Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.11.2020, Az. 4 StR 422/19

4. Strafsenat | REWIS RS 2020, 2200

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Gegenstand

Sexueller Missbrauch von Jugendlichen: Ausnutzen der fehlenden sexuellen Selbstbestimmung des Tatopfers


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 25. März 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) soweit der Angeklagte in den Fällen [X.]) bis d) der Urteilsgründe verurteilt worden ist;

b) im Fall II. 2. e) der Urteilsgründe im Strafausspruch und im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in vier Fällen und Verbreitung pornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Seine hiergegen eingelegte Revision hat den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Die auf § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB gestützte Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in den Fällen [X.]) bis d) der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben. Zwar wird die Verurteilung nicht durch die Rücknahme des [X.] im Revisionsverfahren in Frage gestellt, denn die Staatsanwaltschaft hat mit der Anklageerhebung das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung im Sinne des § 182 Abs. 5 StGB bejaht (Seite 6 der Anklageschrift); die Urteilsgründe belegen aber nicht, dass der Angeklagte die ihm gegenüber fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausgenutzt hat.

3

a) Nach den hierzu getroffenen Feststellungen war der 1971 geborene Angeklagte, ein Arzt, mit der Familie des am 22. August 2001 geborenen [X.] befreundet. Sowohl der Angeklagte als auch der Nebenkläger haben eine homosexuelle Neigung. Der Nebenkläger hatte mit 13 Jahren erste sexuelle Erfahrungen gemacht. Nachdem es ab dem [X.] zu keinen Treffen innerhalb der Familie mehr gekommen war, an denen der Angeklagte und der Nebenkläger teilgenommen hatten, nahm der Nebenkläger im Oktober 2015 in Form einer [X.] Kontakt zu dem Angeklagten auf, weil er Interesse an sexuellen Erfahrungen hatte und er den Angeklagten in Bezug hierauf als „interessant“ empfand. Im Verlauf der weiteren Kommunikation schrieb der Nebenkläger dem Angeklagten, dass er Kontakt zu ihm suche, weil er „schwul“ sei, und schickte ihm auch ein Ganzkörpernacktbild von sich. Die sich anschließende Kommunikation war sexuell motiviert; konkrete Vorstellungen davon, wie sich die Verbindung zu dem Angeklagten entwickeln sollte, hatte der Nebenkläger nicht. Eine Liebesbeziehung bestand zu keinem [X.]punkt.

4

In der [X.] zwischen dem 22. August 2015 und Dezember 2015 kam es sodann zu mehreren Treffen zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger, die der Vornahme sexueller Handlungen dienten. Im ersten Fall, bei dem es sich zugleich um das erste persönliche Zusammentreffen beider nach der erneuten Kontaktaufnahme handelte, trafen sich der Angeklagte und der Nebenkläger in einem Hallenbad. Nachdem der Nebenkläger Bedenken des Angeklagten zerstreut hatte, begaben sich beide in eine Umkleidekabine und führten unter anderem wechselseitig den Oralverkehr aus. Dabei hatte sich der Nebenkläger zeitlich noch vor dem Angeklagten entkleidet (Fall [X.]) der Urteilsgründe). In der Folge berichtete der Nebenkläger dem Angeklagten über Telekommunikationsdienste von weiteren - von ihm erfundenen - sexuellen Kontakten zu anderen Männern. Bis November 2015 fanden noch zwei Treffen in dem Schwimmbad statt, bei denen es jeweils zu sexuellen Handlungen zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger kam (Fälle II. 2. b) und c) der Urteilsgründe). Bei einem weiteren Treffen auf einem Parkplatz vollzogen beide im Pkw des Angeklagten wechselseitig den Oralverkehr. Zuvor hatte der ortskundige Nebenkläger dem Angeklagten eine geeignete Parkposition für sein Fahrzeug gezeigt (Fall II. 2. d) der Urteilsgründe). In allen Fällen nahm der Angeklagte zumindest in Kauf, dass der Nebenkläger nur aus Unreife und seiner fehlenden Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung die sexuellen Handlungen ausführte und an sich vornehmen ließ, und nutzte dies zur Tatbegehung aus.

5

b) Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen begegnet die Annahme eines sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen gemäß § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

