Roland Claus
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Heidemarie Lüth
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/1126

Begründung

A. Allgemeines
Die anhaltende Parteien- und Politikverdrossenheit hat
auch eine Ursache in der Privilegierung der großen Par-
teien mittels der Fünfprozentklausel und einer unzurei-
chenden Verbindung von Parteiendemokratie und Bür-
gerdemokratie, wie dies in dem Recht der Parteien Aus-
druck findet, allein über die Reihenfolge der Kandidatin-
nen und Kandidaten auf den Landeslisten zu entscheiden.
Die Vertrauenskrise zwischen der Bevölkerung und den
Parteien zu überwinden, erfordert gerade auch, neue
rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein
System wirklich konkurrierender Parteien fördern und
alle Parteien zum Dialog mit den Wählerinnen und
Wählern zwingen.
Ungeachtet dessen, daß sie sowohl die persönliche Reife
als auch das Bedürfnis haben, am politischen Willens-
bildungsprozeß durch Ausübung des aktiven Wahlrechts
teilzunehmen, sind mit den 16- und 17jährigen etwa
1,6 Millionen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vom
aktiven Wahlrecht ausgeschlossen. Erforderlich ist die
Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, um den legitimen
demokratischen Bedürfnissen der Jugendlichen Rech-
nung zu tragen, ihnen reale politische Einflußmöglich-
keiten zu geben und Politikverdrossenheit zurückzu-
drängen. Dies wäre ein klares Signal an die junge Gene-
ration, daß sie in die lebenswichtigen politischen Zu-
kunftsentscheidungen einbezogen wird. Es würde die
Parteien zwingen, sich mit den die Jugendlichen be-
wegenden Themen stärker zu beschäftigen, und die
Jugendlichen veranlassen, sich mit politischen Themen
in entscheidungsbezogener Form auseinanderzusetzen.
In der Bundesrepublik Deutschland ist es zu einer erheb-
lichen Zunahme des Anteils der Ausländerinnen und
Ausländer an der Gesamtbevölkerung gekommen. Es hat
sich in diesem Zusammenhang eine neuartige Zwei-
klassengesellschaft von deutschen Staatsbürgerinnen und
Staatsbürgern einerseits und ausländischen Mitbürgerin-
nen und Mitbürgern andererseits herausgebildet. Das
Wahlrecht wird den etwa fünf Millionen Ausländerinnen
und Ausländern verweigert, die länger als fünf Jahre,
zum Teil über 20 Jahre, rechtmäßig ihren ständigen
Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben. Es
entspricht dem Prinzip der Menschenwürde und der
darin enthaltenen emanzipatorischen Idee, daß Menschen
ihre Lebensverhältnisse unabhängig von ihrer Staats-
angehörigkeit mitbestimmen können. Ausländische Mit-
bürgerinnen und Mitbürger, die in der Bundesrepublik
Deutschland ständig leben und arbeiten und nicht unbe-
trächtlich zur Lebensqualität der gesamten Bevölkerung
beitragen, müssen auch am politischen Prozeß teilhaben
und die Bildung der Verfassungsorgane beeinflussen
können. Das Wahlrecht ist ein Recht, das ihnen in einem
demokratischen Land zustehen sollte. Ein Wettbewerb
zwischen den Parteien um die Stimmen der ausländi-
schen Bürgerinnen und Bürger würde zudem deren Sen-

sibilität für die Probleme der ausländischen Bürgerinnen
und Bürger erhöhen. Zugleich wäre dies ein wichtiger
Akt der Integration ausländischer Bürgerinnen und Bür-
ger, der längerfristig zur Zurückdrängung von Aus-
länderfeindlichkeit und Rassismus beitragen kann.

