Bundesgerichtshof, Urteil vom 04.12.2023, Az. VIa ZR 1285/22

6a. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 9248

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird der Beschluss des 4. Zivilsenats des [X.] vom 2. August 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Berufungsantrag zu I in Höhe von 22.585,42 € nebst Zinsen und der Berufungsantrag zu [X.] zurückgewiesen worden sind.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Er erwarb am 16. Januar 2016 für 37.750 € ein von der Beklagten hergestelltes, gebrauchtes Kraftfahrzeug [X.], das mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor der [X.] (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet ist.

3

Der Kläger hat seine Klage auf die Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen und insbesondere eines Thermofensters gestützt. Das [X.] hat die auf Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises abzüglich des Werts der gezogenen Nutzungen nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs, Zahlung von [X.], Feststellung des Annahmeverzugs und Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des [X.] ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt er den Berufungsantrag zu I wegen der Hauptforderung nur teilweise, nämlich in Höhe von 22.585,42 € nebst Zinsen, sowie den Berufungsantrag zu [X.] auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten weiter. Die [X.] auf Zahlung von [X.] und zu [X.] auf Feststellung des Annahmeverzugs hat er fallengelassen.

Entscheidungsgründe

4

Die Revision des [X.] hat Erfolg.

I.

5

Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen - soweit für die Revision von Interesse - wie folgt begründet:

6

Der Kläger habe ein [X.] vorsätzliches Verhalten der Beklagten im Sinne der §§ 826, 31 BGB zu seinem Nachteil nicht hinreichend dargetan.

7

Soweit er sich auf § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV berufe, stehe dem schon entgegen, dass das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, nicht vom Schutzzweck der genannten Bestimmungen umfasst sei. Jedenfalls könne der Beklagten nach dem Vortrag des [X.] schon Fahrlässigkeit nicht vorgeworfen werden, wenn sie - wie hier - die temperaturbasierte Abgassteuerung in dem behördlicherseits zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs verlangten Umfang im [X.] angemeldet habe und mit einer Bewertung der konkreten Konfiguration als rechtswidrig nach der damals vorherrschenden Bewertung nicht habe rechnen müssen. Sie habe sich darauf verlassen dürfen, dass die temperaturbasierte Abgassteuerung, die zudem damals wie heute dem Stand der Technik entsprochen habe und entspreche, rechtlich nicht zu beanstanden sei. Die Beklagte habe insofern nicht die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer [X.] gelassen. Der Kläger verkenne, dass nicht jeder vorsatzausschließende Rechtsirrtum einen [X.] begründe, sondern dass das Maß der gebotenen Sorgfalt nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen sei. Zu diesen Einzelfallumständen gehörten auch die jahrelang hingenommenen Verwaltungsabläufe im [X.]. Im Rahmen des § 276 Abs. 2 BGB und für das Maß der gebotenen Sorgfalt komme es darauf an, was von einem durchschnittlichen Mitglied des betroffenen [X.] erwartet werden könne. Dabei könne die "gelebte Praxis" gewisse Anhaltspunkte geben. Zugleich könne sich der Verpflichtete nur dann auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen, wenn er die höchstrichterliche Rechtsprechung beachtet habe und nicht damit habe rechnen müssen, dass sein Handeln grundlegend anders bewertet werden würde. Angesichts der Bewertung durch das [X.] ([X.]) und des unterbliebenen Rückrufs sowie mit Rücksicht auf den Umstand, dass [X.] nicht drohten, sei nicht ersichtlich, dass die nicht vorsätzlich handelnde Beklagte Sorgfaltspflichten verletzt habe.

8

Dass dem Kläger aufgrund einer Pflichtverletzung kausal ein Schaden entstanden sei, sei nicht dargelegt. Darüber hinaus stelle sich das Verlangen des [X.] nach Schadensersatz unter Berufung auf unionsrechtliche Bestimmungen unter Berücksichtigung von [X.] und Glauben gemäß § 242 BGB als rechtsmissbräuchlich dar, weil der Kläger das Fahrzeug ungeachtet der behaupteten Rechtsverstöße für seine Zwecke nutze.

II.

9

Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.

1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.

2. Nicht frei von [X.] sind dagegen die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht einen Schadensersatzanspruch des [X.] aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV verneint hat.

a) Wie der Senat nach Erlass des Zurückweisungsbeschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des [X.] gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der [X.] zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur [X.] bestimmt in [X.]Z).

Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des [X.] auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen [X.]s zustehen kann (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso [X.], Urteile vom 20. Juli 2023 - [X.], [X.], 1839 Rn. 21 ff.; - [X.], juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - [X.], juris Rn. 20).

b) Von [X.] beeinflusst sind überdies die Erwägungen des Berufungsgerichts dazu, die Beklagte habe jedenfalls nicht schuldhaft gegen ein Schutzgesetz verstoßen.

Im Falle eines Verstoßes gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV wird das Verschulden des Fahrzeugherstellers vermutet ([X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], NJW 2023, 2259 Rn. 59 bis 61). Der Fahrzeughersteller kann sich zwar durch einen von ihm [X.] und zu beweisenden unvermeidbaren Verbotsirrtum entlasten. Das setzt indessen zunächst die Darlegung und - erforderlichenfalls - den Nachweis eines entsprechenden [X.] seitens des Fahrzeugherstellers nach Maßgabe der höchstrichterlich geklärten Grundsätze voraus ([X.], Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 63 ff.; Urteil vom 25. September 2023 - [X.], [X.], 2064 Rn. 13 ff.).

