Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.03.2012, Az. III R 87/03

3. Senat | REWIS RS 2012, 8131

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Gegenstand

(Kindergeldanspruch einer nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländerin, wenn sich im Revisionsverfahren Hinweise auf eine türkische Staatsangehörigkeit ergeben)


Leitsatz

1. NV: Eine Kindesmutter aus dem Libanon, der die Aufenthaltsbefugnis rechtskräftig rückwirkend aberkannt wurde und die nicht in den Arbeitsmarkt integriert war, hat keinen Anspruch auf Kindergeld .

2. NV: Werden nach der Wiederaufnahme des ruhenden Revisionsverfahrens Unterlagen vorgelegt, die für eine türkische Staatsangehörigkeit der Klägerin sprechen - so dass ein Kindergeldanspruch aufgrund des Vorläufigen Europäischen Abkommens über soziale Sicherheit gegeben wäre -, so verhilft das der Revision nicht zum Erfolg, wenn das FG bindend festgestellt hat, dass die Klägerin die Tochter aus dem Libanon eingereister Kurden ist und ihre Staatsangehörigkeit von ihr selbst und in einem deutschen Reisedokument als libanesisch bezeichnet wurde .

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wurde im März 1984 in der [X.] ([X.]) als Tochter [X.] Eltern geboren, die aus dem [X.] eingereist waren. Im April 2002 beantragte sie für ihre im Januar 2002 geborene Tochter Kindergeld und gab an, die [X.] Staatsangehörigkeit zu besitzen. Sie war im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis und eines Reisedokuments, das ihre Staatsangehörigkeit ebenfalls als "libanesisch" bezeichnete.

2

Mit Bescheid vom 16. April 2002 lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) den Antrag ab und wies zur Begründung darauf hin, dass ausländischen Staatsangehörigen ohne qualifizierte Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung (§§ 15, 27 des Ausländergesetzes --AuslG--) ein Kindergeldanspruch nicht zustehe. In dem sich anschließenden Einspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, sie sei staatenlos und habe deshalb einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit [X.] Staatsangehörigen.

3

Die Familienkasse wies den Einspruch durch Bescheid vom 16. Mai 2002 als unbegründet zurück. Die Klägerin sei durch die Ausländerbehörde nicht als Staatenlose anerkannt. An diese Feststellung sei sie --die [X.] gebunden; eigene Feststellungen zum aufenthaltsrechtlichen Status habe sie nicht zu treffen.

4

Die Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht ([X.]) führte aus, Ausländer mit Wohnsitz in [X.] hätten --anders als [X.] [X.] nur dann Anspruch auf Kindergeld nach den einkommensteuerrechtlichen Vorschriften, wenn sie zugleich im Besitz eines Aufenthaltstitels in Form einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung (§§ 15, 27 AuslG i.d.[X.] vom 9. Juli 1990, [X.] 1990, 1354) seien. Sonderregelungen (z.B. für Bürger der [X.] und Bürger aus Ländern mit zwischenstaatlichen Abkommen) seien im Streitfall nicht einschlägig.

5

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung materiellen Rechts. Soweit das [X.] die Frage eines Kindergeldanspruchs nach dem [X.] vom 28. September 1954 über die Rechtsstellung von Staatenlosen --StlÜbk-- ([X.], 473) habe dahinstehen lassen, sei auch ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.

6

Der Senat beschloss in der Sitzung am 22. November 2007, nach § 126a der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zu verfahren, und teilte dies dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin sowie der Familienkasse mit.

7

Das Verfahren wurde jedoch stattdessen durch Beschluss vom 20. Dezember 2007 gemäß § 74 [X.]O ausgesetzt, weil der Klägervertreter darauf hingewiesen hatte, dass der Verwaltungsgerichtshof ([X.]) [X.] mit Beschluss vom 23. August 2007 die Berufung gegen das Urteil des [X.] vom 22. November 2006  2 K 5016/04 zugelassen habe, in welchem aufenthaltsbeendende Maßnahmen der Ausländerbehörde bestätigt wurden (u.a. Rücknahme der Aufenthaltsbefugnis).

8

Nachdem der [X.] die Berufung wegen Versäumung der Begründungsfrist rechtskräftig verworfen hatte, wurde das Verfahren durch Senatsbeschluss vom 29. Juli 2011 fortgesetzt.