B. Zu den einzelnen Bestimmungen
Zu Artikel 1 (Änderung des Grundgesetzes)
Die Änderung des Artikels 38 Abs. 2 GG sichert auch
den 16- und 17jährigen das aktive Wahlrecht. Sie stellt
klar, daß nicht nur deutsche Staatsbürgerinnen und
Staatsbürger, sondern auch ausländische Bürgerinnen
und Bürger, die seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig
ihren ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik
Deutschland haben, wahlberechtigt und wählbar sind.
Nach allen relevanten Untersuchungen (vgl. Klaus
Hurrelmann, Universität Bielefeld, Zehn Thesen zur
politischen Partizipation von Jugendlichen) gibt es heute
keine Zweifel, daß Jugendliche bereits mit 16 Jahren
politisch entscheidungsfähig sind und in diesem Alter in
der Regel die Bereitschaft und die politische Kompetenz
für die Teilnahme an Wahlen in Form der Wahrnehmung
des aktiven Wahlrechts besitzen. Die bisherige Alters-
grenze hemmt in unserer immer älter werdenden Gesell-
schaft sowohl den Dialog als auch die Interessenabstim-
mung zwischen den Generationen. Viele Jugendliche
bewegt die Sorge, daß die Erwachsenen, die heute die
Entscheidungen für die Zukunft treffen, ihrer Verant-
wortung für die Entwicklung menschenwürdiger Per-
spektiven nicht gerecht werden. Von den noch nicht
wahlberechtigten Jugendlichen (13 bis 17 Jahre) fühlen
sich nur etwa 25 % von den Parteien des Deutschen
Bundestages „gut vertreten“.
Das Bundesverfassungsgericht kommt in seinem Urteil
zum Kommunalwahlrecht (BVerfGE 83, 444) zur Fest-
stellung, es sei „im Ausgangspunkt zutreffend“, daß
es „der demokratischen Idee“ entspreche, „insbesondere
dem in ihr enthaltenen Freiheitsgedanken“, eine „Kon-
gruenz zwischen den Inhalten demokratischen Rechts
und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herr-
schaft Unterworfenen herzustellen“. Zugleich verweist
es aber darauf, daß ein solcher Weg durch das Grundge-
setz versperrt sei. Die Änderung des Artikels 38 Abs. 2
hebt diese Sperre auf. Ausländerinnen und Ausländer,
die mehr als fünf Jahre rechtmäßig ihren Wohnsitz in der
Bundesrepublik Deutschland haben, sind damit deut-
schen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern hinsichtlich
des aktiven und passiven Wahlrechts im Grundgesetz
gleichzustellen. Zugleich wird damit bezüglich des Be-
griffs „Volk“ im Artikel 20 des Grundgesetzes klarstellt,
daß nicht nur deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbür-
ger zum Volk gehören, sondern auch weitere auf dem
Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ständig
lebende Bürgerinnen und Bürger.

Drucksache 14/1126 – 6 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Zu Artikel 2 (Gesetz zur Demokratisierung
des Wahlrechts)

In Verbindung mit der Änderung des Artikels 38 GG ist
eine Anpassung des Bundeswahlgesetzes und des Europa-
wahlgesetzes hinsichtlich des Wahlrechts für die ständig
hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer auf Bundes-
ebene und zur Erweiterung des Kreises der aktiv Wahlbe-
rechtigten durch Senkung des Wahlalters erforderlich.
Die Parteien- und Politikverdrossenheit hat nicht zuletzt
auch ihre Ursache in einer unzureichenden Verbindung
von Parteiendemokratie und Bürgerdemokratie sowie in
der Privilegierung der etablierten Parteien mittels Fünf-
prozentsperre und Überhangmandaten.

