Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.12.2011, Az. VI R 49/09

6. Senat | REWIS RS 2011, 672

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Gegenstand

(Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bei Ermittlungspflichtverletzung durch die Finanzbehörde)


Leitsatz

1. NV: Der Grundsatz von Treu und Glauben steht einer Änderung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO entgegen, wenn dem FA Tatsachen aufgrund der Verletzung seiner Ermittlungspflichten unbekannt geblieben sind, der Steuerpflichtige seinerseits aber die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten in zumutbarer Weise erfüllt hat.

2. NV: Kommt das FG zu dem Ergebnis, das FA habe seine Ermittlungspflichten verletzt, weil es aufgrund der vorliegenden Unterlagen sich aufdrängende Ermittlungen nicht vorgenommen habe, während der Steuerpflichtige - ausgehend von der von ihm vertretenen Rechtsauffassung - seiner Mitwirkungspflicht in zumutbarer Weise nachgekommen sei, so ist die Revisionsinstanz an diese Würdigung gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO).

Tatbestand

1

I. Im Streitjahr 1999 erzielte die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) als [X.]rbeitnehmerin der [X.], einer Tochtergesellschaft der [X.]-[X.] ([X.]), Einkünfte aus nichtselbständiger [X.]rbeit.

2

[X.]m 29. Oktober 1999 machte sie von ihrem Wandlungsrecht aus einem am 21. Oktober 1997 mit der [X.] abgeschlossenen Darlehensvertrag Gebrauch. Die Klägerin als Darlehensgeberin hatte der [X.] als Darlehensnehmerin ein mit 2 % verzinsliches Darlehen in Höhe von 5.000 DM gewährt. Das Darlehen war mit einem Wandlungsrecht dahingehend ausgestattet, dass die Darlehensgeberin berechtigt war, erstmalig am 28. Oktober 1999 für maximal 50 % der Darlehenssumme Beträge von je 5 DM in [X.]ktien der [X.] im Nennwert von je 5 DM zu wandeln.

3

Die am 17. Dezember 1998 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --[X.]--) eingegangene Einkommensteuererklärung für 1997 enthielt zunächst keine Hinweise auf diesen Vorgang. Mit Schreiben vom 14. Mai 1999 zeigte die Klägerin an, dass die abgegebene Steuererklärung unvollständig gewesen sei. [X.]ls [X.]rbeitnehmerin einer Tochtergesellschaft der [X.] habe sie am 21. Oktober 1997 von der Möglichkeit der Zeichnung eines [X.] Gebrauch gemacht. Der Vorstand der [X.] habe ihr mitgeteilt, dass sie mit der Zeichnung des Darlehens einen steuerpflichtigen [X.]rbeitslohn in Höhe von 6.736,50 DM erzielt habe. Basis hierfür sei eine Berechnung der Z-Bank. Dem Schreiben waren der Darlehensvertrag, ein Schreiben der [X.] betreffend die steuerliche Behandlung des [X.] sowie die Berechnung der Z-Bank beigefügt.

4

Mit Bescheid vom 30. Juni 1999 änderte das [X.] die Einkommensteuerveranlagung der Klägerin für 1997 nach § 173 [X.]bs. 1 Nr. 1 der [X.]bgabenordnung ([X.]) und erfasste den nacherklärten Betrag zusätzlich bei den Einkünften aus nichtselbständiger [X.]rbeit.

5

Im Mantelbogen der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1999 war hinsichtlich der [X.]nlage [X.] angekreuzt, dass die Einnahmen nicht mehr als 6.100 DM betragen hätten. Zusätzlich war eine "Erläuterung zu Zeile 31, Mantelbogen" beigefügt. Darin war ausgeführt, dass "aus den 1999 aus [X.] bezogenen [X.]-[X.]ktien noch keine Dividenden zugeflossen seien (vgl. Schreiben vom 14.5.1999 zu Einkommensteuer 1997)". Beigefügt war auch eine "Zinsbestätigung 1999" über einen im Jahre 1999 ausbezahlten Zinsbetrag in Höhe von 83,05 DM für das "der [X.] zur Verfügung gestellte Darlehen, ([X.])". Zusätzlich war in dem Schreiben ausgeführt, der Rückgang der Darlehenssumme resultiere aus der vorgenommenen Wandlung.

6

Der Einkommensteuerbescheid für 1999 vom 9. Mai 2000 erging im Wesentlichen erklärungsgemäß.

7

Mit Schreiben vom 14. Dezember 2000 übersandte das Finanzamt [X.] dem [X.] eine [X.]uswertung von [X.]nzeigen des [X.]rbeitgebers gemäß §§ 38 [X.]bs. 4, 41c [X.]bs. 4 des Einkommensteuergesetzes. [X.]us den [X.]ngaben in einer dem Schreiben beigefügten tabellarischen [X.]ufstellung mit Stand 11. [X.]pril 2000 ergab sich, dass die Klägerin am 29. Oktober 1999 einen Teilbetrag ihres [X.] in Höhe von 2.500 DM in 25 000 [X.]ktien gewandelt hatte. Die Kursspanne war mit 45,03 bis 47,20 € angegeben. [X.]ls [X.]nschaffungskosten waren [X.] vermerkt. Unter Berücksichtigung des niedrigsten [X.] errechnete das [X.] hieraus einen geldwerten Vorteil in Höhe von 2.183.048 DM. Mit Bescheid vom 25. Februar 2002 änderte es die Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr gemäß § 173 [X.]bs. 1 Nr. 1 [X.] und erhöhte die Einkünfte der Klägerin aus nichtselbständiger [X.]rbeit entsprechend.

