Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.02.2023, Az. 4 StR 477/22

4. Strafsenat | REWIS RS 2023, 1610

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Anforderungen an Beweiswürdigung in sog. „Aussage gegen Aussage“-Fällen


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 23. August 2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.

2. In diesem Umfang wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten aus einem Strafbefehl zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Im Übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen und das Verfahren wegen einer weiteren Tat gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt. Gegen die Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

2

Nach den Feststellungen umfasste der Angeklagte an einem nicht mehr feststellbaren Tag Anfang 2019 in der Küche der gemeinsamen Wohnung den Hals seiner Lebensgefährtin, der Zeugin [X.], und drückte für einige Sekunden fest zu, wodurch ihre Atmung und ihr Wohlbefinden nicht unerheblich beeinträchtigt wurde, was der Angeklagte zumindest billigend in Kauf nahm (Tat 2).

3

Soweit dem Angeklagten darüber hinaus im Tatzeitraum von 2014 bis Mai 2020 Taten der Vergewaltigung in drei Fällen (Taten 4-6), in einem Fall [X.] begangen mit Beleidigung (Tat 4), in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung (Tat 6), und der vorsätzlichen Körperverletzung (Tat 1) zum Nachteil der Zeugin [X.] vorgeworfen wurden, hat das [X.] ihn aus tatsächlichen Gründen, hinsichtlich einer Bedrohung (Tat 3) aus rechtlichen Gründen, freigesprochen. Hinsichtlich der [X.] angeklagten Beleidigung (Tat 4) hat es zudem das Verfahren wegen Fehlens eines Strafantrags gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt.

II.

4

Die Revision des Angeklagten hat Erfolg. Die durch das [X.] vorgenommene Beweiswürdigung hält – auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen [X.] – sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Erwägungen des [X.]s weisen einen durchgreifenden Erörterungsmangel auf.

5

In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. [X.], Beschluss vom 2. November 2022 – 6 [X.], juris Rn. 6; Beschluss vom 2. Februar 2022 – 4 [X.], juris Rn. 7 sowie Urteil vom 13. Oktober 2020 – 1 [X.], NStZ-RR 2021, 24; Urteil vom 26. August 2020 – 6 StR 100/20, NStZ-RR 2020, 355; Urteil vom 25. April 2018 – 2 [X.], [X.], 42).

6

Diesen Anforderungen wird die Würdigung der Angaben der Zeugin [X.]nicht gerecht.

7

Soweit das [X.] den Angeklagten hinsichtlich der Taten 1, 4 und 5 freigesprochen hat, hat es dies insoweit im Wesentlichen mit einem aufgrund von [X.] zur Überzeugungsbildung nicht (mehr) ausreichend konkreten Aussagegehalt der Angaben der Zeugin in der Hauptverhandlung am 23. August 2022 begründet. Die Zeugin habe insoweit die Sachverhalte aus dem Tatzeitraum zwischen 2014 und Mai 2020 – im Unterschied zur Tat 2, die sie detailreich und zeitlich orientiert habe schildern können – nicht mehr näher beschreiben und zeitlich einordnen können. Hinsichtlich des Vorwurfs einer analen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin (Tat 6) hat die [X.] dagegen den Angeklagten freigesprochen, da sie „gravierende Unterschiede“ bei der Schilderung der Vornahme der sexuellen Handlungen zwischen der polizeilichen Aussage der Zeugin und ihren Angaben in der Hauptverhandlung festgestellt hat. Diese Diskrepanzen hat das [X.] „gerade in Anbetracht der eigenen Beteuerung der Zeugin, dass es sich beim [X.] um ein singuläres, sie besonders belastendes Ereignis gehandelt habe“, als „unverständlich“ und „nicht erlebnisbasiert“ bewertet. Zudem hat die [X.] ausgeführt, die Bekundung der Zeugin, dass sie nach dem [X.] geblutet und deshalb einen Arzt aufgesucht habe, sei – angesichts des Laufzettels des betreffenden Arztes, in dem kein entsprechender Vermerk zu finden sei – „lebensfern“, „nicht glaubhaft“ und angesichts der Ausführlichkeit der ärztlichen Notizen in diesem Laufzettel im Übrigen „völlig abwegig“.

8

Mit dieser Bewertung der Angaben der Zeugin hätte sich das [X.] bei seiner Überzeugungsbildung zu der vorsätzlichen Körperverletzung (Tat 2) im Rahmen der hierfür erforderlichen Gesamtschau aller Umstände auseinandersetzen müssen. Denn die festgestellte Inkonstanz der Angaben der Zeugin kann einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben insgesamt darstellen, wenn sie nicht mehr mit natürlichen Gedächtnisunsicherheiten erklärt werden kann (vgl. [X.], Beschluss vom 2. November 2022 – 6 [X.], juris Rn. 7 f.; Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 [X.], [X.]St 45, 164, 172).

9

Der Senat kann nicht ausschließen, dass auf der rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung die Verurteilung des Angeklagten beruht. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

Quentin     

  

Bartel     

  

Rommel

  

Scheuß     

  

Momsen-Pflanz     

  

Meta

4 StR 477/22

28.02.2023

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Essen, 23. August 2022, Az: 30 KLs 23/22

§ 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.02.2023, Az. 4 StR 477/22 (REWIS RS 2023, 1610)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 1610

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

4 StR 29/23 (Bundesgerichtshof)

Verurteilung wegen Vergewaltigung bzw. Geiselnahme unter Verwendung einer Schusswaffe; notwendige tatrichterliche Darlegung zu einer Schusswaffe


4 StR 413/22 (Bundesgerichtshof)

Beweiswürdigung im Strafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung: Aussage eines Zeugen vom Hörensagen bei nichtgeständigem Angeklagten


2 StR 284/23 (Bundesgerichtshof)

Anforderungen an Ablehnung von Beweisantrag über Negativtatsache


4 StR 169/22 (Bundesgerichtshof)

Sexueller Kindesmissbrauch: Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung bei Zeugen vom Hörensagen und in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation


5 StR 520/17 (Bundesgerichtshof)

Strafurteil: Notwendige Begründung einer Einschätzung einer Zeugenaussage als lediglich teilweise glaubhaft


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.