Zu Nummer 1 Buchstabe a und b
Nach dem Wahlgesetz vom 7. Mai 1956 gilt die Verhält-
niswahl, die mit Formelementen der relativen Mehr-
heitswahl verbunden ist. Die Sitzverteilung wird so ge-
regelt, daß der Wähler allein mit der Zweitstimme auf
das politische Kräfteverhältnis zwischen den Bundes-
tagsparteien Einfluß nimmt. Eine Ausnahme davon bil-
det lediglich die ausgleichslose Zuteilung von Über-
hangmandaten nach § 6 Abs. 5 Satz 2 BWG. Parteien,
die in einem Land mehr Direktmandate erringen, als
ihnen nach den für sie abgegebenen Zweitstimmen zu-
stehen, behalten diese Überhangmandate. Dem Wesen
nach handelt es sich dabei nicht etwa um zusätzliche
Direktmandate, sondern um „zusätzliche Listenmandate“
(vgl. Helmut Nicolaus, Die Krise des Bundestagswahl-
rechts, Manuskript eines Rechtsgutachtens, S. 8). Über-
hangmandate führen dazu, daß zum einen der Mandats-
anteil der Parteien vom Proporzprinzip abweicht und
zum anderen „der Anteil der Direktmandate durch zu-
sätzliche Listenmandate unter die Hälfte der Bundestags-
sitze gedrückt wird“ (ebenda, S. 7).
Bei den Bundestagswahlen 1994 und 1998 ist die Anzahl
der Überhangmandate deutlich gewachsen. Während seit
Einführung der bundesweiten Verrechnung von Direkt-
mandaten zwischen 1957 und 1990 (also bei 10 Bun-
destagswahlen) insgesamt 18 Überhangmandate anfielen,
waren es 1994 bei der Wahl zum 13. Bundestag 16 Über-
hangmandate und 1998 bei der Wahl zum 14. Bundestag
13 Überhangmandate. Damit wurde deutlich, daß auf
signifikante Weise die Verteilung der Mandate im Deut-
schen Bundestag vom Gebot der Wahlrechtsgleichheit
nach Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 GG – und damit auch vom
Prinzip der Erfolgswertgleichheit – abweicht. Dies ge-
schah ausschließlich zugunsten der beiden großen Par-
teien CDU und SPD. Die 16 zusätzlichen Mandate von
1994 (12 für die CDU, 4 für die SPD) hatten immer-
hin ein Gewicht von 1,1 Millionen Zweitstimmen, die
13 Überhangmandate von 1998 (allesamt SPD) eines
von über 900 000 Zweitstimmen. Mit ihren 13 Über-
hangmandaten brauchte die SPD im Durchschnitt bei
den letzten Bundestagswahlen für ein Mandat 67 714
Stimmen, die anderen Parteien (CSU, F.D.P., BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN, PDS) im Durchschnitt 70 600.
Das ist eine Differenz von über vier Prozent.
In den Beratungen des Wahlrechtsausschusses zum Bun-
deswahlgesetz vom 7. Mai 1956 wurde davon ausgegan-

gen, daß Überhangmandate nur in geringer Zahl anfal-
len: „Im Höchstfall seien vielleicht ein oder zwei Über-
hangmandate denkbar“ (vgl. Stenographischer Bericht
des Wahlrechtsausschusses, 6. Sitzung, S. 13). Nicht zu-
letzt, weil dies sich seit der Bundestagswahl 1994 merk-
lich geändert hat und damit das Gebot der Wahlrechts-
gleichheit sichtbar negiert wird, ist Handlungsbedarf
gegeben. Davon ausgehend hatte sich bereits nach der
Bundestagswahl 1994 die Niedersächsische Landesregie-
rung, vertreten durch ihren damaligen Ministerpräsiden-
ten Gerhard Schröder, mit einem Normenkontrollantrag
an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Im Urteil des
Zweiten Senats vom 10. April 1997 kam es auf Grund
einer Stimmengleichheit nach § 15 Abs. 3 Satz 3
BVerfGG zu keiner einen „Verstoß gegen das Grundge-
setz“ rügenden Feststellung. Nach Auffassung der Richter
Konis, Kirchhof, Winter und Jentsch entsprechen die dem
Bundesverfassungsgericht zur Prüfung gestellten Vor-
schriften des Bundeswahlgesetzes (§ 6 Abs. 5 Satz 2 und
§ 7 Abs. 3 Satz 2) dem Grundgesetz. Allerdings geben sie
zu bedenken, daß es durchaus Sinn machen kann, aus
politischen Gründen Überhangmandate auszuschließen
bzw. zu kompensieren. Die Richter Limbach, Graßhof,
Sommer und Hassemer halten diese Vorschriften mit
Wirkung vom 15. November 1996 für teilweise verfas-
sungswidrig. Nach Meinung der zuletzt genannten Rich-
ter verstoßen die Regelungen über die Überhangmandate
insoweit gegen Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 GG, „als sie
Überhangmandate auch ohne Verrechnung oder Aus-
gleich zulassen, wenn diese in einem Umfang anfallen,
der eine Verschiebung des Gewichts der Wählerstimmen
bewirkt“ (2 BvF 1/95, nach: Pressemitteilung Nr. 31/97
vom 10. April 1997, Bundesverfassungsgericht, Presse-
stelle, S. 4). Diese Situation ist eingetreten.

Zu Buchstabe a
Unter den verschiedenen Ursachen für das Auftreten von
Überhangmandaten (Wahlkreisüberschuß in einem Land,
Gewinn zahlreicher Wahlkreise mit knapper relativer
Mehrheit, unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung) ist
vor allem eine Ursache beeinflußbar: die Wahlkreisein-
teilung. So hätte es bei einem „idealen Zuschnitt der
Wahlkreise“ bei der Bundestagswahl 1994 statt 16 ledig-
lich 10 Überhangmandate gegeben. Durch die Neurege-
lung in § 3 Abs. 2 Nr. 4a wird die Bundesregierung ver-
pflichtet, jeweils entsprechend dem Bericht der Wahl-
kreiskommission und den von ihr vorgeschlagenen „Än-
derungen der Wahlkreiseinteilung“ unverzüglich einen
Gesetzentwurf vorzulegen.

