Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.05.2011, Az. 4 StR 650/10

4. Strafsenat | REWIS RS 2011, 6229

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Gegenstand

Sicherungsverwahrung: Anordnungsvoraussetzungen bis zur gesetzlichen Neuregelung


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 6. Mai 2010 im [X.] mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und ausgesprochen, dass "als Härteausgleich für eine nicht mehr mögliche Gesamtstrafenbildung … von der [X.] im Sinne von § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB acht Jahre Freiheitsstrafe als vollstreckt" gelten; außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten hat der Senat mit Beschluss vom 20. Januar 2011 nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen, soweit sich das Rechtsmittel gegen den Schuld- und Strafausspruch richtet. Die Entscheidung über die Maßregel hat der Senat im Blick auf das vom 5. Strafsenat des [X.] mit Beschluss vom 9. November 2010 (5 [X.] u.a., NJW 2011, 240; zum Abdruck in [X.]St bestimmt) eingeleitete Anfrageverfahren zurückgestellt.

2

1. Die Sache ist nunmehr entscheidungsreif, nachdem der 5. Strafsenat des [X.] in den den Anfrageverfahren zugrunde liegenden Strafsachen mit Beschluss vom 23. Mai 2011 zur Sache entschieden hat, ohne zuvor den Großen Senat für Strafsachen anzurufen.

3

2. Der [X.] begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Schwurgerichtskammer stützt die Anordnung der Sicherungsverwahrung auf § 66 Abs. 1 StGB a.F., dessen formelle Voraussetzungen in Nummer 1 sie für erfüllt hält, weil der Angeklagte durch Urteile vom 9. Februar 1988 und vom 2. Februar 1995 jeweils zu Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr verurteilt worden sei. Dabei übersieht sie jedoch, dass der Angeklagte die nunmehr abgeurteilte Tat vor der Verurteilung vom 2. Februar 1995 wegen Totschlags begangen hat. Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. darf aber nur dann angeordnet werden, wenn die [X.] nach Rechtskraft der zweiten Vorverurteilung begangen worden ist ([X.]/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 66 Rn. 4). Vortaten und Vorverurteilungen müssen in der Reihenfolge "Tat - Urteil - Tat - Urteil" begangen worden sein ([X.], Beschlüsse vom 4. September 2008 - 4 [X.] und vom 17. Dezember 2008 - 2 [X.], [X.], 137). Der Täter muss, um die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB a.F. zu erfüllen, die Warnfunktion eines jeweils rechtskräftigen Strafurteils zweimal missachtet haben ([X.], Beschlüsse vom 24. Juli 1987 – 2 [X.], [X.]St 35, 6, 12, und vom 25. März 1992 – 2 StR 527/91, [X.]St 38, 258, 259). Daran fehlt es hier, weshalb die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB a.F. keinen Bestand haben kann.

4

Auf § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 StGB a.F. stützt die [X.] die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht. Ob die dort geforderten Voraussetzungen gegeben sind, bedarf keiner Entscheidung, da das Revisionsgericht die dem Tatrichter nach diesen Vorschriften obliegende Ermessensentscheidung nicht ersetzen kann ([X.], Beschluss vom 17. Dezember 2008 - 2 [X.], [X.], 137).

5

3. Für die erneute Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:

6

a) Das nunmehr zur Entscheidung berufene Schwurgericht wird zu beachten haben, dass § 66 StGB vom [X.] mit Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) für mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar erklärt worden ist. Daher ist § 66 StGB bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nur nach Maßgabe der vom [X.] erlassenen Weitergeltungsanordnung anzuwenden. Die weitere Anwendung des § 66 StGB in der Übergangszeit hat nach Maßgabe der Nummer [X.] 1. in Verbindung mit Nummer II. 1. b) des Tenors des angeführten Urteils zu erfolgen; für diesen Fall fordert das [X.] gemäß C. [X.] 2. a) der Gründe (Rn. 172) eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist.

