Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 30.11.2011, Az. 1 StR 341/11

1. Strafsenat | REWIS RS 2011, 949

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL
1
StR
341/11

vom
30. November 2011
in der Strafsache
gegen

wegen Körperverletzung

-
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Der 1.
Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom 30.
November 2011, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender [X.] am Bundesgerichtshof
Nack

und die [X.] am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
[X.],
die [X.]in am Bundesgerichtshof
Elf,
der [X.] am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Jäger,

[X.] am [X.]

als Vertreter der [X.],

Rechtsanwältin

als Verteidigerin,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.]s Nürnberg-Fürth vom 16.
März 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.]s zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:
I.
Das [X.] hat den Angeklagten vom Vorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen. Die [X.] hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie beanstandet mit der Sachrüge die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in einem psychiatri-schen Krankenhaus.
Sollte insoweit eine Beschränkung der Revision erfolgen, ist diese unwirksam. Eine getrennte Prüfung von § 63 StGB und der Schuldun-fähigkeit i.S.v. § 20 StGB ist nicht möglich, weil das Bejahen von § 20 StGB eine Voraussetzung der Unterbringung nach § 63 StGB ist.
Das Rechtsmittel, das vom [X.] vertreten wird, hat Erfolg.
Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
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1. Der Angeklagte leidet nach langwierigem Verlauf an einer krankhaften seelischen Störung
in Form eines schizophrenen Residuums. Von Januar bis Juli 2011 stand er unter Betreuung, ohne den Kontakt zum Betreuer einzuhal-ten. Seit ca. 15 Jahren ist er ohne dauerhaften festen Wohnsitz. Er lebt über-wiegend im Wald. Die Nutzung von Unterkünften für Obdachlose lehnt er ab. Er trinkt seit Jahren verstärkt Alkohol in Form von Bier und war deswegen [X.] zur Ausnüchterung in Kliniken. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er durch freiwillige Leistungen Dritter. Er ist vielfach vorbestraft. Die letzten beiden [X.] ergingen wegen einschlägiger Delikte.
2. Am 11.
Mai 2009 verurteilte ihn das [X.] wegen Be-leidigung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat. Der Angeklagte hatte am 4.
Juli
2008 gegen 7.15 Uhr eine ihm unbekannte Frau auf offener Straße mit den Worten beleidigt: "Du blöde Fotze, was schaust du so blöd? Du kriegst ein paar auf Dein Maul" und hatte sich ihr laut schreiend mit erhobener,
zur Faust geballter
Hand genähert, um sie zu schlagen. Er setzte der Fliehenden nach, konnte aber sein Vorhaben nur deshalb nicht umsetzen, weil zwei Passanten dazwischen gingen.
Am 24.
Februar 2010 verurteilte das [X.] den Ange-klagten wegen einer am 2.
Juli 2009 gegen 16.00 Uhr begangenen vorsätzli-chen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten. Er hatte ei-nen damals 9-jährigen Jungen auf der [X.] gepackt und ihn ge-gen eine Häckselmaschine gestoßen. Das Kind erlitt eine Rötung im Nackenbe-reich.
3.
Am 29.
Juni 2010 hielt sich der Angeklagte gegen 18.20 Uhr in [X.] auf dem [X.] auf. Er hatte eine offene Bierflasche in der linken Hand. Die Nebenklägerin lief schnellen Schrittes in seine Richtung. Der 3
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Angeklagte nahm sie wahnbedingt
als Bedrohung für sich wahr. Als sie an ihm vorbeigehen wollte, sagte er zu ihr: "Immer schön locker bleiben" und schlug ihr mit der rechten Faust ins Gesicht. Er traf
sie im Bereich des linken Auges. [X.] ging er im normalen Tempo weiter.
Der Nebenklägerin brach durch den Schlag ein Teil eines oberen [X.] auf der linken Seite ab. Sie erlitt einen gut vier Wochen lang sichtbaren Bluterguss und eine Schwellung im Gesicht. Sie hatte eine Woche lang starke Schmerzen und ist insofern dauerhaft beeinflusst, dass sie die [X.] wechselt, wenn ihr alkoholisierte oder obdachlose Personen begeg-nen. Sie stellte Strafantrag.