9

Die Klägerin hat sodann ausgeführt, dass sie "ebenso wie ihre Eltern jedenfalls von der Abstammung her [X.] Staatsangehörige sein müsse". Dies sei dem Urteil des [X.] [X.] vom 2. Juli 2009 zu entnehmen, mit dem die Stadt … verpflichtet wurde, über den Antrag ihres Bruders auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes erneut zu entscheiden. Dort werde ausgeführt, dass ihr Bruder als [X.] eines [X.]n Vaters und unabhängig davon auch als [X.] einer [X.]n Mutter [X.]r Staatsangehöriger sei.

Zur Kindergeldberechtigung führt die Klägerin nunmehr aus, dass diese sich für die [X.] bis 2010 mangels Aufenthaltsbefugnis bzw. -erlaubnis nicht aus § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebe. Sie erfülle jedoch als [X.] Staatsbürgerin die Voraussetzungen des § 2 des [X.] ([X.]) vom 11. Dezember 1953 ([X.]I 1956, 507, [X.]I 1956, 563 und [X.]I 1958, 18). Insoweit sei unerheblich, dass sie für sich selbst und ihre Kinder Sozialhilfe und Asylbewerberleistungen bezogen habe; dies sei allenfalls für Erstattungsansprüche der Leistungsträger bedeutsam.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das [X.]-Urteil und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für die am 16. Januar 2002 geborene Tochter zu gewähren.

Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 [X.]O).

1. Das [X.] hat zutreffend entschieden, dass eine Kindesmutter aus dem [X.], die nicht über eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung im Inland verfügt, nach § 62 Abs. 2 EStG a.F. keinen Anspruch auf Kindergeld hat. Weil die Aufenthaltsbefugnis der Klägerin rechtskräftig rückwirkend aberkannt wurde, ergibt sich ein Anspruch auf Kindergeld für den streitigen Zeitraum, d.h. von Januar 2002 bis zum Zugang der Einspruchsentscheidung im Mai 2002 (Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 71/10, [X.], 298), auch nicht aus § 62 Abs. 2 EStG i.d.F. des Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13. Dezember 2006 ([X.], 2915), der gemäß § 52 Abs. 61a EStG im Streitfall anwendbar ist. Im Übrigen ist zwischen den Beteiligten nunmehr auch zu Recht unstreitig, dass der Klägerin nach rechtskräftigem Entzug der Aufenthaltsbefugnis kein Kindergeld nach § 62 Abs. 2 EStG n.F. zusteht, da sie jedenfalls mangels Integration in den Arbeitsmarkt die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG nicht erfüllte.

Aus Art. 24 und Art. 29 [X.] folgt ebenfalls kein Anspruch auf Kindergeld (Senatsurteil vom 22. November 2007 III R 60/99, [X.], 39, [X.], 910).

2. Die vom Prozessbevollmächtigten nach der Fortsetzung des Verfahrens vorgelegten Unterlagen deuten darauf hin, dass die Klägerin [X.] Staatsangehörige sein dürfte; dies entspricht auch der Auffassung der Einbürgerungsbehörde, wie der [X.] in seinem Beschluss vom 19. November 2008 ausgeführt hat. Dies verhilft der Revision aber nicht zum Erfolg.

a) [X.] Staatsbürger, die seit wenigstens sechs Monaten in [X.] wohnen, haben nach dem [X.] Anspruch auf Kinder-geld unter denselben Voraussetzungen (§ 62 Abs. 1 EStG) wie [X.] Staatsbürger. Obwohl sie nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer sind, gelten für sie aufgrund des [X.] die [X.] des § 62 Abs. 2 EStG nicht (Senatsurteile vom 17. Juni 2010 III R 42/09, [X.], 337; vom 15. Juli 2010 III R 76/08, [X.], 213). Dies entspricht auch der Auffassung der Verwaltung (Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des [X.] 2010 62.4.3 Abs. 2, Abs. 3 Satz 6).

