Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.08.2015, Az. V R 2/15

5. Senat | REWIS RS 2015, 6533

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Gegenstand

Verspätungszuschlag


Leitsatz

1. NV: Aus § 367 Abs. 2 AO, wonach die Finanzbehörde befugt ist, den Verwaltungsakt "im vollen Umfang" zu prüfen, ergibt sich, dass sie im Einspruchsverfahren gegen einen Ermessensverwaltungsakt nicht nur auf eine Prüfung der Ermessensgrenzen reduziert ist, sondern eine eigenständige Ermessensentscheidung zu treffen hat, die auch zum Nachteil des Einspruchsführers führen kann.

2. NV: Ist durch die Voranmeldung die Jahressteuerschuld bereits nahezu vollständig getilgt worden, kann ein die Höhe der Abschlusszahlung übersteigender Verspätungszuschlag aus erzieherischen Gründen nur bei besonderer Schwere der Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 9. Dezember 2014  8 K 8083/12 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Verspätungszuschlages zur Umsatzsteuer 2010 in Höhe von 1.500 € bei geringfügiger Nachzahlung.

2

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine Steuerberatungsgesellschaft in der Rechtsform einer GmbH. Nachdem sie die Umsatzsteuererklärung 2007 mit dreieinhalbmonatiger Verspätung und die Erklärung für 2009 mit 7 Tagen Verspätung eingereicht hatte, forderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) die Umsatzsteuererklärung 2010 vorzeitig zum 30. September 2011 an. Nachdem auch diese Erklärung nicht fristgerecht eingegangen war, erließ das [X.] am 20. Oktober 2011 einen [X.], verbunden mit der Festsetzung eines Verspätungszuschlages von 480 €, gegen die die Klägerin Einspruch erhob. Nach Eingang der Steuererklärung am 17. November 2011 setzte das [X.] den [X.] auf 156.196 € herab, sodass eine Nachzahlung von noch 200,46 € verblieb. Den Verspätungszuschlag minderte es von 480 € auf 100 €.

3

Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein mit der Begründung, sie habe die Anforderung der Steuererklärung übersehen und sei nicht an die vorzeitige Abgabe erinnert worden. Mit Schreiben vom 27. Januar 2012 wies das [X.] darauf hin, dass es beabsichtige, in Bezug auf den Verspätungszuschlag zu verbösern, da auch in den Vorjahren die Steuererklärungen verspätet abgegeben worden seien (2006: 7 Tage, 2007: 3,5 Monate, 2010: 1,5 Monate). Im Hinblick auf die nur geringfügige Nachzahlung von 200,46 € in 2010 halte das [X.] einen Verspätungszuschlag von 0,967 % der festgesetzten Steuer (= 1.500 €) für ermessensgerecht.

4

Nachdem die Klägerin den Einspruch nicht zurückgenommen hatte, erließ das [X.] am 29. März 2012 eine Einspruchsentscheidung, in der sie den Verspätungszuschlag --wie angekündigt-- auf 1.500 € erhöhte. Die Finanzbehörde habe gemäß § 367 Abs. 2 der Abgabenordnung ([X.]) die Sache in vollem Umfang neu zu prüfen. Die Klägerin habe den Ablauf der Veranlagungstätigkeit erheblich gestört, weil sie die vorzeitig angeforderte Steuererklärung erst nach Schätzung der Besteuerungsgrundlagen eingereicht habe. Angesichts der Dauer der Überschreitung von 6 Wochen und dem verzögerten Abgabeverhalten in den Vorjahren sowie der geringen Nachzahlung im Verhältnis zur festgesetzten Umsatzsteuer halte es "betragsmäßig als auch prozentual" den Verspätungszuschlag von 1.500 € für angemessen.

5

Hiergegen erhob die Klägerin Klage vor dem [X.] ([X.]) mit der Begründung, das [X.] dürfe sein Ermessen nur einmal ausüben. Eine Verböserung im Einspruchsverfahren setze voraus, dass sich der zugrunde gelegte Sachverhalt im Verlauf des [X.] wesentlich geändert habe, woran es fehle. Die Verböserung dokumentiere eine unsachliche Entscheidung zu Lasten eines wegen zahlreicher Streitigkeiten "offenkundig nicht geliebten" Steuerpflichtigen.