Zu Buchstabe b
Es erfolgt eine parteiinterne Kompensation von Über-
hangmandaten. Die Zahl der in einem Land errungenen
Wahlkreismandate, die Überhangmandate sind, wird von
der für ihre Listenverbindung ermittelten Abgeordneten-
zahl abgerechnet. Die verbleibenden Sitze werden auf
die Landeslisten der Partei in den Ländern verteilt, in
denen keine Überhangmandate entstanden sind. Entste-
hen dabei wiederum Überhangmandate, findet eine er-
neute Berechnung statt. Diese Regelung beinhaltet, daß
– bezogen auf die Bundestagswahl 1998 – die 13 von der

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 7 – Drucksache 14/1126

SPD zusätzlich gewonnenen Überhangmandate durch
den Verlust von 13 Landeslistenmandaten der SPD
kompensiert worden wären.

Zu Buchstabe c
Mit dieser Streichung wird die Fünfprozentklausel abge-
schafft.
Die Streichung der Sperrklausel vermindert die Tenden-
zen zur bürokratischen Verkrustung des Parteiensystems.
Auch dem Trend zu einer anwachsenden Zahl Nicht-
wählerinnen und Nichtwähler wird auf diese Weise be-
gegnet, denn die Fünfprozentklausel entmutigt Wähle-
rinnen und Wähler, eine kleine Partei ihrer Wahl zu
wählen, so daß sie nicht selten gar nicht wählen gehen.
Je breiter das Angebot bei der Wahl ist, desto attraktiver
ist es für die Bürgerinnen und Bürger, sich an den
Wahlen zu beteiligen, und desto nachhaltiger werden
die etablierten Parteien veranlaßt, sich mit den Sorgen
der Bevölkerung zu beschäftigen. Die Streichung der
Klausel macht die Bundestagswahl wieder attraktiver.
Das gegenwärtige Wahlsystem fördert den Absentismus
und veranlaßt gerade auf Bundesebene viele Wählerin-
nen und Wähler zu einem taktisch motivierten Wahlver-
halten. Selbst Parteien, die mehr als 2 Millionen Stim-
men erhalten, wird damit der Einzug in den Deutschen
Bundestag weitgehend unmöglich gemacht.
Die mit der Fünfprozentklausel verbundenen politischen
Wirkungen unterminieren so das vom Bundesverfas-
sungsgericht mehrfach bekräftigte Prinzip der Erfolgs-
wertgleichheit der Stimmen. Keine „zwingenden Gründe“
im Sinne von ansonsten zu erwartenden „Störungen des
Verfassungslebens“ oder „staatspolitischen Gefahren“
können dies rechtfertigen. Nach wie vor können die
beiden großen Bundestagsparteien SPD und CDU/CSU
mit mehr als 70 Prozent der Wählerstimmen rechnen.
Die immer wieder beschworene Gefahr einer Funktions-
störung des Parlaments durch „Splitterparteien“ ist nicht
gegeben. Die Erfahrungen der letzten Volkskammer der
DDR haben deutlich gemacht, daß kleine Parteien we-
sentlich zur Lebendigkeit der parlamentarischen Debatte
beitragen und überhaupt bei der staatlich-politischen
Willensbildung eine außerordentlich positive Rolle
übernehmen können.
Zu Buchstabe d
Zur Vermeidung von Überhangmandaten ist eine Listen-
verbindung notwendig. Ein Ausgleich bei getrennten
Landeslisten wäre letztlich nur durch eine Erhöhung der
Zahl der Bundestagsmandate insgesamt möglich und
würde dann auch die Proportionen in der Sitzverteilung
zwischen den verschiedenen Parteien berühren.
Zu den Buchstaben e bis g
Mit dieser Regelung werden notwendige Konsequenzen
aus der Änderung des Artikels 38 GG hinsichtlich des
Kreises der Wahlberechtigten und hinsichtlich der Wähl-
barkeit gezogen. Das aktive Wahlrecht der 16- bis 18jäh-
rigen und das aktive und passive Wahlrecht von Aus-
länderinnen und Ausländern wird im einzelnen geregelt.
Zur Begründung wird auf die vorangegangenen Ausfüh-

rungen verwiesen. Ferner wird geregelt, daß deutsche
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und nicht „Deutsche
im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes“
wahlberechtigt sind. Diese klare Festlegung ist notwen-
dig, um zu vermeiden, daß Staatsangehörige anderer
Staaten nur wegen ihrer „Deutschstämmigkeit“ gegen-
über anderen Ausländern bevorzugte Möglichkeiten der
Teilnahme an Wahlen in Deutschland genießen.

