Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.07.2021, Az. 1 StR 157/21

1. Strafsenat | REWIS RS 2021, 4063

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Gegenstand

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Verfahrensübernahme durch schlüssiges Verhalten des zuständigen Gerichts


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 18. Januar 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten freigesprochen und dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

2

1. Unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung dürfte das [X.] zwar als sachlich unzuständiges Gericht entschieden haben, da der Vorsitzende der [X.] lediglich in einem Vermerk die Übernahme des Verfahrens niedergelegt hat, nachdem der Strafrichter das Verfahren außerhalb der Hauptverhandlung zuständigkeitshalber an das [X.] abgegeben hatte. Dementsprechend hat auch der [X.] die Aufhebung des landgerichtlichen Urteils nach § 349 Abs. 4 StPO wegen eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrenshindernisses beantragt. Der [X.] bezweifelt jedoch angesichts des vom [X.] erlassenen [X.] nach § 126a StPO das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses.

3

a) Die Übernahme des Verfahrens nach Aussetzung der Hauptverhandlung richtet sich nach § 225a StPO. Eine bindende Verweisung des Verfahrens an das [X.] gemäß § 270 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO, wie es vorliegend das Amtsgericht mit Beschluss vom 25. Mai 2020 entschieden hatte, ist in dieser Verfahrenssituation somit nicht möglich (vgl. [X.], Beschlüsse vom 17. Februar 2021 – 4 [X.]/20 Rn. 12; vom 28. Juni 2011 – 3 [X.] Rn. 2 und vom 14. Juli 1998 – 4 [X.] Rn. 3). Für eine wirksame Verfahrensübernahme durch das [X.] bedarf es daher eines Übernahmebeschlusses gemäß § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO.

4

b) Die Verfügung des Vorsitzenden vom 10. Juni 2020, in der er die Übernahme des Verfahrens durch die [X.] festgehalten hat, genügt hierfür nicht (vgl. [X.], Beschluss vom 14. Juli 2016 – 2 [X.] Rn. 6). Der [X.] neigt jedoch dazu, in Fällen, in denen – wie hier – das [X.] nach Abgabe eines Verfahrens durch das Amtsgericht einen [X.] erlässt, eine konkludente Übernahmeentscheidung zu bejahen (anders noch [X.], Beschluss vom 14. Juli 1998 – 4 [X.] Rn. 4). Das Argument, das [X.] habe nicht in dem Bewusstsein gehandelt, über die Übernahme entscheiden zu können (vgl. [X.], Beschlüsse vom 17. Februar 2021 – 4 [X.]/20 Rn. 14; vom 21. Oktober 2020 – 4 StR 290/20 Rn. 7 und vom 28. Juni 2011 – 3 [X.] Rn. 2), trägt in diesem Fall nicht. Denn mit der Entscheidung über die vorläufige Unterbringung des Angeklagten nach § 126a StPO nimmt das [X.] gleichzeitig die Voraussetzungen für seine sachliche Zuständigkeit an (§ 74 Abs. 1 Satz 2 GVG). In einem solchen Fall, in dem dem empfangenden Gericht die exklusive Zuständigkeit für das Verfahren gesetzlich zugewiesen ist, liegt in einer allein in der konkreten Verfahrensart vorgesehenen Entscheidung gleichzeitig eine Manifestation der sachlichen Zuständigkeit.

5

2. Letztlich bedarf dies hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung, denn unabhängig vom Vorliegen eines Verfahrenshindernisses wäre das Urteil ohnehin auf die Sachrüge des Angeklagten mit den Feststellungen aufzuheben gewesen.

6

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie setzt zunächst voraus, dass zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der [X.] aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig (§ 20 StGB) oder vermindert schuldfähig (§ 21 StGB) war und die Tatbegehung hierauf beruht. Hierfür muss vom Tatrichter im Einzelnen dargelegt werden, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen [X.] auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die [X.] auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 10. November 2015 – 1 [X.] Rn. 5 mwN). Diese Darlegungsanforderungen hat der Tatrichter auch dann zu beachten, wenn der Angeklagte – wie im vorliegenden Fall – eine Exploration abgelehnt hat ([X.], Beschluss vom 17. Juni 2014 – 4 [X.] Rn. 7).

