Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.04.2011, Az. 3 StR 12/11

3. Strafsenat | REWIS RS 2011, 7929

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Gegenstand

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen: Voraussetzungen eines Obhuts- und Verantwortungsverhältnisses


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 22. Juli 2010

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 16 Fällen und des sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen schuldig ist;

b) im Ausspruch über die Einzelstrafen in den drei Fällen des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der Nebenklägerin [X.]     (jeweils Einführen einer Kerze in den Randbereich des Anus u.a.) und über die Gesamtstrafe aufgehoben; jedoch bleiben die jeweils zugehörigen Feststellungen aufrecht erhalten;

c) im Ausspruch über die Anordnung der Sicherungsverwahrung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin [X.]    dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Der Angeklagte hat die der Nebenklägerin [X.]durch sein Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von [X.] in 16 Fällen sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von [X.], zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und gegen ihn die Sicherungsverwahrung angeordnet; von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn freigesprochen. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Der Schuldspruch hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand, soweit das [X.] den Angeklagten in den drei Fällen des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der Nebenklägerin [X.]     (jeweils Einführen einer Kerze in den Randbereich des Anus u.a.) jeweils auch wegen tateinheitlich begangenen sexuellen Missbrauchs von [X.] (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB) verurteilt hat; denn die Feststellungen belegen nicht, dass die Nebenklägerin dem Angeklagten bereits zum Zeitpunkt dieser Taten zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut war.

3

a) Ein die Anforderungen des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllendes Anvertrautsein setzt ein den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich erfassendes Abhängigkeitsverhältnis des Jugendlichen zu dem Betreuer im Sinne einer Unter- und Überordnung voraus ([X.], Beschluss vom 21. April 1995  - 3 StR 526/94, [X.]St 41, 137, 139); entscheidend ist, ob nach den konkreten Umständen ein Verantwortungsverhältnis besteht, kraft dessen dem Täter das Recht und die Pflicht obliegen, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten ([X.], Beschluss vom 26. Juni 2003 - 4 [X.], [X.], 661).

4

b) Ein derartiges Obhutsverhältnis ist den Urteilsgründen für die Tatzeit im März 2008 nicht zu entnehmen. Danach war die Nebenklägerin zwar sehr oft bei der Zeugin [X.]     und dem Angeklagten zu Besuch; dieser kümmerte sich um sie, machte die Wäsche und half ihr bei den Hausarbeiten. Allein diese Umstände genügen jedoch auch bei Berücksichtigung des Alters der Nebenklägerin nicht zur Begründung eines dem Schutzzweck des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprechenden Abhängigkeitsverhältnisses. Ein solches entstand vielmehr erst nach [X.] 2008, als die Nebenklägerin ganz bei der Zeugin [X.]     und dem Angeklagten lebte und dieser sich nunmehr auch um ihre Erziehung kümmerte, mithin den der Norm unterfallenden [X.] tatsächlich übernahm (vgl. [X.], Beschluss vom 31. Januar 1967 - 1 StR 595/65, [X.]St 21, 196, 201 f.; Urteil vom 5. November 1985 - 1 [X.], [X.]St 33, 340, 344 f.).

5

c) Der Senat schließt aus, dass in einer neuen Hauptverhandlung Feststellungen getroffen werden könnten, die bereits für März 2008 ein Obhutsverhältnis in dem dargelegten Sinne belegen; er ändert deshalb in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO den Schuldspruch selbst ab. § 265 StPO steht nicht entgegen; denn der Angeklagte hätte sich gegen den alleinigen Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern nicht wirksamer als geschehen verteidigen können.

6

2. Der Wegfall des vom [X.] angenommenen sexuellen Missbrauchs von [X.] in den genannten Fällen führt zur Aufhebung der jeweiligen [X.]; denn das [X.] hat ausdrücklich die tateinheitliche Verwirklichung dieses Delikts strafschärfend berücksichtigt. Aufgrund des Wegfalls der drei [X.] kann auch die Gesamtfreiheitsstrafe keinen Bestand haben. Die zugehörigen Strafzumessungstatsachen werden allerdings durch den aufgezeigten Rechtsfehler nicht berührt; sie können deshalb bestehen bleiben. Ergänzende Feststellungen durch das neue Tatgericht, die den bisherigen nicht widersprechen, sind zulässig.

