Bundesfinanzhof, Beschluss vom 08.02.2012, Az. VI B 143/11

6. Senat | REWIS RS 2012, 9406

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Versagung des rechtlichen Gehörs wegen Nichtgewährung einer Schriftsatzfrist - Überraschungsentscheidung


Leitsatz

1. NV: Die Nichtgewährung einer in der mündlichen Verhandlung beantragten Schriftsatzfrist verletzt nur dann den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn sich ein Beteiligter in der mündlichen Verhandlung auf ein Vorbringen des anderen Beteiligten nicht erklären kann, weil es ihm nicht rechtzeitig vor dem Termin mitgeteilt worden ist.

2. NV: Bei einer Rechtsäußerung eines Mitglieds des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers kann --auch nach einem Erörterungstermin-- in der Regel nicht gefolgert werden, dass die Rechtsfrage geklärt ist und der Senat von dieser Rechtsauffassung nicht abweichen oder sie anders beurteilen könnte.

Gründe

1

Die Beschwerde des [X.] und Beschwerdeführers (Kläger) hat in der Sache keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.

2

a) Das Finanzgericht ([X.]) hat den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--) nicht dadurch verletzt, dass es einen [X.] abgelehnt hat. Die Nichtgewährung einer in der mündlichen Verhandlung beantragten [X.] verletzt nur dann den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn sich ein Beteiligter in der mündlichen Verhandlung auf ein Vorbringen des anderen Beteiligten nicht erklären kann, weil es ihm nicht rechtzeitig vor dem Termin mitgeteilt worden ist. Nur für diesen Fall sehen § 283 der Zivilprozessordnung [X.]. § 155 [X.]O das Nachbringen schriftsätzlicher Erklärungen vor (Beschlüsse des [X.] --BFH-- vom 18. März 2008 [X.] (PKH), [X.], 1184, m.w.N., und vom 14. April 2011 [X.]/10, [X.], 1185). Hieran fehlt es im Streitfall. Denn der Kläger beantragte die [X.] nicht, um auf ein (überraschendes) Vorbringen der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) zu erwidern, sondern weil das Gericht (ohne vorherigen Hinweis) in der mündlichen Verhandlung von der den Beteiligten mit Schreiben vom 25. Februar 2011 mitgeteilten Rechtsauffassung des Berichterstatters zu § 70 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) abgewichen ist.

3

b) Eine Verletzung rechtlichen Gehörs ergibt sich --entgegen der Auffassung des [X.]-- auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Überraschungsentscheidung. Eine solche liegt vor, wenn das [X.] seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (vgl. [X.] vom 25. Januar 2008 [X.]/06, [X.], 608). Hieran fehlt es ebenfalls. Denn die Beteiligten haben die Frage des Vorliegens der [X.] des § 70 Abs. 4 EStG (Grenzbetragsänderungen) in ihren jeweiligen Schriftsätzen kontrovers erörtert. Die Abweisung der Klage wegen der Überschreitung des in § 32 Abs. 4 EStG geregelten Grenzbetrags erfolgte daher für den Kläger nicht überraschend. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass der Berichterstatter im [X.] an den Erörterungstermin mit Schreiben vom 25. Februar 2011 eine gegenteilige Rechtsauffassung mitgeteilt hat. Hierbei handelt es sich um die Rechtsäußerung nur eines Mitglieds des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers --hier des [X.]. Aus einer solchen, regelmäßig nur vorläufigen Rechtsäußerung eines Senatsmitglieds kann indes nicht gefolgert werden, dass die Rechtsfrage eindeutig geklärt ist und der Senat von der Rechtsauffassung nicht abweichen bzw. sie anders beurteilen könnte. Dies musste sich dem Kläger im Übrigen auch deshalb aufdrängen, weil die Familienkasse im Nachgang zu Erörterungstermin und Berichterstatterschreiben eine gerichtliche Entscheidung begehrt hat ([X.] vom 18. September 2009 [X.]/08, [X.], 220, und in [X.], 1185).

4

c) Im Übrigen kann die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs auch deshalb keinen Erfolg haben, weil der Kläger weder darlegt hat, was er bei (ausreichender) Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte, noch inwieweit dieser Vortrag zu einer für ihn günstigeren Entscheidung des [X.] hätte führen können (vgl. [X.] vom 6. Juli 2011 III S 4/11 (PKH), [X.], 1717, m.w.N., und vom 12. Oktober 2010 [X.]/09, [X.], 291, m.w.N.).

Meta

VI B 143/11

08.02.2012

Bundesfinanzhof 6. Senat

Beschluss

vorgehend FG Münster, 8. Juni 2011, Az: 10 K 3298/09 Kg, AO, Urteil

§ 96 Abs 2 FGO, § 155 FGO, § 283 ZPO, § 32 Abs 4 EStG 2002, § 70 Abs 4 EStG 2002

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 08.02.2012, Az. VI B 143/11 (REWIS RS 2012, 9406)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9406

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VI B 120/10 (Bundesfinanzhof)

Abgelehnter Schriftsatznachlass - Rechtsäußerung des Berichterstatters - Unentgeltliche Wohnungsüberlassung im Rahmen doppelter Haushaltsführung - Sicherung …


VI B 135/12 (Bundesfinanzhof)

Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs bei Nichtgewährung einer Schriftsatzfrist - Überraschungsentscheidung bei Nichtanerkennung von Fahrtkosten …


XI B 70/11 (Bundesfinanzhof)

Haftung eines Kommanditisten; Bindung an tatsächliche Feststellungen; Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Überraschungsentscheidung; Umfang des …


XI B 52/15 (Bundesfinanzhof)

Zur Marktüblichkeit des Entgelts beim Mitarbeiter- und Führungskräfteleasing in der Automobilindustrie


IX B 105/18 (Bundesfinanzhof)

Zulassung wegen Verfahrensfehler: Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens; Verletzung des rechtlichen Gehörs durch …


Referenzen
Wird zitiert von

28 U 88/18 Bau

28 U 2388/16 Bau

28 U 3432/15 Bau

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.