Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19.10.2011, Az. 5 C 6/11

5. Senat | REWIS RS 2011, 2186

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Gegenstand

Kostenerstattungsstreit zwischen Jugendhilfeträger und Sozialhilfeträger; gleichartige Leistungspflichten; Auslegung der gesetzlichen Vorrang- und Nachrangregelung


Leitsatz

Im Rahmen der Vorrang-Nachrang-Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (juris: SGB 8) 2005 ist nur eine Konkurrenz gleichartiger Leistungspflichten und keine Identität der Anspruchsberechtigten erforderlich.

Tatbestand

1

Die klagende [X.] begehrt als Jugendhilfeträgerin von dem beklagten [X.] als Sozialhilfeträger die Erstattung der Kosten, die sie im Zeitraum vom 13. Dezember 2006 bis zum 28. Februar 2009 für die vollstationäre Unterbringung eines geistig behinderten Jungen aufgewendet hat.

2

Das hilfebedürftige Kind wurde im März 1999 geboren. Bei ihm wurde schon früh ein erheblicher Entwicklungsrückstand und eine unterdurchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit festgestellt. Er wuchs anfangs bei seiner geistig behinderten Mutter und seinem stark körperlich behinderten Vater in einem [X.] auf. [X.] kam es zu einer tiefgreifenden Beziehungskrise zwischen Vater und Mutter und zu gravierenden Problemen im [X.]. Der Junge zeigte erhebliche Verhaltensauffälligkeiten, in deren Verlauf er sein Haustier, ein Meerschweinchen, tötete. Am 29. November 2006 bezog die allein sorgeberechtigte Mutter eine eigene Wohnung und beließ ihren [X.] in der Obhut des Heims. Sie beantragte durch ihre Betreuerin bei der Klägerin die Bewilligung von Jugendhilfe nach § 34 [X.], weil weder sie noch der Vater die weitere Erziehung ihres [X.]es gewährleisten könnten. Am 13. Dezember 2006 beantragte sie deswegen auch Eingliederungshilfe für behinderte Menschen bei dem Beklagten.

3

Die Klägerin übernahm vorläufig die Heimpflegekosten und verlangte von dem beklagten Sozialhilfeträger Kostenerstattung. Damit hatte sie außergerichtlich und erstinstanzlich keinen Erfolg. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung geändert und den Beklagten verpflichtet, der Klägerin die Kosten für die Heimunterbringung von mehr als zwei Jahren in Höhe von 91 050,97 € nebst Zinsen zu zahlen. Im vorliegenden Fall bestehe zum einen eine Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers nach den Bestimmungen über die Eingliederungshilfe (§§ 53 ff. [X.]) und zum anderen eine Pflicht der Jugendhilfeträgerin zur Gewährung von Erziehungshilfe nach §§ 27 ff., 34 [X.]. In einem solchen Fall kongruenter Leistungspflichten bestimme § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.], dass der Sozialhilfeträger vorrangig leistungspflichtig sei.

4

Mit seiner Revision vertritt der beklagte [X.] den Standpunkt, dass die Heimunterbringung nicht durch die geistige Behinderung des Kindes, sondern ausschließlich durch Erziehungsprobleme bedingt gewesen sei. Es bestehe daher schon kein Anspruch auf Eingliederungshilfe für die Heimunterbringung. Jedenfalls liege der Schwerpunkt des Falles eindeutig im Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfe, was bei der Auslegung des § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] berücksichtigt werden müsse.

5

Die Klägerin verteidigt das Berufungsurteil. Der Vertreter des [X.] beim [X.] hat sich am Verfahren beteiligt.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision des [X.]eklagten ist nicht begründet. Das angegriffene Urteil steht mit [X.]undesrecht in Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat insbesondere § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] in der für den Zeitraum vom Dezember 2006 bis Februar 2009 maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vom 8. September 2005 ([X.], 2729 - im Folgenden: § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005) rechtsfehlerfrei angewandt. Der [X.]eklagte ist nach dieser Vorschrift als Träger der Eingliederungshilfe vorrangig zur Leistung verpflichtet.