Zu Buchstabe h
Die Streichung dieser Worte ist die Voraussetzung für
das Funktionieren der Präferenzwahl.

Zu Buchstabe i
Diese Bestimmung regelt die konkrete Art und Weise
der Abgabe und der Wirkung der Präferenzstimmen, die
eine Einflußnahme der Bürgerinnen und Bürger auf die
von den Parteien aufgestellten Kandidatinnen und Kan-
didaten ermöglichen. Die Wählerinnen und Wähler kön-
nen ihre Stimme für eine Partei als Stimme für bis zu
drei bestimmten Kandidatinnen und Kandidaten auf der
Landesliste der Partei abgeben und vermögen auf diese
Weise, die Reihenfolge der Kandidatinnen und Kandi-
daten zu verändern. Im Unterschied zu einer ähnlichen
Regelung im Freistaat Bayern erhalten die Wählerinnen
und Wähler nicht nur eine, sondern drei Präferenzstim-
men, um die mit Präferenzstimmen verbundene Tendenz
zum Konkurrenzkampf zwischen den Kandidatinnen
bzw. Kandidaten einer Partei in Grenzen zu halten. Falls
eine Wählerin bzw. ein Wähler mehr als drei Kandidaten
ankreuzt oder nur die Landesliste der Partei, wären diese
Stimmen nicht ungültig, sondern würden als Wahl der
Landesliste in der von der Partei vorgeschlagenen Rei-
henfolge gewertet werden. Die Ergänzung des Bundes-
wahlgesetzes verstärkt das Prinzip der Verbindung von
Verhältniswahl und Personenwahl und trägt zur Stärkung
der Bürgerdemokratie gegenüber der Parteiendemokratie
bei.

Zu den Buchstaben j, k und l
Diese Änderungen ergeben sich notwendig aus der Wahl
mittels Präferenzstimmen entsprechend der Neufassung
des § 34 Abs. 2 Nr. 2.

Zu Nummer 2
Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament ist grund-
sätzlich mit den gleichen Mängeln behaftet wie das
Wahlrecht zum Deutschen Bundestag: Ausschluß der
Jugendlichen und der ständig in der Bundesrepublik
Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer
vom Wahlrecht, unzureichende Einflußmöglichkeiten
der Wählerinnen und Wähler infolge Fünfprozentsperre
und einer nicht veränderbaren Bundesliste.
Auch bei den Europawahlen wird das Wahlrecht nach
wie vor jenen Ausländerinnen und Ausländern verwei-
gert, die mehr als fünf Jahre, zum Teil über 20 Jahre,
rechtmäßig ihren ständigen Wohnsitz in der Bundesre-
publik Deutschland haben und nicht EG-Bürger sind.

