Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.10.2023, Az. KZR 70/21

Kartellsenat | REWIS RS 2023, 8049

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Gegenstand

Kartellverfahren: Aussetzung eines Verfahrens über die Rückforderung von Entgelten zur Nutzung der Eisenbahninfrastruktur


Tenor

Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung der [X.] im Verfahren zur Rücknahme und Neubescheidung betreffend die Überprüfung von in der Vergangenheit liegenden [X.] ([X.]-22-[X.]) ausgesetzt.

Gründe

1

I. Die Beklagte, eine Tochtergesellschaft der [X.], ist ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen im Sinne des § 2 Abs. 1 Allgemeines Eisenbahngesetz ([X.]). Sie unterhält etwa 5.400 Bahnhöfe ([X.]) in [X.]. Die Klägerin, ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, nutzt die Bahnhöfe der Beklagten für den Schienenpersonennahverkehr. Die Parteien streiten über die Höhe der dafür zu entrichtenden Entgelte.

2

Die Beklagte schließt mit den Eisenbahnverkehrsunternehmen, die die von ihr vorgehaltene Infrastruktur in Anspruch nehmen wollen, jeweils Rahmenverträge über die Stationsnutzung ab. Darin nimmt sie hinsichtlich der Höhe der Nutzungsentgelte Bezug auf ihre jeweils gültige Stationspreisliste (Stationspreissystem, SPS).

3

Die Parteien schlossen im November 1998 einen derartigen Rahmenvertrag. Damals galt das Preissystem 1999 ([X.]). Zum 1. Januar 2005 führte die Beklagte ein neues Preissystem ([X.]) ein. Die Klägerin, für die das neue System zu Preiserhöhungen führte, zahlte die [X.] ab dem 1. Januar 2005 nur unter Vorbehalt. Mit Bescheid vom 10. Dezember 2009 erklärte die [X.] das [X.] mit Wirkung zum 1. Mai 2010 für unwirksam. Auf Antrag der Beklagten ordnete das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 23. März 2010 die aufschiebende Wirkung des gegen den Bescheid erhobenen Widerspruchs an. Auf Grundlage des zwischen der [X.] und der Beklagten am 31. August 2012 geschlossenen öffentlich-rechtlichen Vertrags trat zum 1. Januar 2013 ein verändertes Stationspreissystem in Kraft.

4

Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin Rückzahlung der von ihr gezahlten Stationsnutzungsentgelte für November 2006 bis Februar 2008, soweit sie über die nach dem [X.] zugrunde zu legenden Entgelte hinausgehen, insgesamt einen Betrag von 747.057,74 €. Das [X.] hat der Klägerin einen Betrag von 605.116,76 € zugesprochen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Beklagte zunächst unter Abweisung der weitergehenden Klage zur Zahlung von 473.917,88 € verurteilt.

5

Das dagegen von beiden Parteien angestrengte Revisionsverfahren hat der Senat bis zur Entscheidung der [X.] in der Sache [X.]-18-0265_E zunächst ausgesetzt (Beschluss vom 29. Januar 2019 - [X.], [X.], 470 - Stationspreissystem I), nachdem die Klägerin zwischenzeitlich gegenüber der [X.] die nachträgliche Erklärung der Ungültigkeit der Entgeltregelungen und Rückzahlung unter anderem derjenigen Entgelte beantragt hat, die Gegenstand der Klage sind. Diese Anträge hat die [X.] mit Beschluss vom 11. Oktober 2019 als unzulässig verworfen und zudem davon abgesehen, von Amts wegen ein Verfahren zur Abhilfe der von der Klägerin geltend gemachten Beschwer einzuleiten. Gegen diesen Beschluss hat die Klägerin beim [X.] Klage erhoben.

6

Nach Fortführung des Revisionsverfahrens und Aufhebung des Berufungsurteils sowie Zurückverweisung der Sache ([X.], Urteil vom 1. September 2020 - [X.], [X.], 119 - [X.]) hat das Berufungsgericht der Klage in der Hauptsache vollumfänglich stattgegeben. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision.

7

Die [X.] hat im Hinblick auf die Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] vom 27. Oktober 2022 ([X.]/20, [X.], 672 - [X.] Ostdeutsche Eisenbahn GmbH) zwischenzeitlich ein Verfahren zur Rücknahme und Neubescheidung eingeleitet ([X.]-22-0405_E), in dem zu prüfen ist, ob ihr Beschluss vom 11. Oktober 2019 zurückzunehmen und die Anträge der Klägerin neu zu bescheiden sind. Dieses Verfahren ist bislang nicht abgeschlossen.