6

Das [X.] wies die Klage ab. Das [X.] habe auch im Hinblick auf die Verböserung ermessensfehlerfrei entschieden. Das [X.] folge nicht der Entscheidung des [X.] Rheinland-Pfalz vom 20. März 1998  3 K 2262/96 (juris), wonach eine Verböserung im Einspruchsverfahren nur bei Änderung der [X.] zulässig sei. Angesichts des bisherigen Abgabeverhaltens seien sachfremde Erwägungen wie ein Verstoß gegen das Übermaßverbot nicht zu erkennen. Aus den Ausführungen des [X.] ergebe sich, dass nach dessen Auffassung der ursprünglich festgesetzte Zuschlag von nur 100 € nicht im angemessenen Verhältnis zur festgesetzten Steuer stehe.

7

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Revision. Eine Verböserung im Einspruchsverfahren sei bei Ermessensentscheidungen nur bei gravierender Veränderung der Situation, des Verhaltens, der Beträge oder sonstiger Kriterien die zu neuen Ergebnissen führen möglich.

8

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des [X.] sowie den Änderungsbescheid über den Verspätungszuschlag aufzuheben und der Klage stattzugeben.

9

Das [X.] beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Das [X.] habe auch bei einer Ermessensentscheidung im Einspruchsverfahren die Sache in vollem Umfang zu überprüfen und ggf. eine erneute Ermessensentscheidung zu treffen.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung und Zurückverweisung an das [X.] (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] war zwar zur Festsetzung eines [X.] berechtigt und hat auch die Voraussetzungen für eine Verböserung im Rahmen einer Einspruchsentscheidung beachtet. Ein Verspätungszuschlag in der Höhe von 1.500 € bei geringfügiger Abschlusszahlung ist jedoch ermessensfehlerhaft (§ 102 [X.]O).

1. Nach § 15[X.] kann das [X.] gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht oder nicht fristgerecht nachkommt, einen Verspätungszuschlag festsetzen, wenn das Versäumnis nicht entschuldbar erscheint. Die Höhe des [X.] darf 10 % der festgesetzten Steuer und den Betrag von 25.000 € nicht überschreiten. Der Sinn und Zweck des [X.] besteht als Druckmittel eigener Art in einem zugleich repressiven und präventiven (erzieherischen) Charakter ([X.]-Urteil vom 18. November 1986 VIII R 183/84, [X.] 1987, 416, Rz 16). Es soll die Störung der Veranlagungsarbeit durch den verzögerten oder unterbliebenen Eingang der Steuererklärung sanktioniert werden und der Steuerpflichtige für die Zukunft zur pünktlichen Abgabe der Steuererklärung angehalten werden. Diesem Zweck entsprechend sind bei der Bemessung der Höhe des [X.] neben seinem Zweck, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Erklärungsabgabe zu veranlassen, die Dauer der Fristüberschreitung, die Höhe des sich aus der Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs, die aus der verspäteten Abgabe gezogenen Vorteile sowie das Verschulden und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. Bei der Gewichtung dieser Kriterien handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des [X.], die gemäß § 102 [X.]O gerichtlich lediglich auf Ermessensfehler zu überprüfen ist (Urteil des [X.] --[X.]-- vom 29. März 2007 IX R 9/05, [X.] 2007, 1617).

2. Nach diesen Maßstäben ist die Festsetzung eines [X.] zwar dem Grunde nach --auch im Rahmen einer Verböserung (s. unten 3.)-- gerechtfertigt, weil die Klägerin die Umsatzsteuererklärung 2010 trotz vorzeitiger Anforderung schuldhaft erst mit einer Verspätung von 6 Wochen eingereicht hatte, in ihrer Höhe aber ermessensfehlerhaft (s. unter 4.).

3. Die Verböserung des zunächst auf nur 100 € festgesetzten [X.] im Einspruchsverfahren ist grundsätzlich zulässig.

a) Gemäß § 367 Abs. [X.] hat die Finanzbehörde im Einspruchsverfahren den Verwaltungsakt "in vollem Umfang erneut" zu prüfen. Sie kann den Verwaltungsakt auch zum Nachteil des Einspruchsführers ändern, wenn der Einspruchsführer zuvor auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich zu äußern. Für [X.] hinsichtlich einer Ermessensentscheidung gilt nichts anderes: Die [X.] hat eine eigenständige Ermessensentscheidung nach der sich im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage zu treffen ([X.] vom 19. November 2007 VIII B 30/07, [X.] 2008, 335; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 365 [X.] Rz 114; a.A. [X.] Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. März 1998  3 K 2262/96, juris). Dies ergibt sich aus dem unterschiedlichen Prüfungsmaßstab einer Ermessensentscheidung für Gerichte in § 102 [X.]O (eingeschränkte Prüfung nur auf Ermessensfehler) und der [X.] des [X.] im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. [X.] (Überprüfung "im vollen Umfang").

