Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 21.12.2023, Az. 8 B 32/23

8. Senat | REWIS RS 2023, 9990

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 22. März 2023 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 284 628,40 € festgesetzt.

Gründe

1

Die Klägerin wendet sich gegen den teilweisen Widerruf der [X.]ewilligung eines Investitionszuschusses für die Umgestaltung eines [X.]. Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat dieses Urteil aufgehoben und die Sache auf Antrag der Klägerin gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen. Das Verwaltungsgericht habe die Klage - zu Unrecht - durch Prozessurteil abgewiesen. Zur Prüfung der materiell-rechtlichen Fragen sei "eine weitere Verhandlung erforderlich bzw. lieg[e] noch keine [X.] vor", weil dem vorinstanzlichen Sitzungsprotokoll nicht zu entnehmen sei, dass sämtliche materiell-rechtlichen Fragen abschließend erörtert worden seien, oder ob das Verwaltungsgericht davon wegen der (vermeintlichen) Unzulässigkeit der Klage abgesehen habe. Jedenfalls habe es sich nicht mit den von den [X.]eteiligten angeführten materiell-rechtlichen Fragen auseinandergesetzt. Die Revision gegen seinen [X.]eschluss hat das Oberverwaltungsgericht nicht zugelassen.

2

Die hiergegen gerichtete [X.]eschwerde der [X.]eklagten ist begründet. Zwar kommt der Sache nicht die geltend gemachte grundsätzliche [X.]edeutung zu (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Auch die [X.] (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) greift nicht durch. Der angegriffene [X.]eschluss beruht jedoch auf dem ebenfalls gerügten Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) fehlerhafter Anwendung des § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.

3

1. Grundsätzliche [X.]edeutung hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die der - gegebenenfalls erneuten oder weitergehenden - höchstrichterlichen Klärung bedarf, sofern diese Klärung in dem angestrebten Revisionsverfahren zu erwarten steht und dies zu einer Fortentwicklung der Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus führen wird. Der Rechtsmittelführer hat darzulegen, dass diese Voraussetzungen vorliegen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Dem genügt die [X.]eschwerdebegründung nicht.

4

Die von der [X.]eklagten aufgeworfenen Fragen,

Ist im Sinne des § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, durch das Verwaltungsgericht "in der Sache selbst noch nicht entschieden" und eine Zurückverweisung unzulässig, wenn ein [X.]eteiligter die Zurückverweisung beantragt und das Verwaltungsgericht zu der Sache zwar materiell-rechtlich nicht Stellung genommen, sie jedoch ausweislich des Protokolls zur mündlichen Verhandlung mit den Parteien materiell-rechtlich erörtert und aufgeklärt hat?

sowie

Ist im Sinne des § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eine "weitere Verhandlung erforderlich", wenn das Verwaltungsgericht zu der Sache zwar materiell-rechtlich nicht Stellung genommen, sie jedoch ausweislich des Protokolls zur mündlichen Verhandlung mit den Parteien materiell-rechtlich erörtert und aufgeklärt hat, sodass eine Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht zulässig ist, wenn das Verwaltungsgericht noch nicht in der Sache selbst entschieden hat und ein [X.]eteiligter dies beantragt?,

bedürfen nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren, weil sie - soweit hier entscheidungserheblich - ohne Weiteres aus dem Gesetz unter [X.]erücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu beantworten sind. Danach hat das Verwaltungsgericht keine Entscheidung in der Sache selbst getroffen, wenn es - wie hier - die Klage durch Prozessurteil abgewiesen oder das Klagebegehren - etwa infolge fehlerhafter Auslegung gemäß § 88 VwGO - nicht oder nur teilweise beschieden hat ([X.]VerwG, Urteil vom 26. Januar 2012 - 3 C 8.11 - NVwZ-RR 2012, 431 Rn. 17; [X.]eschluss vom 4. September 2014 - 4 [X.] 30.14 - juris Rn. 15 m. w. N.). Auf den Umfang der Erörterung in der zu Grunde liegenden mündlichen Verhandlung kommt es dabei nicht an. Darüber hinaus ist das Tatbestandsmerkmal in entsprechender Anwendung der Norm zu bejahen, wenn das Verwaltungsgericht wegen fehlerhafter materiell-rechtlicher Weichenstellungen nicht zum eigentlichen Gegenstand des Streits vorgedrungen ist ([X.]VerwG, Urteil vom 26. Mai 1971 - 6 C 39.68 - [X.]VerwGE 38, 139 <146> und [X.]eschluss vom 27. November 1981 - 8 [X.] 189.81 - NVwZ 1982, 500 <501>).