8

II. Das Verfahren wird nach den Grundsätzen des § 148 Abs. 1 ZPO bis zur Entscheidung der [X.] im Verfahren [X.]-22-0405_E ausgesetzt.

9

1. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Anspruch der Klägerin auf Rückzahlung der nach dem [X.] geleisteten Stationsentgelte folge aus einem Verstoß der Beklagten gegen Art. 102 A[X.] i.V.m. § 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. BGB. Die Beklagte habe bei der Festsetzung der Stationsentgelte ihre beherrschende Stellung auf den Märkten für Serviceeinrichtungen für den Schienenpersonenverkehr missbräuchlich ausgenutzt. Die Parteien hätten sich, wenn sie von der Unwirksamkeit des [X.] gewusst hätten, auf eine vorübergehende Weiterführung des [X.] geeinigt.

2. Bei der rechtlichen Beurteilung dieser Erwägungen wird aus Gründen der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 [X.] die Entscheidung der [X.] im Verfahren [X.]-22-0405_E zu berücksichtigen sein.

a) Der Gerichtshof der [X.] hat mit Urteil vom 27. Oktober 2022 entschieden, dass die nationalen Gerichte bei der Entscheidung über eine Klage auf Rückzahlung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur durch Art. 30 Richtlinie 2001/14/[X.] Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur in der durch die Richtlinie 2004/49/[X.] Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/14/[X.]) nicht daran gehindert sind, gleichzeitig Art. 102 A[X.] und das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht anwenden; die zuständige [X.] muss aber vorher über die Rechtmäßigkeit der betreffenden Entgelte entschieden haben ([X.], 672 Rn. 80 - [X.] Ostdeutsche Eisenbahn GmbH).

Um bei der Anwendung des Art. 102 A[X.] den Zwecken und Wirkungen der sektorspezifischen Regulierung Rechnung zu tragen, können die Zivilgerichte nach der Rechtsprechung des [X.] gemäß Art. 4 Abs. 3 [X.] verpflichtet sein, den Ausgang eines bei der [X.] anhängigen Verfahrens nach den Grundsätzen des § 148 ZPO abzuwarten; insofern sind auch Feststellungen, die die [X.] als zuständige [X.] im Sinne des Art. 30 Richtlinie 2001/14/[X.] sowie des Art. 55 Richtlinie 2012/34/[X.] im Rahmen der [X.] nach den Vorschriften des [X.] in der bis zum 1. September 2016 geltenden Fassung (im Folgenden: [X.] aF) trifft, bei der Anwendung des Art. 102 A[X.] zu berücksichtigen (vgl. [X.], [X.], 470 Rn. 12 bis 15 - Stationspreissystem I; Urteil vom 29. Oktober 2019 - [X.], [X.], 868 Rn. 44 - [X.]; [X.], 119 Rn. 14 f., 26 - [X.]). Das steht in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die nationalen Gerichte zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind und bei ihrer Würdigung die Entscheidungen der zuständigen [X.] zu berücksichtigen und sich bei der Begründung ihrer eigenen Entscheidungen mit dem gesamten Inhalt der ihnen vorgelegten Akten auseinanderzusetzen haben ([X.], [X.], 672 Rn. 88 - [X.] Ostdeutsche Eisenbahn GmbH).

b) Nach Maßgabe dieser Grundsätze und unter Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen der Prozessparteien erachtet es der Senat für sachgerecht, das Revisionsverfahren zur Wahrung der Aufgaben der [X.] sowie zur effektiven Durchsetzung des Art. 30 Richtlinie 2001/14/[X.] auszusetzen, nachdem die [X.] nunmehr ein Verfahren betreffend die Rücknahme ihres Beschlusses vom 11. Oktober 2019 und Neubescheidung der entsprechenden Anträge eröffnet hat. Die [X.] hat darauf hingewiesen, dass sie in dem von ihr geführten Verfahren auch prüfen wird, ob bei Ungültigerklärung eine neue [X.] festzusetzen ist und ob Rückzahlungsansprüche von der [X.] zu regeln sind (vgl. das verfahrenseinleitende Schreiben der [X.] vom 21. November 2022, [X.]). Das Ergebnis dieser Prüfung haben die Zivilgerichte, auch wenn sie an die Entscheidung der [X.] nicht gebunden sind ([X.], [X.], 672 Rn. 83 - [X.] Ostdeutsche Eisenbahn GmbH), im Streitfall nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu berücksichtigen.

