Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.07.2018, Az. 1 StR 287/18

1. Strafsenat | REWIS RS 2018, 5889

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose und deren Darlegung in den Urteilsgründen


Tenor

Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des [X.] ([X.]) vom 6. März 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Beschuldigten hat Erfolg.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s beging die Beschuldigte, die spätestens seit dem [X.] unter einer paranoiden Schizophrenie leidet, im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB), nicht ausschließbar der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB), eine Körperverletzung und eine versuchte gefährliche Körperverletzung. Die Körperverletzung lag darin, dass die Beschuldigte am 10. März 2017 der 14-jährigen Geschädigten [X.]mit dem Fuß gegen deren Bein trat und am linken Knöchel traf, so dass die Geschädigte Schmerzen erlitt. Die versuchte gefährliche Körperverletzung bestand darin, dass die Beschuldigte am 11. März 2017 mit einer spitz zulaufenden 10 cm langen Schere in der Hand mehrfach Stichbewegungen in Richtung des Unterleibs des Zeugen [X.]ausführte. Diesem Geschehen vorausgegangen war, dass der Zeuge H.      mehrfach eine Papiertüte, die die Beschuldigte hatte zu Boden fallen lassen, wieder aufgehoben und der Beschuldigten zurückgegeben und schließlich in einen von ihr mitgeführten Korb gelegt hatte, was diese als Provokation empfand.

3

2. Die Erwägungen, mit denen das [X.] eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung weiterer erheblicher Straftaten durch die Beschuldigte angenommen hat, halten revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand.

4

a) Zwar hat das [X.] - im rechtlichen Ausgangspunkt nicht zu beanstanden - angenommen, eine Unterbringung gemäß § 63 StGB dürfe nur erfolgen, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird, also solche, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Urteil vom 21. Februar 2017 - 1 [X.], juris Rn. 9 mwN). Die zur Beurteilung dieser Voraussetzung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen [X.](en) zu entwickeln ([X.], Beschlüsse vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12, [X.], 141, 142; vom 1. Oktober 2013 - 3 [X.], [X.], 216 und vom 2. September 2015 - 2 StR 239/15, juris Rn. 9; Urteil vom 21. Februar 2017 - 1 [X.], juris Rn. 10) und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Taten von dem Beschuldigten infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt ([X.], Beschluss vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12, [X.], 31, 32; [X.], Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, [X.], 306; Urteil vom 21. Februar 2017 - 1 [X.], juris Rn. 10). Dabei hat der Tatrichter die für die Entscheidung über die Unterbringung maßgeblichen Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzulegen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, [X.], 76 und vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, [X.], 74, 75, jeweils mwN).

5

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Das [X.] hat sachverständig beraten im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose - neben anderen Gesichtspunkten wie eine erhebliche Chronifizierung der bestehenden paranoiden Schizophrenie mit zunehmendem Residuum, fehlende Krankheitseinsicht und mangelhafte Compliance - darauf abgestellt, dass eine Progredienz der von der Beschuldigten begangenen Straftaten zu beobachten sei ([X.] f.). Diese Progredienz hat die [X.] vorrangig in den verfahrensgegenständlichen [X.]en gesehen, aber auch in Bezug auf die „Vortaten“ angenommen. Das [X.] hat hinsichtlich der „Vortaten“ festgestellt, dass - ausweislich des [X.] - in den Jahren 2001 bis 2016 sieben Strafverfahren gegen die Beschuldigte unter anderem wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung wegen Schuldunfähigkeit eingestellt wurden ([X.], 22); weitere Feststellungen hat die [X.] insoweit nicht getroffen.

6

Dies genügt den [X.] nicht. Die von dem [X.] angenommene Progredienz ist zum einen bezogen auf die [X.]en nicht nachvollziehbar, da zu berücksichtigen ist, dass beide Taten an zwei aufeinander folgenden Tagen begangen wurden und damit kaum von einem relevanten Verlaufszeitraum gesprochen werden kann. Überdies ist hinsichtlich der versuchten gefährlichen Körperverletzung das Ausmaß der Gefährdung des Zeugen H.     nicht festgestellt, was für die Qualifizierung als progrediente Entwicklung ebenfalls von Bedeutung wäre. Zum anderen kann hinsichtlich der „Vortaten“ mangels näherer Darlegungen der [X.] zu deren Gegenstand und Hintergründen keine Steigerung im Unrechtsgehalt angenommen werden. Nicht näher begründet und nachvollziehbar ist überdies die Berücksichtigung eines „niedrigen sozioökonomischen Status“ der Beschuldigten bei der Gefährlichkeitsprognose ([X.] 22).

7

3. Auf dem aufgezeigten Darlegungsmangel beruht das angefochtene Urteil. Der Senat hebt die getroffenen Feststellungen insgesamt auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatgericht zu sämtlichen prognoserelevanten Aspekten umfassende und in sich widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

Jäger     

        

Bellay     

        

Fischer

        

Bär     

        

Hohoff     

        

Meta

1 StR 287/18

17.07.2018

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Kempten, 6. März 2018, Az: 340 Js 6282/17 - 1 KLs

§ 63 StGB, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.07.2018, Az. 1 StR 287/18 (REWIS RS 2018, 5889)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 5889

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

5 StR 390/20 (Bundesgerichtshof)

Sicherungsverfahren über die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Bedeutung früher abgeurteilter Taten bei …


2 StR 54/20 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose


1 StR 308/18 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Gefährlichkeitsprognose bei ausschließlich während des Strafvollzuges begangener Anlasstaten


5 StR 318/20 (Bundesgerichtshof)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Sicherungsverfahren: Anforderungen an die Begründung der Gefährlichkeitsprognose; …


4 StR 632/19 (Bundesgerichtshof)

Anforderungen an die Urteilsgründe bei Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Räuberische Erpressung als …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

4 StR 79/16

2 BvR 298/12

1 StR 618/16

3 StR 311/13

4 StR 520/12

1 StR 594/16

4 StR 78/16

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.