7

3. Die auf § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB aF gestützte Anordnung der Sicherungsverwahrung begegnet ebenfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der [X.] hat in seiner Antragsschrift hierzu u.a. ausgeführt:

"Zur Begründung des Hangs hat die Kammer eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten und der Taten vorgenommen ([X.] ff.). Die starke Neigung zu pädosexuellen Handlungen begründet die [X.] dabei auch mit dem Einlassungsverhalten des Angeklagten: Die Betonung der eigenen Anteile des Opfers und des Guten, das er auch getan habe, sowie die Uneinsichtigkeit des Angeklagten seien Merkmale, die das eingeschliffene Verhaltensmuster kennzeichnen ([X.] f.). Bei der Begründung der Gefährlichkeit lastet das Tatgericht - dem Sachverständigen folgend - dem Angeklagten seine fehlende Verantwortungsübernahme und dessen verformte Realitätswahrnehmung an, weil er stets die Nebenklägerin [X.]     als die eigentliche Täterin dargestellt und sämtliche Schuld bei ihr gesehen habe ([X.]). Bei der Annahme, dass sich der Angeklagte in Zukunft weiterer erheblicher Taten nicht enthalten kann, hat die [X.] zur Begründung auf das unbelehrbare Verhalten des Angeklagten, seine Projektion seiner Schuld auf andere sowie den Mangel an Einsicht abgestellt ([X.] 58).

Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Tatgericht die Grenzen zulässigen [X.] des - hier jedenfalls nicht voll geständigen - Angeklagten verkannt hat (vgl. dazu [X.]R StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 4). Zulässiges Verteidigungsverhalten darf nicht hangbegründend verwertet werden ([X.] NStZ 2001, 595, 596; 2010, 270, 271; …). Wenn der Angeklagte die Taten leugnet, bagatellisiert oder einem anderen die Schuld an der Tat zuschiebt, ist dies grundsätzlich zulässiges Verteidigungsverhalten (vgl. [X.]R StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 8, 9, 10). Die Grenze ist erst erreicht, wenn das Leugnen, Verharmlosen oder die Belastung des Opfers sich als Ausdruck besonders verwerflicher Einstellung des [X.] darstellt, etwa weil die Falschbelastung mit einer Verleumdung oder Herabwürdigung oder der Verdächtigung einer besonders verwerflichen Handlung einhergeht (vgl. [X.]R StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 10). Diese Grenze zu einer verbotenen oder auch nur die Belange der Geschädigten grob missachtenden Verteidigungsstrategie ist hier jedoch noch nicht überschritten."

8

Dem stimmt der Senat zu.

9

4. Sollte das neue Tatgericht die formellen und materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB aF gegen den 68 Jahre alten Angeklagten auch ohne Berücksichtigung von dessen zulässigem Verteidigungsverhalten erneut bejahen, weist der Senat zur pflichtgemäßen Ausübung des Ermessens auf Folgendes hin:

Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll das Tatgericht die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des [X.] zum Zeitpunkt der [X.] auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung getragen, der sich daraus ergibt, dass § 66 Abs. 2 StGB - im Gegensatz zu Abs. 1 - eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des [X.] nicht voraussetzt. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des [X.] im Rahmen dieser Ermessensentscheidung grundsätzlich zu berücksichtigen sind (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschluss vom 4. August 2009 - 1 StR 300/09, [X.], 270, 271 f. mwN). Dies gilt entsprechend auch für § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB.

Becker                      [X.]                von [X.]

           [X.]

Meta

3 StR 12/11

05.04.2011

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Stade, 22. Juli 2010, Az: 10c KLs 5/09, Urteil

§ 174 Abs 1 Nr 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.04.2011, Az. 3 StR 12/11 (REWIS RS 2011, 7929)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7929

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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