aa) Es ist nicht ausgeschlossen, dass die [X.] in eine erneute Sachprüfung eintreten wird und die einschlägigen Entgeltregelungen am Maßstab des § 14 Abs. 5 [X.] aF und - nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs - möglicherweise auch unter Berücksichtigung des Art. 102 A[X.] einer rückwirkenden Überprüfung unterzieht.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die [X.], die gemäß Art. 30 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/14/[X.] als Beschwerdestelle fungiert, von Amts wegen die Anwendung der Vorschriften der Richtlinie durch die Akteure des [X.] überwacht und nach Art. 30 Abs. 5 der Richtlinie 2001/14/[X.] bei Verstößen gegen die Richtlinie gegebenenfalls von Amts wegen Abhilfemaßnahmen trifft, zur rückwirkenden Überprüfung von gezahlten [X.] - auch von Stationsentgelten - befugt ([X.], [X.], 672 Rn. 37, 54, 72 - [X.] Ostdeutsche Eisenbahn GmbH; vgl. bereits: [X.], [X.], 470 Rn. 16 bis 20 - Stationspreissystem I). Dabei erstreckt sich die Prüfungskompetenz der [X.] nach Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14/[X.] nicht nur auf die Beachtung der eisenbahnrechtlichen Vorschriften, insbesondere auf das Diskriminierungsverbot nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2001/14/[X.] (§ 14 Abs. 5 [X.] aF), sondern auch auf die Einhaltung des Art. 102 A[X.] ([X.], [X.], 672 Rn. 68, 73 - [X.] Ostdeutsche Eisenbahn GmbH). Diese Befugnis kann ihr durch eine Vorschrift des nationalen Rechts wie der des § 14f [X.] aF nicht entzogen werden ([X.], [X.], 672 Rn. 74 - [X.] Ostdeutsche Eisenbahn GmbH). Ob die [X.] darüber hinaus auch befugt ist, eine Rückerstattung überhöhter Entgelte gegenüber der Beklagten anzuordnen, ist Gegenstand eines an den Gerichtshof gerichteten Vorabentscheidungsersuchens (s. dazu die Schlussanträge des Generalanwalts vom 21. September 2023 - [X.]/22, juris).

bb) Einer Aussetzung des Revisionsverfahrens steht nicht entgegen, dass die [X.] bereits mit dem hier maßgeblichen Stationspreissystem befasst war. Der Bescheid, mit dem die [X.] das [X.] für ungültig erklärt hat, ist nicht in Bestandskraft erwachsen. Die [X.] hat stattdessen einen öffentlich-rechtlichen Vertrag geschlossen (vgl. dazu [X.], Urteil vom 5. April 2022 - [X.], [X.], 870 Rn. 32 bis 47 - [X.]). Eine Überprüfung der im hiesigen [X.] konkret in Streit stehenden Entgelte ist bislang nicht erfolgt. Da nunmehr eine (erneute) Sachprüfung im Hinblick auf die hier relevanten Entgeltperioden im Raum steht, ist nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit jedenfalls bis zu einer Entscheidung darüber abzuwarten.

c) Die Aussetzung wird nur bis zur Entscheidung der Bundesnetz-agentur angeordnet. Eine Aussetzung bis zum bestandskräftigen Abschluss des Verwaltungsverfahrens kommt nicht Betracht, da anderenfalls ein effektiver Rechtschutz im Hinblick auf die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche nicht gewährleistet wäre ([X.], [X.], 868 Rn. 47 - [X.]). Auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] sind die nationalen Gerichte zur Wahrung der vollen Wirksamkeit von Art. 102 A[X.] nicht verpflichtet, den Ausgang der Verfahren des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Entscheidungen der [X.] abzuwarten ([X.], [X.], 672 Rn. 85 - [X.] Ostdeutsche Eisenbahn GmbH).

[X.]     

      

[X.]     

      

Tolkmitt

      

Picker     

      

Holzinger     

      

Meta

KZR 70/21

24.10.2023

Bundesgerichtshof Kartellsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

vorgehend OLG Dresden, 10. November 2021, Az: U 3/14 Kart

Art 4 Abs 3 EUV, Art 102 AEUV, Art 30 EGRL 14/2001, § 148 Abs 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.10.2023, Az. KZR 70/21 (REWIS RS 2023, 8049)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 8049

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