Drucksache 14/1126 – 8 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Die 16- und 17jährigen sind vom aktiven Wahlrecht zum
Europaparlament ausgeschlossen. Die Änderungen ver-
folgen das Ziel, diese Defizite zu beseitigen. Zur Be-
gründung wird auf die vorangegangenen Ausführungen
unter A und B verwiesen.
Eine Streichung der Sperrklausel im Europawahlgesetz
wirkt sowohl einer Reduzierung der regionalen Interes-
senrepräsentation im Europaparlament als auch den
generellen Tendenzen zur bürokratischen Verkrustung
des Parteiensystems in der Bundesrepublik Deutschland
entgegen. Die Fünfprozentklausel entmutigt Wählerin-
nen und Wähler, eine kleine Partei ihrer Wahl zu wählen,
und bewirkt somit Absentismus und taktisches Wahlver-
halten. Selbst einer Partei, die mehr als 2 Millionen
Stimmen erhält, wird damit der Einzug in das Europa-
parlament unmöglich gemacht.
Die mit der Fünfprozentsperre verbundenen politischen
Wirkungen unterminieren das vom Bundesverfassungs-
gericht mehrfach bekräftigte Prinzip der Erfolgswert-
gleichheit der Stimmen. Gerade bei Wahlen zum Euro-
paparlament sind keine „zwingenden Gründe“ im Sinne
ansonsten zu erwartender „Störungen des Verfassungs-
lebens“ oder „staatspolitischer Gefahren“ erkennbar, die
eine Abweichung von diesem Prinzip rechtfertigen
würden.
Im übrigen liegt bei 99 Europa-Abgeordneten aus der
Bundesrepublik Deutschland die faktische Sperrklausel
auch bei strikter Einhaltung der Grundsätze der Verhält-
niswahl sowieso bei etwa einem Prozent.
Das ansonsten bei Wahlen in der Bundesrepublik
Deutschland bewährte und allgemein realisierte Prinzip
der Verbindung von Verhältniswahl mit Formen der
Personenwahl konnte bei Europawahlen bisher nicht
verwirklicht werden. Allein die Parteien entscheiden
bisher über die Reihenfolge der Bewerberinnen und
Bewerber auf den Listen und damit darüber, welche ihrer
Kandidatinnen und Kandidaten ins Europaparlament
einziehen.
Einer wirksamen Einflußnahme der Bürgerinnen und
Bürger auf die von den Parteien aufgestellten Kandida-
tinnen und Kandidaten dient die Einführung von bis zu
drei Präferenzstimmen, um auch bei Europawahlen das
bewährte Prinzip der Verbindung der Verhältniswahl mit
der Personenwahl zur Geltung zu bringen. Eine Kombi-
nation von Direktwahlkreisen und Listen verbietet sich,
weil infolge der Verhinderung von Überhangmandaten
die Einpersonenwahlkreise so groß sein müßten (im
Durchschnitt 1,73 Millionen Wahlberechtigte), daß eine
sinnvolle Beziehung zwischen Abgeordneten sowie
Wählerinnen und Wählern kaum möglich wäre. Die
Wählerin bzw. der Wähler gibt seine Stimme für eine

Partei als Stimme für bis zu drei Kandidatinnen bzw.
Kandidaten auf der gemeinsamen Liste oder Landesliste
einer Partei ab und vermag auf diese Weise die Reihen-
folge der Kandidatinnen und Kandidaten zu verändern.
Die Wählerin bzw. der Wähler soll bis zu drei Präferenz-
stimmen erhalten, um die mit Präferenzstimmen verbun-
dene Tendenz zum Konkurrenzkampf zwischen den
Kandidatinnen und Kandidaten einer Partei in Grenzen
zu halten. Falls ein Wähler bzw. eine Wählerin mehr als
drei Kandidatinnen bzw. Kandidaten oder nur die ge-
meinsame Liste oder Landesliste einer Partei ankreuzt,
wären diese Stimmen nicht ungültig, sondern würden als
Wahl der jeweiligen Liste von der Partei in der vor-
geschlagenen Reihenfolge gewertet werden. Die vorge-
schlagene Ergänzung des Europawahlgesetzes würde zur
Stärkung der Bürgerdemokratie gegenüber der Parteien-
demokratie beitragen.

Zu Buchstabe a
Mit der Streichung wird die Fünfprozentklausel abge-
schafft.

Zu Buchstabe b Doppelbuchstabe aa bis dd,
den Buchstaben c, d Doppelbuchstabe aa bis cc
Mit diesen Regelungen werden notwendige Konsequen-
zen aus der Änderung des Artikels 38 Abs. 2 des Grund-
gesetzes hinsichtlich des Kreises der Wahlberechtigten
und hinsichtlich der Wählbarkeit gezogen.

Zu Buchstabe e
Diese Neuregelung ergibt sich aus der Wahl mit Präfe-
renzstimmen.

Zu Buchstabe f
Diese Bestimmung regelt die Art und Weise der Abgabe
und Wirkung der Präferenzstimmen, die eine Einfluß-
nahme der Bürgerinnen und Bürger auf die von den
Parteien aufgestellten Kandidatinnen und Kandidaten
ermöglichen.

Zu Buchstabe g
Die Neufassung des § 18 ist eine Konsequenz aus
der Wahl mittels Präferenzstimmen entsprechend § 16
Abs. 2.

Zu Artikel 3 (Inkrafttreten)
Inkrafttretungsregelung.

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