Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 21.06.2023, Az. 5 AV 4/23

5. Senat | REWIS RS 2023, 4129

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Gegenstand

Entscheidung eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen Sozial- und Verwaltungsgericht


Tenor

Als zuständiges Gericht wird das [X.] bestimmt.

Gründe

I

1

Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist ein von der Klägerin unter dem Gesichtspunkt des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs geltend gemachter Geldleistungsanspruch. Sie habe im Zeitraum August 2018 bis November 2020 deshalb zu geringe Leistungen nach dem [X.] ([X.]) erhalten, weil das beklagte [X.] Unterhaltszahlungen ihres [X.] [X.] berücksichtigt habe, obgleich nicht sie, sondern der Beklagte selbst diese Zahlungen erhalten habe. Hierdurch sei zu dessen Gunsten eine durch § 33 Abs. 1 [X.] nicht gerechtfertigte Vermögensverschiebung eingetreten.

2

Das von der Klägerin zunächst angerufene [X.] hat mit Beschluss vom 26. Januar 2023 den Rechtsweg zu den Sozialgerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das [X.] verwiesen. Die Klägerin mache einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch geltend. Derartige Ansprüche seien mangels einer Sonderzuweisung nach § 51 [X.] zu den Sozialgerichten gemäß § 40 Abs. 1 VwGO im Verwaltungsrechtsweg zu verfolgen.

3

Das Verwaltungsgericht hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es sich für unzuständig halte, weil der Rechtsweg zu den Sozialgerichten und nicht zu den Verwaltungsgerichten eröffnet sei. Mit Beschluss vom 10. Mai 2023 hat es den [X.] für unzulässig erklärt und das [X.] zur Bestimmung des zuständigen Gerichts angerufen.

II

4

1. Das [X.] ist zur Entscheidung des negativen [X.]s zwischen dem [X.] und dem [X.] berufen.

5

Gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 VwGO wird ein negativer [X.] zwischen Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit von dem Gericht entschieden, das den beteiligten Gerichten übergeordnet ist. Zwar ist diese Vorschrift auf den [X.] zwischen einem Verwaltungsgericht und einem Sozialgericht weder unmittelbar anwendbar noch gibt es für einen solchen Fall an anderer Stelle eine gesetzliche Regelung. Diese Regelungslücke ist aber - im Einklang mit der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes - in der Weise zu schließen, dass dasjenige oberste [X.] den negativen [X.] zwischen den Gerichten verschiedener Gerichtszweige entscheidet, das einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird. Denn obwohl ein nach § 17a [X.] ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den bestrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine Zuständigkeitsbestimmung in Analogie zu § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es in einem Verfahren zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2022 - 5 AV 4.21 - NVwZ-RR 2022, 894 Rn. 5 m. w. N.). Eine solche Situation ist hier gegeben. Sowohl das [X.] als auch das [X.] haben entschieden, dass der Rechtsweg zu ihnen unzulässig sei.

6

2. Für die Entscheidung im vorliegenden Verfahren ist das [X.] zuständig. Seinem Verweisungsbeschluss vom 26. Januar 2023 kommt keine Bindungswirkung gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 3 [X.] zu. Die Voraussetzungen, unter denen ein Verweisungsbeschluss eines Gerichts ausnahmsweise keine Bindungswirkung entfaltet, liegen hier vor.

7

Gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 [X.] ist ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Die Bindungswirkung tritt auch bei einem fehlerhaften Verweisungsbeschluss ein, etwa wenn der Rechtsweg zu dem verweisenden Gericht entgegen dessen Rechtsauffassung gegeben war oder das Gericht den Verweisungsbeschluss entgegen § 17a Abs. 4 Satz 2 [X.] nicht begründet oder unter Verletzung des rechtlichen Gehörs getroffen hat. Mit Rücksicht auf die in § 17a [X.] eröffnete Möglichkeit, einen Verweisungsbeschluss in dem in § 17a Abs. 4 Satz 3 bis 6 [X.] vorgesehenen Instanzenzug überprüfen zu lassen, kann die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines unanfechtbaren Verweisungsbeschlusses allenfalls bei extremen Rechtsverstößen durchbrochen werden. Das ist nur dann der Fall, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerwG, Beschlüsse vom 29. Dezember 2021 - 3 AV 1.21 - NVwZ 2022, 421 Rn. 11 und vom 7. Februar 2022 - 5 AV 5.21 - juris Rn. 7, jeweils m. w. N.).

8

Der Verweisungsbeschluss des [X.] vom 26. Januar 2023 erweist sich als in dieser Weise qualifiziert fehlerhaft. Für den Rechtsstreit ist eindeutig der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet (a). Sachlich und örtlich zuständig ist das [X.] (b).

9

a) Ob für das Klagebegehren eine Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, die in dem beschrittenen Rechtsweg zu verfolgen ist, ist auf der Grundlage des Klageantrags und des zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalts zu prüfen (BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 1992 - 5 [X.] - [X.] 300 § 17a [X.] Nr. 5 S. 5 m. w. N.). Für die [X.] ist allein die wirkliche Natur des behaupteten Rechtsverhältnisses und nicht die rechtliche Qualifizierung durch den Kläger maßgeblich (BVerwG, Beschlüsse vom 17. März 2010 - 7 AV 1.10 - [X.] 300 § 17a [X.] Nr. 29 Rn. 8 und vom 13. Juli 2022 - 5 AV 4.21 - NVwZ-RR 2022, 894 Rn. 9). Gemessen daran ist es hier völlig unverständlich und offensichtlich unhaltbar, dass das [X.] die Eröffnung des Rechtswegs zu den Sozialgerichten verneint und den Rechtsstreit an das [X.] verwiesen hat.