b) Der Kläger beruft sich zu Unrecht auf den [X.] in [X.] 2008, 335, der im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde zur Ablehnung einer Divergenz zu den Rechtsausführungen der Vorinstanz ausgeführt hat, dass im dortigen Streitfall nach der erstmaligen Festsetzung des [X.] in der weiterhin nicht erfolgten Abgabe der Steuererklärung eine Intensivierung des [X.] gelegen habe, die auch nach den Maßstäben der Vorinstanz zu einer Änderung der Sachlage führen würde. Die Rechtsauffassung des [X.], wonach auch bei Ermessensentscheidungen eine Prüfung in vollem Umfang erfolgen muss, ergibt sich aus Leitsatz 1 der Entscheidung.

c) Entgegen der Darstellung der Klägerin hat das [X.] auch die weitere Voraussetzung erfüllt, wonach gemäß § 367 Abs. [X.] der Rechtsbehelfsführer vor der Verböserung unter Angabe von Gründen hierauf hingewiesen wurde. Wie das [X.] zutreffend ausführt, hat das [X.] in seinem Hinweis im Schreiben vom 27. Januar 2012 die Verböserung des [X.] von 100 € damit begründet, dass das [X.] nunmehr auch die Verspätungen in den Vorjahren mit einbezogen habe. Eine mehrfache Verspätung in den Vorjahren kann auch dann zu Lasten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, wenn in den Vorjahren noch kein Verspätungszuschlag festgesetzt worden sein sollte ([X.]-Urteil in [X.] 2007, 1617).

4. Das [X.] hat jedoch nicht berücksichtigt, dass nach der Rechtsprechung des [X.] neben der Anzahl und Dauer der Verspätung der Höhe der Abschlusszahlung ein erhebliches Gewicht beizumessen ist. Nach den [X.]-Urteilen vom 15. März 2007 VI R 29/05 ([X.] 2007, 1076) und vom 8. Dezember 1988 V R 169/83 ([X.]E 155, 46, [X.] 1989, 231) stellt die Höhe der Abschlusszahlung die Richtschnur für die Bemessung der Höhe des Zuschlages dar. Zwar kann ein Verspätungszuschlag aus erzieherischen Gründen auch dann festgesetzt werden, wenn die geschuldete Steuer --wie im [X.] aufgrund der Voranmeldungen fast oder insgesamt bereits gezahlt worden war (hier 200,46 € Nachzahlung von im Verhältnis zur Steuer von 156.196 €). In diesen Fällen ist unter den Gesichtspunkten der Vorteilsziehung und des Verschuldens nachvollziehbar abzuwägen, welches Gewicht der verspäteten Abgabe der Steuererklärung noch zukommt, nachdem die geschuldete Steuer fast vollständig entrichtet worden ist. Zuschläge, die den Charakter steuerlicher Sanktionen haben, dürfen nicht außer Verhältnis zur Schwere des Verstoßes des Steuerpflichtigen gegen seine Pflichten stehen (Urteil des Gerichtshofs der [X.] und [X.] vom 9. Juli 2015 [X.]/14, [X.]:[X.], Rz 51). Demgemäß kann nach der Rechtsprechung des Senats ein die Abschlusszahlung übersteigender Verspätungszuschlag nur bei besonderer Schwere der Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden ([X.] vom 14. April 2011 V B 100/10, [X.] 2011, 1288).

5. Die Sache ist nicht spruchreif. Das [X.] wird in einem erneuten Verfahren unter Berücksichtigung dieser Ermessensrichtlinien erneut über die Höhe des [X.] entscheiden und hierbei dem [X.] gemäß § 102 Satz 2 [X.]O Gelegenheit geben, ggf. seine Ermessenserwägungen zu ergänzen.

6. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

V R 2/15

18.08.2015

Bundesfinanzhof 5. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 9. Dezember 2014, Az: 8 K 8083/12, Urteil

§ 152 AO, § 367 Abs 2 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.08.2015, Az. V R 2/15 (REWIS RS 2015, 6533)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 6533

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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2 V 110/18 (Finanzgericht Hamburg)


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17 K 1035/18

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