7

1. Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SG[X.] X ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, grundsätzlich der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der [X.]erechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte. Nach § 104 Abs. 1 Satz 2 SG[X.] X ist ein Leistungsträger nachrangig verpflichtet, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet wäre. Ein entsprechender Erstattungsanspruch nach diesen [X.]estimmungen setzt damit voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (Urteile vom 22. Oktober 2009 - [X.]VerwG 5 [X.] 19.08 - [X.]VerwGE 135, 159 Rn. 8 und vom 2. März 2006 - [X.]VerwG 5 [X.] 15.05 - [X.]VerwGE 125, 95 <96>).

8

Für den streitigen Zeitraum bestand im Hinblick auf die Heimunterbringung des hilfebedürftigen Kindes sowohl eine Leistungspflicht der Klägerin als Trägerin der Jugendhilfe nach §§ 27, 34 [X.] (2.) als auch ein Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach §§ 53 ff. [X.] gegen den [X.]eklagten als Träger der Sozialhilfe (3.). Dabei ging die auf Eingliederungshilfe gerichtete Leistungsverpflichtung des [X.]eklagten der Verpflichtung zur Leistung von Jugendhilfe gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 vor (4.).

9

2. Zwischen den [X.]eteiligten besteht zu Recht Einigkeit darüber, dass die jugendhilferechtlichen Voraussetzungen für eine Heimunterbringung vorlagen. Nach § 27 Abs. 1 [X.] hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Nach den tatrichterlichen Feststellungen des [X.] waren die selbst geistig bzw. körperlich behinderten Eltern jedenfalls seit Dezember 2006 aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeits- und [X.]eziehungsprobleme der Erziehungsaufgabe nicht mehr gewachsen, so dass sie ihren bisherigen Erziehungsbeitrag auch in der unterstützenden Umgebung des [X.] nicht weiter leisten konnten. Es war daher aus Gründen des Kindeswohls eine umfassende erzieherische Hilfeleistung geboten. Die von der sorgeberechtigten Mutter beantragte Hilfe in Form der Heimerziehung nach § 34 [X.] war nach den von den [X.]eteiligten nicht in Zweifel gezogenen tatsächlichen Feststellungen des [X.] die nach den konkreten Umständen des Einzelfalls einzig in [X.]etracht kommende Alternative. Die Heimerziehung erwies sich auch rückblickend als geeignete Hilfeform, weil sich die zuvor von dem Kind gezeigten Verhaltensauffälligkeiten während des [X.] zurückgebildet haben.

3. Der Hilfeempfänger hatte im entscheidungserheblichen Zeitraum auch einen Anspruch auf Unterbringung nach den Vorschriften der Eingliederungshilfe. Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 [X.] erhalten Personen, die durch eine [X.]ehinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SG[X.] IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen [X.]ehinderung bedroht sind, Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der [X.]esonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der [X.]ehinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Dabei zählen zu den Leistungen der Eingliederungshilfe auch vollstationäre Unterbringungen (vgl. Urteil vom 22. Oktober 2009 a.a.[X.] Rn. 14).

Im vorliegenden Fall gehört der Hilfeempfänger zum Kreis der grundsätzlich leistungsberechtigten Personen im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SG[X.] IX, weil er aufgrund seiner leichten bis mittelgradigen geistigen [X.]ehinderung wesentlich in seiner Fähigkeit, am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben, beeinträchtigt und im Vergleich zu anderen Kindern seiner Altersgruppe im weitaus stärkeren Maße auf fremde Hilfe angewiesen ist. Auch besteht die Aussicht, dass die in § 53 Abs. 3 [X.] umschriebene Aufgabe der Eingliederungshilfe erreicht werden kann. Insbesondere kann die Teilnahme am Leben in der [X.] erleichtert werden. Dementsprechend besteht grundsätzlich ein Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe nach § 53 Abs. 1 Satz 1 [X.] und nicht nur ein Ermessensanspruch nach § 53 Abs. 1 Satz 2 [X.].

Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, dass sich der Umfang der zu gewährenden Sozialhilfeleistungen nach der allgemeinen Regelung des § 9 Abs. 1 [X.] stets nach den [X.]esonderheiten des Einzelfalls richtet, insbesondere nach der Art des [X.]edarfs, den örtlichen Verhältnissen, den eigenen Kräften und Mitteln der Person oder des Hauhalts bei der Hilfe zum Lebensunterhalt. Aus dem in dieser Norm verankerten [X.] folgt, dass im Sozialhilferecht grundsätzlich der gesamte im konkreten Einzelfall anzuerkennende Hilfebedarf abzudecken ist (vgl. Urteile vom 22. Oktober 1992 - [X.]VerwG 5 [X.] 11.89 - [X.]VerwGE 91, 114 und vom 30. September 1993 - [X.]VerwG 5 [X.] 49.91 - [X.]VerwGE 94, 211). Auf die Gründe für die Notlage kommt es nicht an. Demzufolge ist für die Frage, ob der Anspruch auf Eingliederungshilfe im Einzelfall ambulante, teilstationäre oder vollstationäre Leistungen umfasst, stets auf den konkreten und individuellen Hilfebedarf abzustellen. Nicht entscheidend ist, ob der Hilfebedarf ausschließlich durch die geistige [X.]ehinderung des Leistungsberechtigten bedingt ist oder ob andere Umstände - wie der Ausfall elterlicher [X.]etreuungsleistungen - für den Umfang des Hilfebedarfs mitursächlich sind. Der [X.] lässt es auch grundsätzlich nicht zu, den konkreten Hilfebedarf in einzelne Komponenten aufzuspalten und die bei isolierter [X.]etrachtung hierfür hypothetisch erforderlichen Hilfeleistungen (im Sinne eines erzieherischen oder behinderungsbedingten [X.]edarfs) gegenüberzustellen. Vielmehr ist der gesamte konkrete [X.]edarf zugrunde zu legen (vgl. [X.]eschluss vom 10. August 2007 - [X.]VerwG 5 [X.] 187.06 - juris Rn. 9).

Soweit der [X.]eklagte unter [X.]ezugnahme auf Gutachten und amtliche Stellungnahmen geltend macht, dass für die Heimunterbringung ausschließlich ein erzieherischer [X.]edarf bestanden habe, widerspricht dies den im Revisionsverfahren nach § 137 Abs. 2 VwGO zugrunde zu legenden tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen. Das [X.]erufungsgericht hat festgestellt, dass der Hilfeempfänger in dem hier maßgeblichen Zeitraum nicht nur in einzelnen klar abgrenzbaren Lebensbereichen, wie etwa dem schulischen [X.]ereich, einen Hilfebedarf hatte, sondern bei seinem gesamten [X.] auch im Hinblick auf seine [X.]ehinderung einer umfassenden [X.]etreuung und Erziehung bedurfte ([X.]). Insofern bestand - wie die Klägerin mit Recht hervorhebt - nicht nur ein [X.]edarf für eine ambulante Hilfe und eine [X.]etreuung in einer Förderschule für geistige Entwicklung, sondern ein [X.]edarf für eine Unterbringung über Tag und Nacht. Da nach den Feststellungen des [X.] keine praktische Alternative zu einer vollstationären Unterbringung in einem Heim für geistig behinderte Kinder bestand, war auch das hinsichtlich der Art und des Umfangs der Leistungserbringung grundsätzlich bestehende Ermessen des [X.]eklagten nach § 17 Abs. 2 [X.] auf Null reduziert. Damit hatte der Hilfeempfänger auch einen sozialhilferechtlichen Anspruch auf Heimunterbringung.