8

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren wandte sich die Klägerin mit der Klage gegen den [X.]nsatz eines geldwerten Vorteils aufgrund der Wandlung. Sie vertrat die [X.]uffassung, die Voraussetzung für eine Änderung nach § 173 [X.]bs. 1 Nr. 1 [X.] lägen nicht vor. Die Klage hatte Erfolg. Die Entscheidung des Finanzgerichts ([X.]) ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 1995 veröffentlicht.

9

Mit der Revision rügt das [X.] die Verletzung materiellen und formellen Rechts.

Das [X.] beantragt,

das Urteil des [X.] München vom 26. Juni 2009  8 K 1338/07 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. 1. Die Revision ist unbegründet. Die Entscheidung des [X.], das [X.] sei im Streitfall nicht berechtigt gewesen, die Steuerfestsetzung für das Streitjahr 1999 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] zu ändern, hält einer revisionsgerichtlichen Überprüfung stand.

2. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.

a) Da § 173 [X.] nach seinem rechtlichen Gehalt keine Fehlerberichtigungsvorschrift ist, rechtfertigt nur das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln eine Änderung nach dieser Vorschrift, nicht hingegen ein nachträglich erkannter Rechtsfehler (Beschluss des Großen [X.]s des [X.] --BFH-- vom 23. November 1987 [X.], [X.], 495, [X.] 1988, 180). Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen, nicht hingegen rechtliche Erwägungen, müssen für eine auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] gestützte Korrektur maßgeblich sein (BFH-Urteil vom 11. Juni 1997 [X.], [X.] 1997, 853). Allerdings steht der Grundsatz von [X.] und Glauben einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] dann entgegen, wenn dem [X.] Tatsachen aufgrund einer Verletzung seiner Ermittlungspflichten unbekannt geblieben sind, der Steuerpflichtige seinerseits aber die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten in zumutbarer Weise erfüllt hat. Im Falle einer beiderseitigen Pflichtverletzung ist nach ständiger Rechtsprechung eine Abwägung vorzunehmen (z.B. BFH-Urteile vom 16. Juni 2004 [X.]/01, [X.] 2004, 1502, und vom 26. Februar 2009 II R 4/08, [X.] 2009, 1599, m.w.N.).

b) Im Streitfall kann offenbleiben, ob bereits die Rechtserheblichkeit nachträglich bekanntgewordener Umstände zu verneinen ist. Denn das [X.] ist auf der Grundlage seiner Feststellungen zu dem Ergebnis gekommen, das [X.] habe seine Ermittlungspflichten verletzt, weil es aufgrund der vorliegenden Unterlagen sich aufdrängende Ermittlungen nicht vorgenommen habe, während die Klägerin --ausgehend von der von ihr vertretenen Rechtsauffassung hinsichtlich des Zeitpunkts der Versteuerung eines geldwerten [X.] ihrer Mitwirkungspflicht in zumutbarer Weise nachgekommen sei. Hieran sieht sich der [X.] revisionsrechtlich gebunden. Denn diese in erster Linie der Tatsacheninstanz obliegende Tatsachenwürdigung ist verfahrensrechtlich ordnungsgemäß durchgeführt worden und verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze (vgl. § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--; vgl. BFH-Urteil vom 30. September 1997 [X.]/97, [X.] 1998, 423).

3. Die vom [X.] erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.

Der Vortrag des [X.], das [X.] habe seine Pflicht zur Sachverhaltsermittlung (§ 76 [X.]O) verletzt, weil es den zuständigen [X.] nicht vernommen habe, kann bereits deshalb nicht zum Erfolg der Revision führen, weil das mutmaßliche Verhalten des einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen Rechtskenntnisse für die Frage, ob die Veränderung im Tatsächlichen oder in der rechtlichen Beurteilung liegt, aus gleichheitsrechtlichen Erwägungen ohne Bedeutung ist (BFH-Urteil vom 22. April 2010 [X.]/08, [X.], 57, [X.] 2010, 951, m.w.N.).

Soweit das [X.] mit seinem Vorbringen, das [X.] habe sein Urteil auf bisher nicht erörterte Gesichtspunkte gestützt, die Verletzung rechtlichen Gehörs in Form einer sog. Überraschungsentscheidung geltend macht, liegt der behauptete Verstoß gegen Art. 103 des Grundgesetzes i.V.m. § 96 Abs. 2 [X.]O nicht vor.

Ein Urteil darf zwar nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Ein bisher nicht erörterter Umstand, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, darf daher nicht zur Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung gemacht werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Gericht die für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten umfassend erörtern und den Beteiligten seine Rechtsauffassung im Einzelnen mitteilen müsste. Entsprechend muss ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ggf. prozessuale Anträge stellen. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt erst dann vor, wenn das Gericht auf Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] nicht zu rechnen brauchte, so dass dies im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleichkommt (BFH-Urteil vom 29. April 2008 [X.], [X.], 332, [X.] 2009, 842). Die in der Öffentlichkeit bekannten Umstände, insbesondere auch die Kursentwicklung der [X.], hängen so eng mit dem verwirklichten Besteuerungssachverhalt zusammen, dass ein kundiger Verfahrensbeteiligter damit rechnen musste, sie könnten in der Würdigung des [X.] --hier im Bereich der Anforderungen an die Ermittlungspflichten des [X.]-- eine Rolle spielen. Eine Verletzung des Anspruchs des [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt danach nicht vor.

Im Übrigen sieht der [X.] gemäß § 126 Abs. 6 [X.]O von einer weiteren Begründung ab.

Meta

VI R 49/09

08.12.2011

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend FG München, 26. Juni 2009, Az: 8 K 1338/07, Urteil

§ 173 Abs 1 Nr 1 AO, § 118 Abs 2 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.12.2011, Az. VI R 49/09 (REWIS RS 2011, 672)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 672

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