Bundesfinanzhof, Beschluss vom 24.05.2012, Az. IV B 58/11

4. Senat | REWIS RS 2012, 6104

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Gegenstand

Keine Pflicht des FG zur Beiziehung von Prüferhandakten


Leitsatz

1. NV: Aufklärungsmaßnahmen nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO (hier: Beiziehung einer Prüferhandakte) muss das FG nur dann ergreifen, wenn ein Anlass dazu besteht, der sich aus den beigezogenen Akten, dem Beteiligtenvorbringen oder sonstigen Umständen ergibt.   

2. NV: Nach § 71 Abs. 2 FGO ist die Finanzbehörde verpflichtet, dem FG eine Prüferhandakte vorzulegen, wenn darin ein offensichtlich entscheidungsrelevantes Schriftstück enthalten ist.

Gründe

1

Die Beschwerde ist unbegründet.

2

Die vom Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt --[X.]--) geltend gemachten Verfahrensfehler, auf denen das Urteil des Finanzgerichts ([X.]) i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) beruhen soll, liegen nicht vor.

3

1. Anders als das [X.] meint, hat das [X.] seine Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O nicht dadurch verletzt, dass es die [X.] nicht von sich aus zum Verfahren beigezogen hat.

4

a) Es mag zwar sein, dass die [X.] mit dem Schreiben der Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) vom 27. Oktober 2006 ein Schriftstück enthalten hat, welches dadurch unmittelbare rechtliche Auswirkungen auf den Streitfall hatte, dass durch den klägerischen Antrag auf Verschiebung des [X.] die Rechtsfolgen des § 171 Abs. 4 Satz 1 der Abgabenordnung eingetreten sind. Dies wiederum führt materiell-rechtlich dazu, dass die im angefochtenen [X.]-Urteil enthaltene Feststellung, hinsichtlich der [X.] und 2001 vom 24. Oktober 2007 sei bereits Festsetzungsverjährung eingetreten, falsch ist.

5

b) Allein die materiell-rechtliche Fehlerhaftigkeit des [X.]-Urteils führt jedoch nicht zur Zulassung der Revision. Das [X.] verkennt mit Blick auf den von ihm geltend gemachten Verfahrensfehler den Umfang der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O.

6

aa) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Deshalb hat das Gericht den Sachverhalt unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel bis zur Grenze des Zumutbaren so vollständig wie möglich aufzuklären (Urteil des [X.] --BFH-- vom 29. November 2006 VI R 70/05, [X.] 2007, 732, m.w.N.). Das Gericht trifft allerdings keine Verpflichtung, den Sachverhalt ohne bestimmten Anlass und gleichsam "ins Blaue hinein" zu erforschen ([X.] vom 1. September 2006 VIII B 81/05, [X.] 2006, 2297; vom 22. August 2006 I B 21/06, [X.] 2007, 10). Aufklärungsmaßnahmen muss das Gericht vielmehr nur dann ergreifen, wenn ein Anlass hierzu besteht, der sich aus den beigezogenen Akten, dem Beteiligtenvorbringen oder sonstigen Umständen ergibt ([X.] vom 3. August 2005 I B 9/05, [X.] 2005, 2227; vom 13. September 2007 VI B 100/06, [X.] 2007, 2331).

7

bb) So liegt der Streitfall ganz offensichtlich nicht. Das [X.] gibt selbst an, dass sich der Schriftsatz der Klägerin vom 27. Oktober 2006 nicht in den dem [X.] übersandten Verfahrensakten befunden hat und auch keiner der Beteiligten das Gericht auf die Verjährungsproblematik hingewiesen hat. Es mag zwar sein, dass sich die Beteiligten beide darüber klar gewesen sind, dass das vorgenannte Schreiben ablaufhemmende Wirkung gehabt hat. Damit ist aber noch nichts dazu dargetan, warum sich dem [X.] ohne Hinweis in den Akten oder durch die Beteiligten ein Erfordernis zur weiteren Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen.

8

aaa) Im finanzgerichtlichen Verfahren bilden die Akten bzw. der Akteninhalt eine wesentliche Entscheidungsgrundlage, weshalb die beteiligte Behörde die den Streitfall betreffenden Akten vorzulegen hat (§ 71 Abs. 2 [X.]O). Das bedeutet, dass jedes Aktenstück übersandt werden muss, das für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage erheblich und für die Entscheidung des Rechtsstreits von Bedeutung sein kann (vgl. [X.] vom 18. September 1989 IV B 3/89, [X.] 1990, 378; vom 8. Juli 1994 V B 19/94, [X.] 1995, 604). Zu den nach Maßgabe des § 71 Abs. 2 [X.]O vorzulegenden Akten gehören auch [X.]n (vgl. [X.] vom 25. Juli 1994 X B 333/93, [X.], 491, [X.] 1994, 802, m.w.N.). Nach den vorstehenden Ausführungen wäre das [X.] folglich nach § 71 Abs. 2 [X.]O verpflichtet gewesen, dem [X.] im Streitfall auch die [X.] vorzulegen, weil der darin enthaltene Schriftsatz der Klägerin vom 27. Oktober 2006 offensichtlich [X.] ist.