Danach hätte das Berufungsgericht sich nicht auf die Feststellung beschränken dürfen, mit Rücksicht auf die Bewertung des Sachverhalts durch das [X.] und die unterbliebenen behördlichen Maßnahmen sei nicht ersichtlich, dass die Beklagte Sorgfaltspflichten verletzt habe. Vielmehr hätte es von der [X.] ausgehen und prüfen müssen, ob die Beklagte einen Rechtsirrtum in dem vorgenannten Sinne hinreichend dargetan und - erforderlichenfalls - unter Beweis gestellt hatte. Allein gestützt auf Feststellungen zu einer allgemeinen Praxis der nationalen Genehmigungsbehörde im Zusammenhang mit [X.] durfte das Berufungsgericht eine Fahrlässigkeit nicht verneinen, sondern hätte berücksichtigen müssen, dass die Auslegung der Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 715/2007 nicht in allen Einzelheiten durch den Gerichtshof der [X.] geklärt war. Eine Entlastung ohne Rücksicht hierauf nur aufgrund des Umstands, dass der Verwendung von [X.] ein allgemeiner Industriestandard zugrunde lag und dass jedes Dieselfahrzeug mit einer Abgasrückführung auch über ein [X.] verfügte, kommt dagegen nicht in Betracht ([X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], NJW 2023, 2259 Rn. 69 f.; Urteil vom 25. September 2023 - [X.], [X.], 2064 Rn. 14).

c) Die Erwägungen des Berufungsgerichts zur fehlenden Erwerbskausalität und einem dadurch veranlassten Schaden können aus den im Urteil des Senats vom 26. Juni 2023 ([X.], NJW 2023, 2259 Rn. 55) genannten Gründen keinen Bestand haben.

d) Die Ausführungen des Berufungsgerichts zu einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des [X.] begegnen ebenfalls durchgreifenden Bedenken.

Eine Rechtsausübung kann zwar rechtsmissbräuchlich sein und gegen [X.] und Glauben verstoßen, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen ([X.], Urteil vom 12. Juli 2016 - [X.], [X.]Z 211, 105 Rn. 20; Urteil vom 17. Oktober 2023 - [X.], [X.], 2137 Rn. 44).

Der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs, der dieses Fahrzeug weiter nutzt, gibt dadurch indessen nicht sachlich unvereinbar zu verstehen, dass er das Fahrzeug für rechtskonform hält und auf damit zusammenhängende Ansprüche verzichtet. Umgekehrt liegt in seinem Schadensersatzbegehren nicht das Zugeständnis, dass das Fahrzeug wegen der Rechtsverstöße aktuell nicht im Straßenverkehr nutzbar sei. Im Ergebnis nichts anderes gilt für die Erwägung des Berufungsgerichts, der Kläger könne nicht einerseits behaupten, die [X.]-Typgenehmigung sei erloschen, andererseits aber das Fahrzeug unverändert nutzen. Der Fahrzeugnutzung liegt die [X.]-Typgenehmigung als Voraussetzung der Zulassung zugrunde, § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 [X.]. Der fortgesetzten Fahrzeugnutzung kann deshalb lediglich entnommen werden, dass das Fahrzeug unverändert zugelassen ist und dass auch nach der Auffassung des [X.] bisher keine der Nutzung entgegenstehende Maßnahme der Zulassungsbehörde nach § 5 [X.] getroffen wurde.

III.

Der Zurückweisungsbeschluss ist daher im tenorierten Umfang aufzuheben, § 562 ZPO, weil er sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Dass ein [X.] durch vom Kläger gezogene Vorteile vollständig aufgezehrt sei, ergeben die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht.

Die Sache ist daher im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen [X.] darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 ([X.], NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV zu treffen haben.

[X.]     

      

Möhring     

      

Götz   

      

Rensen     

      

Vogt-Beheim     

      

Meta

VIa ZR 1285/22

04.12.2023

Bundesgerichtshof 6a. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend KG Berlin, 2. August 2022, Az: 4 U 51/22

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 04.12.2023, Az. VIa ZR 1285/22 (REWIS RS 2023, 9248)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9248

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VIa ZR 14/22 (Bundesgerichtshof)

Deliktische Haftung des Fahrzeugherstellers in einem sog. Dieselfall: Umfang des Anspruchs auf Ersatz des Differenzschadens


VIa ZR 1/23 (Bundesgerichtshof)

Schadensersatzanspruch des Käufers eines vom sog. Dieselskandal betroffenen Neufahrzeugs: Voraussetzungen einer Entlastung des Kraftfahrzeugherstellers bei …


VIa ZR 1083/22 (Bundesgerichtshof)

Antrag auf Feststellung einer Schadensersatzpflicht des Fahrzeugherstellers in Dieselabgasfällen


VIa ZR 717/22 (Bundesgerichtshof)


VIa ZR 1533/22 (Bundesgerichtshof)

Anspruch auf Ersatz des Finanzierungsschadens im Rahmen des Schadensersatzes in Dieselabgasfällen


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

XI ZR 72/22

XI ZR 501/15

VII ZR 412/21

III ZR 303/20

III ZR 267/20

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.