7

b) Dem werden die Ausführungen des [X.]s nicht gerecht.

8

aa) Das [X.] war gehalten, zur Begründung der Unterbringung in einer für den [X.] nachvollziehbaren Weise zu erörtern, dass und weshalb zwischen dem Zustand des Angeklagten und den abgeurteilten Taten ein symptomatischer Zusammenhang besteht. Hierauf konnte auch nicht ausnahmsweise verzichtet werden. Anhand des [X.] ist nicht ohne weiteres erkennbar, dass den Handlungen eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie zugrunde lag. Denn der Angeklagte, der nach den Zeugenaussagen zum Tatzeitpunkt alkoholisiert war, wurde erst körperlich übergriffig, nachdem die Geschädigte       S.     angekündigt hatte, die Polizei zu rufen, und ihn aufgefordert hatte, die Anwohnerin – die er nach den Feststellungen mit dem nicht näher feststellbaren Inhalt einer Dose bewarf – in Ruhe zu lassen. Auch der Umstand, dass er gezielt auf die heruntergefallene Brille der Geschädigten trat und sie dabei anlächelte, ließe sich ebenso mit einer normalpsychologischen Reaktion eines Alkoholisierten vereinbaren. Dass der Angeklagte auf die herbeigerufenen Polizeibeamten aggressiv und unruhig wirkte, weil er auf und ab ging und unverständlich vor sich hin redete, begründet den [X.] der Tat nicht hinreichend. Dies gilt insbesondere auch, weil der Angeklagte anschließend mit Schmerzen im Knöchel in ein Krankenhaus verbracht wurde, ohne dass die behandelnden Ärzte dort offenbar einen Anlass für eine psychiatrische Untersuchung des Angeklagten sahen.

9

bb) In den Urteilsgründen des [X.]s bleibt zudem unklar, weshalb die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Begehung der Taten jedenfalls erheblich vermindert, nicht ausschließbar sogar aufgehoben gewesen sein soll. Das [X.] hat bereits versäumt, das Vorliegen der Einsichtsfähigkeit des Angeklagten im Tatzeitpunkt zu prüfen. Eine Aussage über die Steuerungsfähigkeit kann jedoch nur bei rechtsfehlerfrei festgestellter Einsichtsfähigkeit getroffen werden (vgl. [X.], Beschlüsse vom 16. September 2020 – 1 [X.] Rn. 8 und vom 11. Juli 2017 – 3 [X.] Rn. 12). Eine Prüfung der Einsichtsfähigkeit war insbesondere vor dem Hintergrund angezeigt, dass das [X.] mehrfach auf die nicht näher beschriebene Realitätsverkennung ([X.], 31) des Angeklagten abgestellt hat.

3. Auch der Freispruch unterliegt der Aufhebung.

Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB auf eine Revision des Angeklagten hin aufgehoben, hindert das [X.] den neuen Tatrichter nicht daran, an Stelle einer Unterbringung nunmehr eine Strafe zu verhängen, § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO (vgl. [X.], Beschluss vom 20. November 2012 – 1 [X.] Rn. 20).

4. Der [X.] verweist die Sache an eine andere [X.] des [X.]s zurück, das nunmehr eine Entscheidung über die Übernahme des Verfahrens gemäß § 225a StPO zu treffen und in der Sache neu zu entscheiden hat.

Raum     

      

Jäger     

      

Bellay

      

Bär     

      

Pernice     

      

Meta

1 StR 157/21

15.07.2021

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München I, 18. Januar 2021, Az: 262 Js 158966/19 - 8 KLs

§ 126a StPO, § 225a Abs 1 S 1 StPO, § 225a Abs 1 S 2 StPO, § 269 StPO, § 270 Abs 1 S 1 Halbs 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.07.2021, Az. 1 StR 157/21 (REWIS RS 2021, 4063)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4063

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