Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 23.08.2012, Az. 1 StR 389/12

1. Strafsenat | REWIS RS 2012, 3691

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Entscheidungstext


Formatierung

Dieses Urteil liegt noch nicht ordentlich formatiert vor. Bitte nutzen Sie das PDF für eine ordentliche Formatierung.

PDF anzeigen


BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1
StR 389/12

vom
23.
August 2012
in der
Strafsache
gegen

wegen
unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer

Menge u.a.

-
2
-
Der 1. Strafsenat des [X.] hat am 23. August 2012 beschlos-sen:

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 19. März 2012 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der [X.] keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten er-geben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendi-gen Auslagen zu tragen.

Gründe:
Die Strafkammer hat festgestellt, dass der an einer paranoiden Schizo-phrenie leidende Angeklagte dreimal mit Betäubungsmitteln Handel getrieben und einmal seine Freundin massiv misshandelt und dabei lebensgefährlich ver-letzt hat, weil sie -
statt ihn nach Hause zu fahren
-
ihren minderjährigen [X.] am Bahnhof abholen wollte. Deshalb wurde er zu einer Gesamtstrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt (Einsatzstrafe: drei Jahre und sechs Monate wegen gefährlicher Körperverletzung) und es wurde seine Unterbringung in ei-nem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Außerdem muss er der Ge-schädigten 10.000

t-zen.
1
-
3
-
Die Kammer folgt dem Sachverständigen in seinem Befund, soweit er ei-ne paranoide Schizophrenie und die sich daraus ergebende Beeinträchtigung des Angeklagten diagnostiziert hat. Sie referiert darüber hinaus die Bewertung des Sachverständigen, dass die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten bei den Taten nicht beeinträchtigt gewesen sei. Die psychische Erkrankung wirke sich jedoch auf die Steuerungsfähigkeit aus und beeinträchtige die Impulskontrolle; die Reizschwelle des Angeklagten sei herabgesetzt; das Maß der Gewalt
und
die Brutalität der Handlungen seien
aber nicht einzig auf die psychiatrische Er-krankung des Angeklagten zurückzuführen. Die Kammer folgt dem Sachver-ständigen auch insoweit, als dieser auch beim [X.] kein akutes psychotisches Erleben festgestellt hat. Aufgrund dessen steht zur Über-zeugung der Kammer fest, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Körperverletzungshandlung zwar erheblich eingeschränkt, aber nicht [X.] war.
Seine Revision
ist auf die Sachrüge und Verfahrensrügen gestützt. Die diesbezüglichen Ausführungen betreffen die Strafe wegen gefährlicher Körper-verletzung und -
im Blick auf §
827 BGB
-
die Adhäsionsentscheidung. Er sei bei der Tat schuldunfähig gewesen. Dies habe der Sachverständige auch in der Hauptverhandlung vertreten, wie bereits schon in seinem schriftlichen Gutach-ten. Daher habe auch die Staatsanwaltschaft in diesem Punkt Freispruch we-gen Schuldunfähigkeit beantragt. Soweit das Urteil sich zur Begründung der Annahme (nur) erheblich verminderter Schuldfähigkeit auf die Ausführungen des Sachverständigen berufe, gebe es diese falsch wieder. Daher sei es rechts-fehlerhaft, dass nicht die Schuldunfähigkeit des Angeklagten festgestellt worden sei.
Selbst wenn die Strafkammer aber den Sachverständigen so wie im Ur-teil dargelegt verstanden habe, hätte sie auf die dadurch entstehende Abwei-2
3
4
-
4
-
chung vom schriftlichen Gutachten hinweisen, einen weiteren Gutachter hinzu-ziehen und/oder die für die Änderung des schriftlichen Gutachtens maßgebli-chen Gründe im Urteil behandeln müssen.
In der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft heißt es, die [X.] seien richtig und vollständig wiedergegeben.
Die Revision bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.
Soweit es die sachlich-rechtliche Überprüfung betrifft, ergibt sich aus den oben wiedergegebenen [X.] nicht, dass der Sachverständige die Auffassung vertreten hat, der Angeklagte sei bei Begehung der Tat schuld-unfähig gewesen. Ob die Voraussetzungen des § 20 StGB vorgelegen haben, hat die Kammer rechtsfehlerfrei entschieden. Ihre Bewertung, die Steuerungs-fähigkeit des Angeklagten sei nur erheblich eingeschränkt gewesen, entspricht der Rechtsprechung des [X.], wonach Schizophrenie für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere [X.] überdauernden gesicherten Aufhebung der Schuldfähigkeit führt (vgl. [X.], Beschluss
vom 29. Mai 2012 -
2 [X.]; [X.] NStZ-RR 2008,
39).