9

bbb) Wenn das [X.] demgegenüber ausführt, das Erfordernis der Beiziehung der [X.] habe sich dem [X.] schon deshalb aufdrängen müssen, weil bei der Prüfung der Klägerin als Großbetrieb besonders erfahrene Prüfer zum Einsatz gekommen seien, welche erfahrungsgemäß [X.] bei der Terminierung von Prüfungen berücksichtigen würden, so ist dies schon deshalb unerheblich, weil es weder einen solchen Erfahrungssatz gibt noch daraus der Schluss abgeleitet werden könnte, es müsse abseits der dem Gericht vorgelegten Akten im Aktenbestand des [X.] noch ein Schriftstück existieren, welches eine Ablaufhemmung ausgelöst haben könnte. Abgesehen davon, dass es nach den Erfahrungen des Senats auch im Rahmen von Großbetriebsprüfungen gelegentlich zum Eintritt der Festsetzungsverjährung kommt, ist es in keiner Weise nachvollziehbar, warum das [X.] ein offenkundig verjährungsrelevantes Schriftstück statt in der Betriebsprüfungsakte in der Handakte aufbewahrt hat. Da dies offenbar auf einem bis zur mündlichen Verhandlung nicht erkannten Versehen des [X.] beruht, ist auch nicht nachvollziehbar, warum das [X.], welches naturgemäß den Aktenbestand des [X.] nicht kennt, hätte erkennen oder auch nur erahnen müssen, dass ein streitrelevantes Schriftstück fehlen könnte.

2. Das [X.] hat auch den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 [X.]O) nicht dadurch verletzt, dass es zu Unrecht auf einen Hinweis auf die Problematik der Festsetzungsverjährung verzichtet und dadurch eine Überraschungsentscheidung gefällt hätte.

a) Von einer Überraschungsentscheidung ist auszugehen, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis zum Ergehen der Entscheidung nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 24. April 1990 VIII R 170/83, [X.], 256, [X.] 1990, 539; [X.] vom 16. November 2009 V B 37/09, [X.] 2010, 450). Eine solche Überraschungsentscheidung verletzt den Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör (Urteil des [X.] vom 8. Juli 1997  1 BvR 1934/93, Neue Juristische Wochenschrift 1997, 2305), weshalb das [X.], wenn es sein Urteil auf einen Gesichtspunkt stützen will, den ein Beteiligter erkennbar übersehen oder für unwesentlich gehalten hat, diesen nach § 139 Abs. 2 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 [X.]O zuvor auf den Gesichtspunkt hinweisen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme geben muss ([X.] vom 2. Februar 2004 VIII B 59/03, juris).

b) Eine Überraschungsentscheidung liegt danach nicht vor, wenn das [X.] vor seiner Entscheidung auf seine neue Rechtsauffassung hinweist ([X.] vom 20. Februar 2003 IX B 58/02, [X.] 2003, 810). Deshalb entspricht es auch allgemeiner Auffassung, dass ein [X.] eine Überraschungsentscheidung bereits dadurch vermeiden kann, dass es auf bis dahin nicht erörterte tatsächliche oder rechtliche Aspekte schriftlich, in einem Erörterungstermin oder in der mündlichen Verhandlung hinweist (vgl. Lange in [X.]/[X.]/[X.], § 119 [X.]O Rz 213). So liegt auch der Streitfall, denn das [X.] hat ausweislich des Protokolls zur mündlichen Verhandlung vom 14. März 2011 explizit darauf hingewiesen, dass hinsichtlich des Änderungsbescheides 2000 "möglicherweise Festsetzungsverjährung eingetreten sei".

3. Der Beschluss ergeht im Übrigen nach § 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O ohne weitere Begründung, insbesondere ohne Wiedergabe des Tatbestandes.

Meta

IV B 58/11

24.05.2012

Bundesfinanzhof 4. Senat

Beschluss

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 14. März 2011, Az: 13 K 2545/09, Urteil

§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 71 Abs 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 24.05.2012, Az. IV B 58/11 (REWIS RS 2012, 6104)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6104

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