6

aa) Nach § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB wird bestraft, wer - als Person über 21 Jahren - eine Person unter 16 Jahren dadurch missbraucht, dass er sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder von ihr an sich vornehmen lässt und dabei die ihm gegenüber fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt. Das vom Tatbestand vorausgesetzte Fehlen der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung dem Täter gegenüber ergibt sich nicht schon allein aus dem Umstand, dass die betroffene jugendliche Person unter 16 Jahre alt ist, sondern bedarf der konkreten Feststellung im Einzelfall (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Juli 2020 - 1 [X.], NStZ-RR 2020, 344, 345; Beschluss vom 17. Juni 2020 - 2 StR 57/20 Rn. 10; Urteil vom 16. November 2017 - 3 [X.], [X.], 75; Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 [X.], [X.]R StGB § 182 Abs. 2 Selbstbestimmungsfähigkeit 1; Beschluss vom 17. Oktober 2006 - 4 StR 341/06, [X.], 329 mwN). Dabei ist wertend zu beurteilen, ob der Jugendliche im [X.]punkt der Tatbegehung nach seiner geistigen und seelischen Entwicklung reif genug war, die Bedeutung und Tragweite der konkreten sexuellen Handlung für seine Person angemessen zu erfassen und sein Handeln in Bezug auf den (erwachsenen) Täter danach auszurichten (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Juli 2020 - 1 [X.], NStZ-RR 2020, 344, 346; BT-Drucks. 12/4584, [X.], BT-Drucks. 18/2601, S. 29; [X.] in [X.]/[X.], StGB, 30. Aufl., § 182 Rn. 13a). Ersteres wird dann zweifelhaft sein, wenn das jugendliche Opfer - etwa durch Retardierung im intellektuellen Bereich oder ausgeprägte [X.] Fehlentwicklungen bedingt - einen bedeutenden Mangel an Urteilsvermögen aufweist (vgl. [X.], Urteil vom 16. November 2017 - 3 [X.], [X.], 75 f.; MüKoStGB/[X.], 3. Aufl., § 182 Rn. 61; [X.], StGB, 67. Aufl., § 182 Rn. 12a; [X.]/[X.], 3. Aufl., § 182 Rn. 24). Die Fähigkeit zur sexuellen Autonomie gegenüber dem Täter kann im Einzelfall auch fehlen, wenn die Beziehung zwischen ihm und dem Jugendlichen auf eine sexuelle Beherrschung angelegt ist oder der Täter sich - durch dominantes oder manipulatives Auftreten - unlauterer Mittel der Willensbeeinflussung bedient. Ein weiteres Indiz für das Bestehen eines solchen „[X.]“ kann auch ein erheblicher Altersunterschied sein (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Juli 2020 - 1 [X.], NStZ-RR 2020, 344, 346; BT-Drucks. 12/4584, [X.]; [X.] et al., Sexueller Missbrauch von Minderjährigen: Notwendige Reformen im Strafgesetzbuch, [X.]; LK/[X.], StGB, 12. Aufl., § 182 Rn. 65). Das Merkmal des Ausnutzens ist erfüllt, wenn sich der Täter die Unreife seines Opfers mit seinem unlauteren Verhalten bewusst zunutze macht (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Juli 2020 - 1 [X.], NStZ-RR 2020, 344, 346).

7

bb) Daran gemessen vermögen die Urteilsgründe nicht zu belegen, dass der Nebenkläger gegenüber dem Angeklagten zu einer sexuellen Selbstbestimmung nicht fähig war und der Angeklagte dies ausgenutzt hat.

8

(1) [X.] meint, der Nebenkläger habe ein altersuntypisches auffällig sexualisiertes Verhalten gezeigt, das angesichts des jungen Alters des [X.] nicht auf einer alterstypischen sexuellen Entwicklung beruht haben konnte. Seine fehlende sexuelle Selbstbestimmungsfähigkeit sei auch dadurch deutlich erkennbar hervorgetreten, dass er dem Angeklagten auf Nachfrage über noch intensivere sexuelle Handlungen mit anderen Männern berichtete.

9

(2) Diese Erwägungen greifen zu kurz. Soweit die [X.] aus dem als altersuntypisch eingestuften Sexualverhalten des [X.] auf einen Mangel an sexueller Selbstbestimmungsfähigkeit schließen will, fehlt es dafür an ausreichenden Belegen. Feststellungen zu einer Retardierung im intellektuellen Bereich oder zu ausgeprägten [X.]n Fehlentwicklungen hat die [X.] in Bezug auf den Nebenkläger nicht getroffen. Die Art und Weise, wie der Nebenkläger die Beziehung zu dem Angeklagten angebahnt hat, und sein bestimmendes Auftreten bei den sexuellen Kontakten, lassen sich nicht ohne Weiteres als Ausdruck von Unreife oder Unkenntnis im Umgang mit der eigenen Sexualität deuten. Für ein „Machtgefälle“ zwischen dem Nebenkläger und dem Angeklagten, das es dem Nebenkläger erschwert haben könnte, seine sexuellen Interessen durchzusetzen, fehlt angesichts seiner Dominanz bei der Konstellierung und der Durchführung der Treffen mit dem Angeklagten jeglicher Anhaltspunkt.

2. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Wegfall der Verurteilung in den Fällen [X.]) bis d) der Urteilsgründe entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage. Der Senat hebt auch die Einzelstrafe für die Verurteilung wegen Verbreitung pornografischer Schriften gemäß § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB auf, um der [X.] gegebenenfalls eine abgestimmte Strafzumessung zu ermöglichen. Dabei wird auch die überlange Dauer des Revisionsverfahrens zu berücksichtigen sein.

Sost-Scheible     

        

Bender     

        

Quentin

        

Bartel     

        

Maatsch     

        

Meta

4 StR 422/19

18.11.2020

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Essen, 25. März 2019, Az: 65 KLs 1/19

§ 182 Abs 3 Nr 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.11.2020, Az. 4 StR 422/19 (REWIS RS 2020, 2200)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2200

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 StR 221/20

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