II.
Zu der verfahrensrechtlichen Beanstandung, das Urteil gebe die Bewer-tung des Sachverständigen zur Frage des § 20 StGB unzutreffend wieder, be-merkt der Senat:
5
6
7
8
-
5
-
Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] sind be-hauptete Widersprüche zwischen dem Inhalt des Urteils und den Akten oder dem Verlauf der Hauptverhandlung, wenn sie sich nicht aus den Urteilsgründen selbst ergeben, für sich allein regelmäßig revisionsrechtlich unerheblich (vgl. [X.]St 17, 351; [X.] NStZ 1992, 506 f.; 1995, 27, 29; 1997, 294; 2008, 55).
Eine Rekonstruktion der tatrichterlichen Beweisaufnahme durch das Revisions-gericht widerspricht -
worauf der [X.] in seiner Antragsschrift zutreffend hingewiesen hat
-
der Ordnung des Revisionsverfahrens (vgl. [X.]
NStZ 1992, 506, 507; 1997, 296; 2008, 55).

III.
Mit den Verfahrensrügen wird der Sache nach geltend gemacht, das Ur-teil sei auch auf der Grundlage der dort niedergelegten Ausführungen des Sachverständigen aufzuheben, also auch dann, wenn dies nicht schon Folge der für geboten erachteten Rekonstruktion der Beweisaufnahme sei. Dem steht aber bereits entgegen, dass nur für den Fall der Erfolglosigkeit anderen [X.], also hilfsweise angebrachte Verfahrensrügen, nicht zulässig sind ([X.], Beschluss vom 22. Februar 2012 -
1 [X.] mwN).

Die [X.] blieben aber auch erfolglos, wenn sie nicht nur hilfsweise [X.] wären.
1. Vorliegend wurde kein Sicherungs-, sondern ein Strafverfahren durch-geführt. Die zugelassene Anklage ist demgemäß von (sei es auch erheblich verminderter) Schuldfähigkeit ausgegangen. Auf die Möglichkeit eines anklage-gemäßen Urteils muss nicht hingewiesen werden, unabhängig davon, ob Ver-9
10
11
12
-
6
-
fahrensbeteiligte -
sei es auch die Staatsanwaltschaft
-
wegen ihrer Bewertung der Beweisaufnahme ein von der Anklage abweichendes Urteil beantragen.
2. Allerdings entsprechen die im Urteil mitgeteilten Ausführungen des Sachverständigen in der Hauptverhandlung nicht dem Ergebnis seines vorbe-reitenden schriftlichen Gutachtens. Dieses kann aber nicht [X.] sein, sondern allein das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten
([X.], Beschluss vom 12. Februar 2008 -
1 [X.]). Für dessen Würdigung kann es jedoch bedeutsam sein, wenn der Sachverständige im Laufe des Verfahrens seine Meinung geändert hat ([X.], Beschluss vom 12. September 2007
-
1 [X.]). Ohne dass damit notwendig jeder denkbare Einzelfall -
dessen Um-stände stets maßgeblich sind
-
erfasst wäre, lassen sich jedenfalls die [X.] Fallgestaltungen unterscheiden:

a) Sind in ihrer Bedeutung klar erkennbare neue Erkenntnisse angefallen
(etwa wenn sich für die Beurteilung seines innerpsychischen Zustands wichtige Angaben des Angeklagten als falsch erwiesen haben [vgl. z.B. [X.], Urteile vom 28. August 2007 -
1 StR
268/07 und 31. Mai 2005 -
1 [X.]]), [X.] eine hierauf beruhende Änderung der Auffassung des Sachverständigen [X.] besonderen Erklärung.
b) Beruhte die Änderung auf für die übrigen Verfahrensbeteiligten weni-ger offenkundigen Erkenntnissen (etwa wenn der Sachverständige wegen Un-terschieden des [X.] in der Hauptverhandlung und bei der [X.] die Glaubwürdigkeit des Zeugen nunmehr anders einschätzt [vgl. z.B. [X.], Urteil vom 5. Dezember 1995 -
1 [X.]]), müssten sich allein daraus -
ebenfalls
-
noch keine Bedenken gegen das in der Hauptverhandlung [X.] Gutachten ergeben. Die für die Änderung maßgeblichen Gesichtspunkte wä-ren aber eingehender als die für jedermann erkennbare Änderung von Erkennt-13
14
15
-
7
-
nissen zu erläutern und sollten zweckmäßigerweise -
zumindest knapp
-
auch in den Urteilsgründen dargelegt werden (vgl. schon [X.]St
8, 113, 116 mwN).
c) In einem -
nach forensischer
Erfahrung allenfalls seltenen
-
Fall, in dem ein Sachverständiger überhaupt keinen (nachvollziehbaren) Grund für die Änderung seiner Auffassung nennen könnte, würde dies allerdings Zweifel an seiner Sachkunde wecken und die Hinzuziehung eines weiteren [X.] nahelegen. Jedenfalls könnten danach die Ausführungen dieses Sach-verständigen allein schwerlich maßgebliche Grundlage richterlicher Überzeu-gungsbildung sein.
3. Daraus folgt für den vorliegenden Fall:
a) Die Entscheidung über Verfahrensrügen, die auf Unterschiede zwi-schen einem vorbereitenden und dem in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachten gestützt sind (vgl. [X.]St aaO), erfordert regelmäßig einen inhaltli-chen Vergleich zwischen den beiden Gutachten. Nur so ist zuverlässig feststell-bar, ob beide Gutachten auf identischer tatsächlicher Grundlage erstattet sind, oder ob sich die Differenzen aus unterschiedlichen tatsächlichen Grundlagen ohne weiteres von selbst erklären. Während sich jedoch die Grundlagen des in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachtens regelmäßig aus den [X.] ergeben, ist dies hinsichtlich einer durch den weiteren Verfahrensablauf überholten Grundlage eines früheren Gutachtens nicht stets notwendig der Fall.

Dementsprechend hat der [X.] in einem solchen Fall regel-mäßig jedenfalls [X.] des ursprünglichen Gutachtens vorzu-tragen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) und kann sich nicht auf die Mitteilung [X.], das ursprüngliche Gutachten sei zu einem anderen Ergebnis ge-kommen.
16
17
18
19
-
8
-
b) So verhält es sich aber hier. Es ist lediglich ein Satz aus dem schriftli-chen Gutachten mitgeteilt ("Damit gehe ich ... von einer Aufhebung der [X.] im Sinne des §
20 StGB aus"), ohne dass Weiteres dargelegt
wird. Dieses Vorbringen genügt aus den genannten Gründen den Anforderun-gen von § 344 Abs.
2 Satz 2 StPO nicht. Daran ändert sich auch nichts durch den Vortrag, "aus Sicht der Verteidigung (sei) keine Abweichung zum schriftli-chen [X.] festzustellen."
Die Feststellung, dass keine wesentliche Ab-weichung vorliegt, kann zwar Ergebnis einer Überprüfung des schriftlichen Gut-achtens einerseits und der Urteilsgründe andererseits durch das Revisionsge-richt sein. Eine entsprechende Bewertung durch den Verteidiger
kann jedoch
den Vortrag konkreter, ohne Bezugnahme auf den Akteninhalt aus sich heraus verständlicher Tatsachen, die zu diesem Ergebnis führen sollen,
nicht ersetzen (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Oktober 2006 -
1
StR 503/06 mwN).

Die genannten [X.] sind daher (auch noch aus diesem Grunde) nicht ordnungsgemäß angebracht.
[X.]

Wahl

Graf

Jäger

[X.]
20
21

Meta

1 StR 389/12

23.08.2012

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 23.08.2012, Az. 1 StR 389/12 (REWIS RS 2012, 3691)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 3691

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 StR 389/12 (Bundesgerichtshof)

Revisionsrügen im Strafverfahren: Auswirkung von Schizophrenie auf die Schuldfähigkeit; Widerspruch zwischen Urteilsinhalt und Verlauf der …


2 StR 124/11 (Bundesgerichtshof)


2 StR 124/11 (Bundesgerichtshof)

Strafverfahren: Sachverständiger als völlig ungeeignetes Beweismittel


4 StR 422/04 (Bundesgerichtshof)


2 StR 367/04 (Bundesgerichtshof)


Referenzen
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.