7

Nach diesem Maßstab wird das neu zur Entscheidung berufene Schwurgericht die Voraussetzungen des § 66 StGB zu prüfen und - soweit es eine Anordnung nach § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 StGB erwägt - auch das dort dem Tatrichter eingeräumte Ermessen auszuüben haben. Zwar geht es in dem hier zu entscheidenden Fall um eine rückwirkende Anwendung der Vorschriften  über die (primäre) Sicherungsverwahrung. Denn zur [X.] der [X.] in der Nacht zum 31. Oktober 1993 konnte gemäß Art. 1a [X.] in der Fassung des [X.] zu dem [X.] zwischen der [X.] und der [X.] über die Herstellung der Einheit [X.] - Einigungsvertragsgesetz - und der Vereinbarung vom 18. September 1990 ([X.] [X.] 885, 955) keine Sicherungsverwahrung angeordnet werden; dies hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 20. Januar 2011 ausgeführt, mit dem er die Entscheidung über die [X.] in dieser Sache zunächst zurückgestellt hat. Die damalige Rechtslage hat das [X.] in Abschnitt [X.] 10. (Rn. 17) seines Urteils vom 4. Mai 2011 angesprochen (vgl. auch BT-Drucks. 15/2887 [X.]). Die unter Nummer [X.] 2. a) dieses Urteils getroffene Weitergeltungsanordnung, die engere Voraussetzungen formuliert, hat das [X.] jedoch ausschließlich auf die im Tenor (Nr. [X.] 2. i.V.m. Nr. II. 2.) genannten Altfälle des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB sowie sämtliche Fälle der §§ 66b Abs. 2 StGB, 7 Abs. 2 JGG beschränkt. Hier geht es indes um die Anordnung primärer Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB; diese ist [X.] in Nummer [X.] 1. in Verbindung mit Nummer II. 1. b) des Tenors geregelt. Einer Übertragung der engeren Anwendungsvoraussetzungen auf die rückwirkende Anordnung primärer Sicherungsverwahrung in der Übergangszeit stehen der eindeutige Wortlaut und die Systematik der Weitergeltungsanordnung sowie die hierauf bezogenen Begründungselemente unter C. [X.] 2. a) und b) der Gründe (Rn. 171-173) entgegen.

8

b) Das [X.] hat mit Recht an die Vorverurteilung vom 9. Februar 1988 angeknüpft. Insoweit hatte das Kreisgericht [X.] den Angeklagten wegen Widerstandes gegen staatliche Maßnahmen sowie Verkehrsgefährdung durch Trunkenheit in Anwendung der strafverschärfenden Bestimmung des Rückfalls nach dem [X.] zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt. Zwar handelt es sich bei der ausgesprochenen Sanktion um eine Hauptstrafe nach § 64 [X.]. Wegen der Rückfallvorschrift des § 44 [X.] ist von einer hypothetischen Einzelstrafe von jeweils mindestens einem Jahr auszugehen (zur Gesamtwürdigung nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. in einem solchen Fall vgl. BT-Drucks. 13/116 S. 5). [X.] ist nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht eingetreten. Hinsichtlich dieser Vorverurteilung ist § 66 Abs. 1 StGB in der Fassung des [X.] und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 ([X.] I S. 2300) nicht das mildere Recht (Art. 316e Abs. 2 [X.]). Nach [X.] Strafrecht (§ 66 Abs. 4 Satz 5 StGB n.F.; vgl. auch [X.], Urteil vom 19. Juni 2008  – 4 [X.], [X.], 518, 519) wäre die damals abgeurteilte Tat des Angeklagten nach § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 in Verbindung mit § 315 Abs. 3 Nr. 1b StGB zu beurteilen gewesen. Damit liegt im Sinne der neu gefassten formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung eine vorsätzliche Straftat aus dem 28. Abschnitt des Strafgesetzbuches vor, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist.

9

c) Ob die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB in weiteren Vorverurteilungen des Angeklagten gefunden werden können, vermag der Senat auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen nicht abschließend zu beurteilen. Im Verneinungsfalle werden die [X.] in § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB – unter Berücksichtigung des Art. 316e Abs. 2 [X.] – in den Blick zu nehmen sein.

Ernemann     

Cierniak     

Ri[X.] Dr. Franke ist erkrankt
und dahergehindert zu
unterschreiben.

Ernemann

Bender     

Quentin     

Meta

4 StR 650/10

26.05.2011

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Magdeburg, 6. Mai 2010, Az: 22 Ks 162 Js 38744/93 (7/09), Urteil

§ 66 StGB, Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 104 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.05.2011, Az. 4 StR 650/10 (REWIS RS 2011, 6229)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6229

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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