Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 14.07.2011, Az. 4 StR 16/11

4. Strafsenat | REWIS RS 2011, 4790

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

Urteil
4 StR 16/11
vom
14. Juli
2011
in der Strafsache
gegen

wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung-
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Der 4. Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom 14. Juli
2011, an der teilgenommen haben:

Vorsitzender
[X.] am [X.]
Dr. [X.],

[X.]in
am [X.]
Roggenbuck,
[X.] am [X.]
Cierniak,
[X.],
Dr. Quentin

als beisitzende [X.],

Staatsanwältin beim [X.]

als Vertreterin
der Bundesanwaltschaft,

Rechtsanwalt

als Verteidiger,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
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1.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird der Be-schluss des [X.] vom 27.
Oktober 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
2.
Die Sache wird zur Verhandlung und erneuten Entschei-dung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere [X.] des [X.] zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Der Verurteilte, um dessen nachträgliche Unterbringung in der Siche-rungsverwahrung es im vorliegenden Verfahren geht, war vom [X.] mit Urteil vom 28. Juli 1993 wegen Gefangenenmeuterei unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Bezirksgerichts [X.] vom 24.
Februar 1992 und unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu [X.] verurteilt worden. Gegenstand der [X.] Entscheidung ist eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverlet-zung (ein Jahr Freiheitsstrafe) und Mordes (14 Jahre Freiheitsstrafe). Sämtliche Straftaten beging der Verurteilte im Beitrittsgebiet. Das [X.] war auf den 18. Februar 2011 notiert.
Bereits vor Erreichen des [X.]s hatte die Staatsanwaltschaft mit Antragsschrift vom 1. Juli 2010, bei Gericht eingegangen am 6.
Juli 2010, [X.], gemäß §
66b Abs.
1 StGB a.F. nachträglich die Unterbringung des [X.] in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Hiervon informierte das [X.] den Verurteilten. Durch eine als "Beschluss" bezeichnete Entschei-1
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dung vom 27. Oktober 2010 hat das [X.] diesen Antrag ohne [X.] zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass zwar die
a-hen" seien, nach dem Urteil des [X.] vom 17. Dezember 2009 (NJW 2010, 2495) und dem Beschluss des erken-nenden Senats vom 12. Mai 2010 (4 [X.], [X.], 567, 568) aber eine Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten nach §
66b StGB nicht [X.] werden könne, da im Zeitpunkt der Tatbegehung die Straftat nicht mit Sicherungsverwahrung bedroht gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft hat gegen die ihr am 2.
November 2010 zugestellte Entscheidung am 4. November 2010 "sofortige Beschwerde" eingelegt. Mit einem am 2. Dezember 2010 beim Land-gericht eingegangenen Schriftsatz gleichen Datums hat sie dieses Rechtsmittel sodann als Revision bezeichnet und die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Das vom [X.] vertretene Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge Erfolg.
[X.]
Mit Beschluss vom 3. Februar 2011 hatte der Senat die Entscheidung über das Rechtsmittel im Blick auf das vom 5. Strafsenat des [X.] mit Beschluss vom 9. November 2010 (5 [X.] u.a., NJW 2011, 240; zum Abdruck in [X.]St bestimmt) eingeleitete Anfrageverfahren zurückgestellt.
Die Sache ist nunmehr entscheidungsreif, nachdem der 5. Strafsenat des [X.] in den den Anfrageverfahren zugrunde liegenden Strafsachen mit Beschluss vom 23. Mai 2011 zur Sache entschieden hat, ohne zuvor den [X.] anzurufen.
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I[X.]
Die zulässige Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet zu Recht, dass das [X.] über ihren Antrag ohne die nach §
275a Abs.
2 und 3 [X.] erforderliche Hauptverhandlung entschieden hat.
1. Gegen die Entscheidung des [X.] ist das Rechtsmittel der Revision statthaft (§
333 [X.]).
Zwar hat das [X.] seine Entscheidung als "Beschluss" bezeich-net. Dies führt aber nicht dazu, dass eine Beschwerde nach §§
304 ff. [X.] das statthafte Rechtsmittel wäre. Auf die Bezeichnung der Entscheidung kommt es nicht an. Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile solche Entscheidungen, die eine mündli-che Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeu-tung ist, ob eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung wirk-lich stattgefunden haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur auf Grund mündlicher Verhandlung und im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung und Verkündung in einem solchen Fall entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil ([X.], Urteil vom 1. Juli 2005

