Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.03.2023, Az. 5 StR 79/23

5. Strafsenat | REWIS RS 2023, 1785

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Tenor

Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des [X.] vom 20. Oktober 2022 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen aufrechterhalten.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Ihre mit der Sachrüge geführte Revision hat den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 [X.].

I.

2

1. Nach den Urteilsfeststellungen leidet die nicht vorbestrafte Beschuldigte seit mehreren Jahren an einer paranoiden Schizophrenie. Ihre krankheitsbedingten Wahnvorstellungen kreisen insbesondere darum, Opfer zahlreicher sexueller Übergriffe zu sein. Dies führte in den letzten Jahren zu Konflikten mit Freunden, Nachbarn und der Familie sowie zu einer Vielzahl unberechtigter Strafanzeigen.

3

Nach dem eigenmächtigen Abbruch einer medikamentösen Behandlung verfiel die Beschuldigte Ende August 2020 in einen akut psychotischen Zustand. Am 11. September 2020 kam es zu den [X.]: Am Nachmittag nahm sie krankheitsbedingt in einem Einkaufszentrum einen zweijährigen Jungen mit sich, der in der Nähe seiner Eltern spielte. Sie wollte das Kind aus einer von ihr angenommenen Gefahr befreien, mit ihm das Einkaufszentrum verlassen und es mit sich nach Hause nehmen oder mit dem Kind eine Polizeiwache aufsuchen. Dabei nahm sie zumindest billigend in Kauf, dass das Kind längere [X.] – mehr als 30 Minuten – von seinen Eltern getrennt sein würde.

4

Die Eltern, vor deren Augen sich die Tat abspielte, reagierten nach wenigen Sekunden, rannten der schnellen Schritts zum Ausgang gehenden Beschuldigten nach und holten sie alsbald ein. Vom Vater zur Rede gestellt gab sie an: „Wenn ihr auf Euer Kind nicht aufpasst, dann ist das Kind halt weg.“ Es entspann sich ein Streit zwischen beiden, in dem sie den Vater des Kindes beleidigte. Sie hielt ihm vor, er habe sie zur Prostitution gezwungen, und schrie schließlich, sie sei „vom [X.] besessen“. Es folgte eine Rangelei, bei der der Vater des Kindes die Beschuldigte zu Boden brachte und festhielt, während sie lauthals schrie und Drohungen ausstieß. Die Eltern und das Kind wurden durch den Vorfall nachhaltig belastet.

5

2. Der Sachverständigen (nach den [X.]) folgend hat die [X.] angenommen, infolge des psychotischen Zustandes der Beschuldigten sei bei Tatbegehung ihre Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, jedenfalls sicher erheblich vermindert, nicht ausschließbar auch aufgehoben gewesen.

II.

6

Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB hat keinen Bestand, weil deren Voraussetzungen nicht festgestellt sind.

7

1. Nach § 63 StGB darf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der [X.] schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruhte (st. Rspr.; [X.], Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 40/86, [X.]St 34, 22, 26 f.; Beschlüsse vom 6. Februar 1997 – 4 [X.], [X.]St 42, 385 f.; vom 10. November 2015 – 3 [X.], [X.], 402; Urteil vom 10. Januar 2019 – 1 [X.] Rn. 15; Beschluss vom 22. Juli 2020 – 1 StR 176/20, [X.], 239). Eine verminderte Einsichtsfähigkeit ist erst dann strafrechtlich von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der [X.] zur Folge hat. In diesen Fällen ist § 21 StGB als Sonderregelung des Verbotsirrtums (§ 17 StGB) erfüllt, wenn das Fehlen der [X.] vorwerfbar ist; kann ein solcher Vorwurf nicht erhoben werden, greift § 20 StGB ein (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschluss vom 6. August 2019 – 3 StR 46/19 Rn. 12 mwN). Erkennt der Täter dagegen das Unrecht seiner Tat, handelt er – unbeschadet seiner eingeschränkten Einsichtsfähigkeit – voll schuldhaft. Die bloße Feststellung, die Einsichtsfähigkeit sei bei Tatbegehung erheblich vermindert gewesen, reicht daher nicht zur Annahme von § 21 StGB und belegt damit auch nicht diese notwendige Voraussetzung des § 63 StGB (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschluss vom 28. September 2021 – 5 StR 232/21 mwN).

8

2. Dass die [X.]sfähigkeit der Beschuldigten bei Ausführung der [X.] sicher aufgehoben gewesen war, hat die [X.] nicht festgestellt. Zur damit entscheidenden Frage, ob bei ihr infolge der Verminderung ihrer Einsichtsfähigkeit die [X.] fehlte, verhält sich das Urteil nicht. Der [X.] kann dies auch nicht dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe entnehmen. Das angefochtene Urteil unterliegt deshalb der Aufhebung.

9

3. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind rechtsfehlerfrei getroffen und können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 [X.]).

4. Für die neue Hauptverhandlung wird sich die Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen anbieten, da es um die Beurteilung einer krankheitsbedingten Störung und deren Auswirkungen auf die Tatbegehung geht (vgl. LR/[X.], [X.], 27. Aufl., § 246a Rn. 4 mwN).

Cirener     

  

Gericke     

  

Mosbacher

  

Köhler     

  

[X.]     

  

Meta

5 StR 79/23

29.03.2023

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hamburg, 20. Oktober 2022, Az: 606 KLs 19/21

§ 20 StGB, § 21 StGB, § 63 StGB, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.03.2023, Az. 5 StR 79/23 (REWIS RS 2023, 1785)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 1785

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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