4. Die Klägerin hat auch als Jugendhilfeträgerin einen Erstattungsanspruch gegen den [X.]eklagten als Sozialhilfeträger, weil ihre Leistungspflicht nachrangig im Sinne von § 104 Abs. 1 Satz 1 SG[X.] X ist. Nach § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 besteht hier vielmehr ein Vorrang der Leistungen der Eingliederungshilfe vor denen der Jugendhilfe. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift sind erfüllt. Die Anwendbarkeit der Vorschrift wird entgegen der Rechtsansicht der Revision auch nicht mit [X.]lick darauf, dass der Schwerpunkt des Falles im erzieherischen [X.]ereich liege, ausgeschlossen.

a) § 10 Abs. 4 [X.] 2005 regelt das Rangverhältnis zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. Nach Satz 2 dieser [X.]estimmung gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften [X.]uch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen [X.]ehinderung bedroht sind, Leistungen nach dem Achten [X.]uch (Jugendhilfe) vor. Die vorrangige Leistungsverpflichtung des beklagten Trägers der Eingliederungshilfe gegenüber der klagenden Trägerin der Jugendhilfe besteht daher nur, soweit es um Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen mit körperlicher oder geistiger [X.]ehinderung geht. Das ist hier - wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat - der Fall.

Weitere Voraussetzung für das Rangverhältnis zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 ist, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe gegeben und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (Urteile des Senats vom 23. September 1999 - [X.]VerwG 5 [X.] 26.98 - [X.]VerwGE 109, 325 <329> und vom 2. März 2006 a.a.[X.]). Diese Kongruenz der Leistungspflichten ist im vorliegenden Fall erfüllt. Die hier umstrittene vollstationäre Heimunterbringung ist sowohl Leistungsgegenstand der Eingliederungshilfe als auch Inhalt der Jugendhilfeleistung nach § 34 [X.]. [X.]eide Leistungspflichten sind hier nicht nur teilweise, sondern vollständig deckungsgleich. Die jugendhilferechtliche Heimunterbringung umfasst nach § 39 [X.] nicht nur die pädagogische [X.]etreuung, sondern auch den laufenden Unterhalt. Nichts anderes gilt für die vollstationäre Unterbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe, die ebenfalls nach § 76 Abs. 2 [X.] Unterkunft und Verpflegung einschließen (vgl. Urteil vom 2. März 2006 a.a.[X.]).

Für das Erfordernis der vollständigen oder mindestens teilweisen Deckungsgleichheit der Leistungspflichten kommt es nicht darauf an, ob der junge Mensch für beide Leistungen anspruchsberechtigt ist. Im vorliegenden Fall ist der Hilfeempfänger zwar Inhaber des [X.]. Hingegen steht der jugendhilferechtliche Anspruch auf Hilfe zur Erziehung seiner sorgeberechtigten Mutter zu. Dieses Auseinanderfallen der Anspruchsberechtigung ist jedoch schon nach dem Wortlaut des § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 unschädlich, weil der Wortlaut der Vorschrift nur auf eine Überschneidung der "Leistungen" abstellt. Eine Übereinstimmung der Anspruchsberechtigung ist auch nach dem Sinn und Zweck der Norm nicht erforderlich. § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 dient dazu, den vorrangig in der Pflicht stehenden Leistungsträger zu ermitteln, d.h. den primär leistungspflichtigen Schuldner zu bestimmen. Dieses Konkurrenzproblem auf der Seite der Schuldner bedarf auch dann einer Lösung, wenn für dieselbe zu erbringende Leistung zwei unterschiedliche Gläubiger bestehen. Daher genügt es für die Anwendung des § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005, wenn die miteinander konkurrierenden inhaltsgleichen Leistungen gegenüber demselben jungen Menschen als Leistungsempfänger zu erbringen sind. Dementsprechend ist im Rahmen der [X.] des § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 nur eine Konkurrenz gleichartiger Leistungspflichten und keine Identität der Anspruchsberechtigten erforderlich.