2 StR 9/05, [X.]St 50, 180, 186; Beschluss vom 17. Februar 2010 -
2 StR 524/09, [X.]St 55, 62, 63
f.; vgl.
weiter [X.], Beschlüsse vom 20.
Dezember 1955 -
5 StR 363/55, [X.]St 8, 383, 384, und vom 30. Oktober 1973 -
5 [X.], [X.]St 25, 242, 243, zu "Urteilen", die verfahrensrechtlich Beschlüsse waren). Nach §
275a Abs.
2 [X.] ist über die nachträgliche Anord-nung der Sicherungsverwahrung auf Grund einer Hauptverhandlung zu ent-4
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scheiden. Diese Entscheidung ergeht durch Urteil (§
275a Abs.
2 i.V.m. §
260 Abs.
1 [X.]). Dieses ist grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung zu verkünden (§
169 [X.]). Ein schriftliches Verfahren ist für die Anordnung der nachträgli-chen Sicherungsverwahrung bei der vom Gesetzgeber gewählten [X.]slösung nicht vorgesehen; insbesondere kommt eine analoge Anwen-dung der Regelungen über das Zwischenverfahren nicht in Betracht ([X.], Ur-teil vom 6. Dezember 2005
-
1 [X.], [X.], 74).
Dass die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel zunächst irrtümlich als "so-fortige Beschwerde" bezeichnet hat, ist nach §
300 [X.] ebenfalls unschädlich. Diese Vorschrift gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ([X.], [X.], 54. Aufl., §
300 Rn.
2). Im Übrigen hat sie selbst das Rechtsmit-tel noch innerhalb der [X.] als "Revision" bezeichnet.
2. Die Verfahrensrüge ist zulässig und begründet. Entgegen der [X.]
275a Abs.
2 [X.] hat das [X.] ohne Hauptverhandlung entschieden.
Die Entscheidung beruht auf dieser Gesetzesverletzung. Das kann der Senat bereits deswegen nicht ausschließen, weil die [X.] bei der Ent-scheidung neben dem Vorsitzenden mit zwei Berufsrichtern, aber nicht mit Schöffen besetzt war. In ordnungsgemäßer Besetzung für eine Hauptverhand-lung wäre das Ergebnis möglicherweise ein anderes gewesen.
Die vom 1.
Strafsenat in seinem Urteil vom 6. Dezember 2005 (aaO S.
75) aufgeworfene Frage, ob das Beruhen zu verneinen ist, wenn zwingend vorgeschriebene formale

also ohne jede wertende Würdigung feststellbare

Voraussetzungen für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung 7
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fehlen, bedarf auch hier keiner Entscheidung. Das [X.] hat mit Urteil vom 4.
Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.; dort Rn.
164) die vom [X.] zu Grunde gelegte und auch vom Senat in seinem Beschluss vom 12. Mai 2010 (4 [X.], [X.], 567) vertretene Auffassung, §
2 Abs.
6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs.
1 Satz 2 [X.] stehe einer rückwirkenden Anwendung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung entgegen, [X.]. Die vollständige Verbüßung der Strafe und die Haftentlassung des [X.] stehen der Fortsetzung des Verfahrens nicht entgegen (vgl. [X.], Ur-teil vom 1. Juli 2005

2 StR 9/05, [X.]St 50, 180, 181 f.). Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist rechtzeitig gestellt (vgl. [X.], Urteil vom 25. November 2005

2 [X.], [X.]St 50, 284, 290; Beschluss vom 26. Mai 2010

2 [X.], [X.]R [X.] § 275a Antrag 2). Die Erfüllung der formellen Voraussetzungen der nach-träglichen Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 oder 2 StGB a.F. kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen jedenfalls nicht verneint werden; insoweit verweist der Senat auf die Darlegungen des [X.]s in seiner Terminzuschrift und die darin wiedergegebenen Ausführungen des [X.].

[X.]
Das [X.] wird nunmehr in der gebotenen Form und nach [X.] der Gutachten von zwei Sachverständigen nach Maßgabe des §
275a Abs.
4 Satz 2 und 3 [X.] über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträg-liche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu befinden haben. Dabei ist der Antrag
unter [X.] in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prü-fen ([X.], Urteil vom 6. Dezember 2005

1 [X.], [X.], 74, 75). §
66b StGB ist in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung [X.]
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zuwenden (§
2 Abs.
6 StGB; Art. 316e Abs.
1 Satz
2 [X.]; Art. 316e Abs. 2 [X.] gilt nur für die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung, BT-Drucks. 17/3403 [X.] und [X.] NJW 2011, 177, 180). Zwar hat das Bundes-verfassungsgericht diese Vorschrift in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Jedoch hat es in Ziff. [X.]
des Urteilstenors eine Weitergeltungsanordnung getroffen; diese hat Gesetzeskraft (BGBl. I S. 1003, 1004 f.). Danach ist §
66b Abs.
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StGB a.F., der in den sog. Altfällen
Rückwirkung entfaltet ([X.] aaO Rn.
148, 149), bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nur noch nach den engen Maßgaben in Ziff. [X.]
2. Buchst. a des Tenors [X.]. Im Gegensatz dazu hatte
das [X.] nach der Fassung der Weitergeltungsanordnung (Ziff. [X.] 1.
in Verbindung mit Ziff. I[X.] 1. Buchst. b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011) die weitere Anwendung des §
66b Abs.
1
StGB a.F. nach Maßgabe der Gründe seines Urteils angeordnet und diese damit an sich nur von einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung (Rn.
172) abhängig gemacht (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Mai 2011

4 [X.]). Jedoch hat es mit Senatsbeschluss vom 8. Juni 2011 (2 BvR 2846/09) klargestellt, dass die im Urteil vom
4. Mai 2011 festgesetzten höheren [X.] an die nachträgliche Anordnung der Sicherungs-verwahrung in [X.] Fällen mit Rückwirkung

und damit auch in dem hier zu entscheidenden

gelten. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird

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daher in materieller Hinsicht zu prüfen haben, ob eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt-
oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Per-son oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und dieser an einer [X.] Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des [X.] 2010 zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz

ThUG; BGBl. [X.] 2300) leidet.
[X.] Roggenbuck

Cierniak

[X.] Quentin

Meta

4 StR 16/11

14.07.2011

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 14.07.2011, Az. 4 StR 16/11 (REWIS RS 2011, 4790)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 4790

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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