4. Der Angeklagte hatte zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration von 2,56 . Infolge eines akuten psychotischen Schubs fehlte ihm bei der [X.] die Einsicht, Unrecht zu tun. Die sachverständig beratene Kammer geht davon aus, dass der Angeklagte wegen einer krankhaften seelischen Störung in Form eines schizophrenen Residuums dauerhaft in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert ist. Darüber hinaus komme es in unregelmäßigen Abstän-den zu akuten psychotischen Schüben, die seine Einsichtsfähigkeit aufheben. Gleichwohl lehnt sie eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß §
63 StGB ab, weil sie die vom Angeklagten infolge seines Zustandes mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Taten als "nicht zwingend erheb-lich" ([X.]) einstuft und daher eine Gefahr für die Allgemeinheit verneint.
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II.
Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Der gehörte Sachverständige, Facharzt für Psychiatrie und Psychothe-rapie, schloss die Alkoholisierung des Angeklagten als Ursache für dessen wahnhaftes Erleben aus. Er prognostizierte, dass es mit hoher Wahrscheinlich-keit immer wieder zu akuten psychotischen Schüben kommen und der Ange-klagte aggressive Handlungen begehen werde, die mit der [X.] seien, wenn er nicht medikamentös mit Neuroleptika behandelt werde. Es sei zu erwarten, dass sich die Tatfrequenz, aber nicht die angewendete Gewalt, steigern werde. Nach seiner Auffassung belegten bereits die beiden letzten Vorstrafen einen Hang des Angeklagten zu aggressiven rechtswidrigen Hand-lungen ([X.] 18).
2. Die Ablehnung der Anordnung einer Maßregel nach §
63 StGB beruht auf einem Wertungsfehler.
Bereits die [X.], die die Kammer selbst der mittleren Kriminalität zuordnet, ist symptomatisch für künftige Taten, die vom Angeklagten infolge seines Zustandes bei einem psychotischen Schub zu erwarten sind. Dass dadurch der Rechtsfrieden erheblich gestört wird, versteht sich aus der Tat selbst. Die mittlere Kriminalität wird vom Anwendungsbereich des §
63 StGB miterfasst (vgl. [X.]R §
63 StGB Gefährlichkeit 9 mwN). Die Kammer bezeich-net die beiden Körperverletzungstaten
aus den Vorstrafen als mit der [X.] vergleichbare Taten, ordnet sie jedoch abweichend vom Sachverständigen als Bagatelldelikte ein, die den Rechtsfrieden nicht erheblich stören. Dabei hat
sie
nicht hinreichend bedacht, dass der Angeklagte bei Taten, bei denen er sich in einer wahnhaften Bedrohungssituation befindet und ihm die Einsichtsfähigkeit fehlt, Unrecht zu tun, es nicht in der Hand hat, die Verletzungsfolgen seines 9
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aggressiven Vorgehens zu steuern. Der Umfang der Verletzungen
bleibt viel-mehr dem Zufall überlassen, wie
die drei Körperverletzungsdelikte
zeigen. Nur durch das Eingreifen Dritter blieb es in einem Fall beim Versuch; auch die ge-ringfügige Verletzung des 9-jährigen Jungen hing vom Zufall ab. Vorsätzliche Körperverletzungen
gegen bislang völlig unbekannte
Personen stören in der Regel den Rechtsfrieden erheblich. Der Täter stellt eine Gefahr für die Allge-meinheit dar.
3. Das Übermaßverbot nach §
62 StGB führt hier zu keinem anderen Er-gebnis. Bei einer Abwägung der Gefahr für die Allgemeinheit aufgrund der vom Angeklagten begangenen und zu erwartenden Taten gegen die körperliche [X.] willkürlicher Opfer und des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des von der Maßregel nach §
63 StGB Betroffenen steht dieser Eingriff hier nicht außer Verhältnis.
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4. Das Urteil ist wegen des aufgezeigten Rechtsfehlers insgesamt
aufzu-heben.
Eine beschränkte Aufhebung kommt hier, wie oben dargelegt, nicht in Betracht, um [X.] zu vermeiden. Auch die zugrunde liegen-den Feststellungen können nicht bestehen bleiben.
Da der Angeklagte
das Ur-teil
nicht hätte anfechten können, obwohl die Begehung einer rechtswidrigen Tat durch ihn festgestellt ist, scheidet die Möglichkeit, ihn belastende [X.] -
etwa zum äußeren Tatgeschehen -
aufrechtzuerhalten von vorneherein aus (vgl. [X.]St 16, 374; [X.], Urteil vom 23.
Februar 2000 -
3 StR 595/99).
Nack Rothfuß [X.]

Elf

Jäger
14

Meta

1 StR 341/11

30.11.2011

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 30.11.2011, Az. 1 StR 341/11 (REWIS RS 2011, 949)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 949

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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