5

Eine weitere Verhandlung im Sinne des § 130 Abs. 2 VwGO ist erforderlich, wenn die Sache nicht entscheidungsreif ist ([X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 22. November 2007 - 9 [X.] 52.07 - juris Rn. 4 und vom 4. September 2014 - 4 [X.] 30.14 - juris Rn. 15). Es widerspräche dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung, dem der Gesetzgeber bei der [X.]eschränkung der berufungsgerichtlichen [X.] durch die Neuregelung des § 130 VwGO Rechnung tragen wollte (vgl. [X.]T-Drs. 14/6393 [X.]), wenn das [X.]erufungsgericht die Sache zurückverweisen dürfte, obwohl seiner eigenen Entscheidung nichts mehr im Wege stünde. Art. 19 Abs. 4 GG steht dem nicht entgegen, weil er den [X.] keinen Anspruch auf zwei Tatsacheninstanzen vermittelt ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 22. November 2007 - 9 [X.] 52.07 - juris Rn. 4).

6

Die [X.] liegt nicht zwangsläufig schon vor, wenn das Verwaltungsgericht die Sache in mündlicher Verhandlung erörtert und Aufklärungsmaßnahmen getroffen hat. Maßgeblich ist vielmehr, ob seine Entscheidung alle zur abschließenden Entscheidung erforderlichen Tatsachenfeststellungen enthält oder ob weitere Sachaufklärung notwendig ist. Dies ist bei der Überprüfung der berufungsgerichtlichen Anwendung des § 130 Abs. 2 VwGO nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des [X.]erufungsgerichts zu beurteilen (vgl. [X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 5. Oktober 1984 - 3 [X.] 42.84 - [X.]uchholz 310 § 130 VwGO Nr. 10 S. 3 und vom 14. Februar 2022 - 3 [X.] 27.21 - NVwZ 2022, 646 Rn. 25 ff.). Ausreichende Tatsachenfeststellungen können sich auch daraus ergeben, dass die für die [X.]eurteilung erforderlichen tatsächlichen Grundlagen unschwer den vom Verwaltungsgericht beigezogenen und in das Verfahren eingeführten Verwaltungsvorgängen zu entnehmen sind ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 22. November 2007 - 9 [X.] 52.07 - juris Rn. 4).

7

Erneuten oder weiteren Klärungsbedarf zeigt die [X.]eschwerdebegründung zu keiner der beiden von ihr aufgeworfenen Fragen auf.

8

2. Die geltend gemachte Divergenz zum Urteil des [X.]undesverwaltungsgerichts vom 26. Mai 1971 - 6 C 39.68 - ([X.]VerwGE 38, 139 <146>) und zu dessen [X.]eschluss vom 27. November 1981 - 8 [X.] 189.81 - (NVwZ 1982, 500) liegt nicht vor. Entgegen dem Vorbringen der [X.]eklagten stellt keine dieser Entscheidungen einen sie tragenden abstrakten Rechtssatz auf, dem der angegriffene [X.]eschluss mit einem ebensolchen, ihn tragenden abstrakten Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widerspräche (zu diesen Anforderungen vgl. [X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 21. Juni 1995 - 8 [X.] 61.95 - juris Rn. 5 und vom 18. März 2022 - 8 [X.] 49.21 - juris Rn. 3).

9

Die angeblichen Divergenzentscheidungen betreffen eine frühere Fassung des § 130 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Soweit sie das nun in § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufgeführte Tatbestandsmerkmal fehlender Sachentscheidung betreffen, stellen sie nicht den abstrakten Rechtssatz auf, schon in der verwaltungsgerichtlichen Erörterung und Aufklärung des [X.]eteiligtenvorbringens liege eine Entscheidung in der Sache selbst. Vielmehr verneinen sie eine solche Entscheidung, wenn das Verwaltungsgericht wegen fehlerhafter materiell-rechtlicher Weichenstellungen nicht zum eigentlichen Gegenstand des Streits vorgedrungen ist ([X.]VerwG, Urteil vom 26. Mai 1971 - 6 C 39.68 - [X.]VerwGE 38, 139 <146> und [X.]eschluss vom 27. November 1981 - 8 [X.] 189.81 - NVwZ 1982, 500 <501>), ohne das Fehlen einer Sachentscheidung bei einer Klageabweisung durch Prozessurteil in Abrede zu stellen. Der von der [X.]eklagten aufgegriffene Hinweis des Urteils auf das Fehlen einer Erörterung und Aufklärung zur seinerzeit materiell-rechtlich entscheidenden Frage formuliert keinen abstrakten Rechtssatz, sondern beschränkt sich auf eine einzelfallbezogene Subsumtion, die keine Divergenz begründen kann. Er geht davon aus, dass keine Sachentscheidung vorliegt, wenn die betreffende Frage noch nicht einmal erörtert und aufgeklärt wurde. Damit ist nicht gesagt, dass ein Prozessurteil als Sachentscheidung einzuordnen wäre, wenn es nach Erörterung und Aufklärung in ihm nicht entschiedener Fragen erging.

3. Der angegriffene [X.]eschluss leidet jedoch am gerügten Verfahrensmangel unzutreffender Anwendung des § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO und beruht darauf.