b) Der Senat ist jedoch nach § 118 Abs. 2 [X.]O als Revisionsgericht an den vom [X.] verfahrensfehlerfrei festgestellten Sachverhalt gebunden, dass die Klägerin die Tochter aus dem [X.] eingereister [X.] ist, ihre Staatsangehörigkeit von ihr selbst und in dem durch die … ausgestellten Reisedokument als libanesisch bezeichnet wurde und sie Klage auf Einbürgerung als Staatenlose aus dem [X.] erhoben hatte. Hinweise auf eine [X.] Staatsangehörigkeit finden sich im [X.]-Urteil nicht; die Klägerin hat sich bis zum Abschluss des Klageverfahrens --und noch in den ersten Jahren des [X.] nie auf eine [X.] Staatsbürgerschaft berufen.

aa) Infolge der Bindungswirkung des § 118 Abs. 2 [X.]O darf der [X.] nur den vom [X.] festgestellten Sachverhalt zur Grundlage seiner Prüfung machen; denn ein Revisionsgericht hat ein angefochtenes Urteil grundsätzlich nur auf Rechtsfehler zu prüfen (Lange in [X.]/[X.]/[X.], § 118 [X.]O Rz 120, m.w.N.). Das [X.] wiederum entscheidet nach § 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O auf der tatsächlichen Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens; es darf sein Urteil nach § 96 Abs. 2 [X.]O nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

bb) Die Bindungswirkung gilt indessen nicht ausnahmslos. Der [X.] kann z.B. selbst Tatsachen feststellen, die für das Vorliegen der Sachentscheidungsvoraussetzungen, die Wirksamkeit von Prozesshandlungen sowie für Verfahrensmängel bedeutsam sind (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 43 ff.; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 118 [X.]O Rz 90 ff.) oder nach § 134 [X.]O i.V.m. §§ 578 bis 583 der Zivilprozessordnung einen Wiederaufnahmegrund ergäben (Senatsurteil vom 3. Juni 1987 III R 209/83, [X.]E 150, 418, [X.] 1988, 277). Im Streitfall liegt jedoch keine dieser Ausnahmen vor.

cc) Die Bindung an einen vom [X.] nur unvollständig festgestellten Sachverhalt kann nach dem [X.]-Urteil vom 28. Februar 1990 I R 43/86 ([X.]E 160, 180, [X.] 1990, 615) entfallen, wenn ein Beteiligter in der mündlichen Verhandlung diesbezüglich eine zulässige Gegenrüge erhebt und die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erklären, dass ergänzende Tatsachen zu dem vom [X.] nur teilweise festgestellten Sachverhalt unstreitig seien. Dies trifft vorliegend jedoch ebenfalls nicht zu.

dd) Im Streitfall kann dahinstehen, ob die [X.] Staatsangehörigkeit der Klägerin unstreitig geworden ist, weil die Familienkasse dem nicht widersprochen hat. Denn neue Tatsachen können im Revisionsverfahren grundsätzlich auch dann nicht berücksichtigt werden, wenn sie unstreitig sind, weil es nicht Aufgabe des Revisionsverfahrens ist, einer nach dem vom [X.] festgestellten Sachverhalt zu Recht als unbegründet abgewiesenen Klage aufgrund damals weder von den Beteiligten noch vom [X.] bemerkter Tatsachen doch noch zum Erfolg zu verhelfen. Das gilt auch dann, wenn es dem [X.] nicht möglich oder zumutbar war, die betreffenden Tatsachen in der Tatsacheninstanz geltend zu machen ([X.]-Urteil vom 5. Oktober 1999 VII R 152/97, [X.]E 191, 140, [X.] 2000, 93; Lange in [X.], § 118 [X.]O Rz 132).

3. [X.] die Klägerin wendet sich insoweit lediglich gegen die materielle Richtigkeit des [X.]-Urteils. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 126 Abs. 6 Satz 1 [X.]O).

4. Die Beteiligten haben im Jahr 2003 auf mündliche Verhandlung verzichtet und diesen Verzicht nicht widerrufen. Obwohl ein "Verbrauch" derartiger Verzichtserklärungen grundsätzlich weder durch Zeitablauf noch durch die Aussetzung des Verfahrens eintritt (dazu [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 90 [X.]O Rz 11), hält es der Senat für sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.

Meta

III R 87/03

15.03.2012

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 27. Mai 2003, Az: 4 K 172/02, Urteil

§ 62 Abs 2 EStG 2002, § 118 Abs 2 FGO, § 90 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.03.2012, Az. III R 87/03 (REWIS RS 2012, 8131)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8131

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