b) [X.]estehen kongruente Leistungspflichten, genügt dies für die Anwendung der Konkurrenzregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 und löst ihre Rechtsfolge, den Vorrang der Eingliederungshilfe, aus. Die Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des [X.]undesverwaltungsgerichts keine eng auszulegende Ausnahme von dem in § 10 Abs. 4 Satz 1 [X.] 2005 angeordneten Vorrang der Jugendhilfe. Sie ist daher auch nicht in dem Sinne einschränkend auszulegen, dass sie nur zur Anwendung käme, wenn der Schwerpunkt des [X.]edarfs oder des [X.] oder -ziels im [X.]ereich der Eingliederungshilfe liegt. Vielmehr stellt die Vorschrift des § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 schon nach ihrem unmissverständlichen Wortlaut nur auf das formale Kriterium der Gleichartigkeit der Leistungspflichten ab. Sie vermeidet damit die Rechtsunsicherheiten, die mit der Verwendung des materiellen Kriteriums des Schwerpunkts des [X.]edarfs oder des [X.] oder -ziels verbunden wären (vgl. Urteile vom 23. September 1999 a.a.[X.] <329 f.> und vom 22. Oktober 2009 a.a.[X.] Rn. 32 f.).

An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Gerade der vorliegende Fall zeigt, zu welchen Auslegungsproblemen das Abstellen auf einen Schwerpunkt der Leistung führen würde. Zwar war hier der Anlass für die separate Heimunterbringung des Kindes der Wegfall des elterlichen Erziehungsbeitrags, so dass man bei einer kausalen [X.]etrachtungsweise, wie sie der [X.]eklagte fordert, von einem vorwiegend erzieherischen [X.]edarf ausgehen könnte. Hingegen ist bei einer eher finalen [X.]etrachtungsweise des mit der Heimerziehung verfolgten [X.] kein eindeutiger Schwerpunkt im erzieherischen [X.]ereich auszumachen. Da sich das Verhalten des hilfebedürftigen Kindes normalisiert hat, seine geistige [X.]ehinderung aber fortbesteht, muss zwangsläufig die Förderung der geistigen Entwicklung im Vordergrund der weiteren [X.]emühungen stehen. Es könnten sich somit je nach [X.]etrachtungsweise und Lebenssituation unterschiedliche Schwerpunkte des [X.]edarfs oder der Leistung ergeben, was bei der [X.]estimmung des vorrangig zuständigen Leistungsträgers zwangsläufig eine erhebliche Rechtsunsicherheit nach sich ziehen müsste.

Ferner muss die Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass in den meisten Ländern für die Eingliederungshilfe von behinderten Menschen aufgrund der erforderlichen Spezialisierung und wegen der mit dieser Aufgabe verbundenen hohen Kosten regionale oder landesweite Körperschaften (Landschaftsverbände, [X.]ezirke etc.) mit entsprechend starker Finanzausstattung zuständig sind. Hingegen wird die Jugendhilfe von den kommunalen Gebietskörperschaften (Städte und Kreise) getragen, die regelmäßig über keine vergleichbare Spezialisierung im [X.]ereich der [X.]ehindertenhilfe und über eine deutlich geringere Finanzausstattung verfügen. § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 bewirkt, dass die kommunalen Gebietskörperschaften von den speziellen Anforderungen und von den erheblichen Kosten entlastet werden, die die Eingliederungshilfe für junge geistig und körperlich behinderte Menschen mit sich bringt. Diese gesetzgeberische Entscheidung zur Entlastung der kommunalen Jugendhilfeträger enthält bei [X.]estehen der in § 10 Abs. 4 Satz 2 [X.] 2005 vorausgesetzten Doppelzuständigkeit keine Einschränkung. Vielmehr wird der Entlastungseffekt beeinträchtigt, wenn in einer größeren Zahl von Fällen gleichwohl die vorrangige Verantwortung den [X.] aufgebürdet wird. Auch dies spricht nach geltendem Recht gegen die geforderte [X.]erücksichtigung des Schwerpunkts der Leistung.

Meta

5 C 6/11

19.10.2011

Bundesverwaltungsgericht 5. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 1. April 2011, Az: 12 A 153/10, Urteil

§ 10 Abs 4 SGB 8 vom 08.09.2005, § 27 Abs 1 SGB 8, § 34 SGB 8, § 2 Abs 1 SGB 9, § 104 Abs 1 SGB 10, § 53 SGB 12, § 9 Abs 1 SGB 12, § 17 Abs 2 SGB 12

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19.10.2011, Az. 5 C 6/11 (REWIS RS 2011, 2186)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2186

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