Nach dieser Vorschrift darf das Oberverwaltungsgericht die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Verwaltungsgericht nur zurückverweisen, wenn dieses noch nicht in der Sache selbst entschieden hat und ein [X.]eteiligter die Zurückverweisung beantragt. Die letzten beiden Voraussetzungen liegen wegen des verwaltungsgerichtlichen Prozessurteils und des Zurückverweisungsantrags der Klägerin vor. Aus dem angegriffenen [X.]eschluss ergibt sich jedoch nicht, dass eine weitere Verhandlung erforderlich war. Wie oben ausgeführt, setzt das voraus, dass die Sache bei Ergehen des [X.]eschlusses noch nicht entscheidungsreif war, weil nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des [X.] noch Aufklärungsbedarf bestand. Dass diese Voraussetzung erfüllt war, ist dem angegriffenen [X.]eschluss nicht zu entnehmen.

Die Erwägung, nach dem vorinstanzlichen Protokoll sei unklar, ob das Verwaltungsgericht sämtliche materiell-rechtlichen Fragen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht abschließend erörtert oder wegen der vermeintlichen Unzulässigkeit der Klage davon abgesehen habe, geht unzutreffend von der Notwendigkeit aus, sämtliche im Prozess aufgeworfenen materiell-rechtlichen Fragen zu erörtern und zu klären. Sie übersieht, dass es für das Vorliegen oder Fehlen der [X.] nur darauf ankommt, ob die nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des [X.]erufungsgerichts erheblichen tatsächlichen Fragen geklärt sind oder (gegebenenfalls weiterer) Klärung bedürfen. Auf der Grundlage der eigenen materiell-rechtlichen Rechtsauffassung hätte das Oberverwaltungsgericht ohne Weiteres beurteilen können, ob die im Sitzungsprotokoll dokumentierte Erörterung und Aufklärung zur Entscheidung der seines Erachtens erheblichen Fragen ausreichte, und eventuelle Defizite benennen können.

Dass das Oberverwaltungsgericht die [X.] nicht an diesem zutreffenden Maßstab geprüft hat, zeigt auch die zweite, mit "jedenfalls" eingeleitete und daher letztlich tragende Erwägung. Sie geht unzutreffend davon aus, vor einer Entscheidung müsse sämtlicher - und nicht nur der aus der Sicht des Gerichts entscheidungserhebliche - Vortrag der [X.]eteiligten erörtert werden. Eine solche Verpflichtung ist selbst der Gewährleistung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) nicht zu entnehmen.

Dahinstehen kann, ob die Erforderlichkeit weiterer mündlicher Verhandlung und das daraus abgeleitete Erfordernis fehlender [X.] als Tatbestandsvoraussetzung des § 130 Abs. 2 VwGO oder als rechtliche Grenze des durch die Vorschrift eingeräumten Ermessens zu behandeln sind. Im ersten Fall verletzt die angegriffene Zurückverweisung die Vorschrift, weil eine [X.]edingung der [X.] fehlte. Im zweiten Fall ist die Zurückverweisung verfahrensfehlerhaft, weil das Ermessen rechtsfehlerhaft, nämlich jenseits der gesetzlichen Grenzen, ausgeübt wurde (vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 4. September 2014 - 4 [X.] 30.14 - juris Rn. 15 f. m. w. N.).

Der angegriffene [X.]eschluss beruht auf dem dargestellten Verfahrensmangel. Die Zurückverweisung wird nicht von einer alternativen, fehlerfreien [X.]egründung getragen. Auf die weiter erhobenen Verfahrensrügen kommt es danach nicht mehr an.

4. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den angegriffenen [X.]eschluss gemäß § 133 Abs. 6 VwGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 GKG.

Meta

8 B 32/23

21.12.2023

Bundesverwaltungsgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend OVG Lüneburg, 22. März 2023, Az: 10 LB 10/23, Beschluss

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 21.12.2023, Az. 8 B 32/23 (REWIS RS 2023, 9990)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9990

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

4 B 30/14 (Bundesverwaltungsgericht)

Mindeststandard für die Ausfertigung von landesrechtlichen Rechtsnormen; Zurückverweisung durch Berufungsgericht


3 C 8/11 (Bundesverwaltungsgericht)

Widerruf der Betrauung eines Prüfingenieurs nach StVZO; sachliche Zuständigkeit; kein Zustimmungserfordernis der Anerkennungsbehörde; Zurückverweisung an …


9 BV 15.1034 (VGH München)

Klagefrist bei möglicherweise zu Unrecht eingeräumtem fakultativem Widerspruchsverfahren


9 BV 15.1032 (VGH München)

Grundsatz des Meistbegünstigungsprinzips - Fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung


9 B 19/18 (Bundesverwaltungsgericht)

Verhältnis von Fremd- und Privatnützigkeit bei Einleitung des vereinfachten Flurbereinigungsverfahrens


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.