Das Sozialgericht hat darauf abgestellt, dass die Klägerin ihren Anspruch als öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch geltend gemacht habe und für die Geltendmachung "eines" öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs das [X.] sachlich und örtlich zuständig sei. Gemäß § 40 Abs. 1 VwGO sei der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch [X.] einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen seien. Eine abdrängende Sonderzuweisung zu den Sozialgerichten nach § 51 [X.] sei (hinsichtlich öffentlich-rechtlicher Erstattungsansprüche) nicht gegeben.

Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nach § 40 Abs. 1 VwGO ist hier jedoch nicht eröffnet, weil das Klagebegehren nach § 51 Abs. 1 Nr. 4a [X.] offensichtlich im Rechtsweg zu den Sozialgerichten zu verfolgen ist. Danach entscheiden die Gerichte der [X.]barkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Das sind solche, die ihre Grundlage im [X.] finden oder dort haben können (BSG, Beschluss vom 1. April 2009 - [X.] SF 1/08 R - juris Rn. 15 und Urteil vom 31. Mai 2016 - [X.] [X.]/[X.] - juris Rn. 10). Fehlt es an einer unmittelbaren Zuweisung, genügt es, dass sich der Wille des Gesetzes aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung und dem Sachzusammenhang in Verbindung mit der [X.] eindeutig und logisch zwingend ergibt. Ein Sachzusammenhang besteht, wenn die Maßnahme in engem sachlichen Zusammenhang zur Verwaltungstätigkeit der Behörde nach dem [X.] steht. Die [X.] ist wesentlich davon abhängig, auf welche rechtliche Grundlage sich die streitgegenständliche Maßnahme zu stützen vermag. Sie ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Beteiligten über Rechtsfolgen aus der Anwendung sozialverwaltungsverfahrensrechtlicher Normen nach dem [X.] streiten, sofern der Streitigkeit materielle Rechtsverhältnisse nach dem [X.] zugrunde liegen (BSG, Beschluss vom 1. April 2009 - [X.] SF 1/08 R - juris Rn. 15). Die Zuständigkeit nach § 51 Abs. 1 Nr. 4a [X.] erfasst die Angelegenheiten des [X.] umfassend ([X.], in: [X.]/[X.]/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Aufl. 2021, § 51 [X.] Rn. 12) auch außerhalb der unmittelbaren Leistungsverwaltung ([X.], in: [X.]/[X.]/[X.], [X.], Stand 1. Mai 2023, § 51 Rn. 63).

Um eine danach in die sachliche Zuständigkeit der Sozialgerichte fallende Angelegenheit handelt es sich hier offenkundig. Die Klägerin macht gegenüber dem beklagten [X.] geltend, dass ihr im Bewilligungszeitraum von August 2018 bis November 2020 höhere Leistungen nach dem [X.] zugestanden hätten, weil auf ihren diesbezüglichen Anspruch Unterhaltszahlungen ihres [X.] zu Unrecht [X.] angerechnet worden seien, die nicht ihr, sondern unmittelbar dem Beklagten zugeflossen seien. Hiernach stehen vorliegend Ansprüche im Streit, welche die Klägerin im Zusammenhang mit der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem [X.] durch das beklagte [X.] geltend macht. Dass sie selbst diesen Anspruch als öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch qualifiziert, ist - wie ausgeführt - für die [X.] unmaßgeblich. Dessen ungeachtet ist die dem Verweisungsbeschluss des [X.] zugrunde liegende, auf der Übernahme einer unbelegten Rechtsansicht des Beklagten zur [X.] basierenden und jegliche Auseinandersetzung mit den in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Maßstäben vermissenlassenden Annahme, Ansprüche aus einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch fielen immer in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, offensichtlich unhaltbar. Das [X.] ist auch in vor den Sozialgerichten ausgetragenen sozialrechtlichen Streitverfahren anerkannt (vgl. BSG, Urteile vom 16. Juli 2020 - [X.] [X.] 15/19 R - [X.], 299 Rn. 10 ff. und vom 7. März 2023 - [X.] [X.] 3/22 R - juris Rn. 13) und die Sozialgerichte entscheiden dementsprechend über das Bestehen darauf gestützter Ansprüche (vgl. etwa [X.], Gerichtsbescheid vom 21. Juli 2021 - [X.] [X.] - juris Rn. 38 und Urteil vom 6. August 2021 - [X.] [X.] 1759/20 - juris Rn. 20 und vom 19. August 2021 - [X.] [X.] 336/16 - juris Rn. 20).

b) Die sachliche Zuständigkeit der Sozialgerichte ergibt sich aus § 8 [X.], die örtliche Zuständigkeit des [X.] folgt aus § 57 Abs. 1 Satz 1 [X.] i. V. m. § 20 Abs. 2 Nr. 3 [X.].

Meta

5 AV 4/23

21.06.2023

Bundesverwaltungsgericht 5. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AV

vorgehend VG Arnsberg, 10. Mai 2023, Az: 9 K 759/23, Beschluss

§ 53 Abs 1 Nr 5 VwGO, § 53 Abs 3 S 1 VwGO, § 33 Abs 1 SGB 2

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 21.06.2023, Az. 5 AV 4/23 (REWIS RS 2023, 4129)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 4129

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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