Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.03.2012, Az. III R 82/09

3. Senat | REWIS RS 2012, 8136

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Gegenstand

Erhöhung der tariflichen Einkommensteuer um Kindergeldanspruch trotz vorheriger Ablehnung einer Kindergeldfestsetzung - Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes - Verhältnis der Finanzämter zu den Familienkassen


Leitsatz

1. Ab dem Veranlagungszeitraum 2004 ist bei der Prüfung der Frage, ob der Abzug der Kinderfreibeträge für den Steuerpflichtigen vorteilhafter ist als das Kindergeld, nicht auf das (tatsächlich) gezahlte Kindergeld, sondern auf den Anspruch auf Kindergeld abzustellen. Das gilt auch dann, wenn ein Kindergeldantrag trotz des materiell-rechtlichen Bestehens des Anspruchs bestandskräftig abgelehnt worden ist .

2. Ein Kindergeld-Ablehnungsbescheid entfaltet für das Besteuerungsverfahren keine Tatbestandswirkung .

Tatbestand

1

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die für das [X.] (Streitjahr) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Sie haben drei gemeinsame Kinder. Der Kläger hat aus erster Ehe zwei weitere Kinder, die in [X.] bei ihrer leiblichen Mutter leben. Diese bezog Kindergeld für die beiden Kinder nach [X.] Recht. Die Klägerin beantragte im September 2004 für die drei gemeinsamen Kinder Kindergeld. Die Familienkasse wandte sich mit einem Schreiben vom 3. Dezember 2004 an die Klägerin und bat um die Beantwortung einzelner Fragen. Da die Klägerin darauf nicht reagierte, lehnte die Familienkasse den [X.] durch Bescheid vom 25. April 2005 ab. Der Ablehnungsbescheid wurde bestandskräftig.

2

Im Einkommensteuerbescheid 2004 vom 12. Dezember 2007 gewährte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) keine Freibeträge nach § 32 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr 2004 geltenden Fassung (EStG), da sich bei der Vergleichsrechnung nach § 31 EStG ergeben habe, dass das Kindergeld, auf das Anspruch bestanden habe, den Steuervorteil übersteige, der bei Ansatz der Freibeträge einträte. Der Bescheid stand unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 der Abgabenordnung --AO--). Die Kläger beantragten mit Schreiben vom 18. März 2008, den Einkommensteuerbescheid 2004 zu ändern und die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG anzusetzen, und zwar ohne Hinzurechnung des nicht ausgezahlten Kindergeldes. Das [X.] lehnte dies durch Bescheid vom 16. Mai 2008 ab. Gegen den Ablehnungsbescheid wandten sich die Kläger mit Einspruch, der ohne Erfolg blieb.

3

Im Verlauf des anschließenden finanzgerichtlichen Verfahrens erließ das [X.] unter dem Datum des 10. September 2009 einen Änderungsbescheid und berücksichtigte für den älteren der beiden in [X.] lebenden Söhne des [X.] die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG, weil insoweit diese vorteilhafter seien als die Kindergeldansprüche nach [X.] Recht (Monate Januar bis Oktober 2004) und nach [X.] Recht (Monate November und Dezember 2004) von insgesamt 1.674 €.

4

Das Finanzgericht ([X.]) wies die Klage ab, die sich nunmehr gegen den Änderungsbescheid richtete und mit welcher die Kläger die Berücksichtigung von Freibeträgen für fünf Kinder begehrten.

5

Das Urteil des [X.] ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 501 veröffentlicht.

6

Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung des § 31 EStG. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, die Vorschrift sei in der Weise auszulegen, dass ein nicht realisierbarer Anspruch auf Kindergeld nicht günstiger sein könne als die entsprechenden Freibeträge, so dass in einem derartigen Fall die Freibeträge anzusetzen seien. Der Kindergeldanspruch könne nicht im Rahmen der Günstigerprüfung hinzugerechnet werden, wenn er bereits endgültig erloschen sei.

7

Die Kläger beantragen sinngemäß,

das angefochtene Urteil aufzuheben und das [X.] zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 2004 vom 10. September 2009 dahingehend zu ändern, dass die Einkommensteuer auf den Betrag herabgesetzt wird, der sich ergibt, wenn Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG für fünf Kinder angesetzt und Kindergeldansprüche von insgesamt 3.439,20 € der tariflichen Einkommensteuer hinzugerechnet werden.

8

Das [X.] beantragt,

die Revision der Kläger zurückzuweisen.

9

Zur Begründung führt das [X.] aus, Sinn und Zweck der Günstigerprüfung sei es nicht, die Versäumnisse der Kläger auszugleichen.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist unbegründet und wird deshalb zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 [X.]O). Das [X.] hat zutreffend entschieden, dass keine weiteren Freibeträge nach § 32 Abs. 6 [X.] bei der Einkommensteuerveranlagung der Kläger anzusetzen sind.

1. Nach § 31 Satz 1 [X.] wird die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich des Bedarfs für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung entweder durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 [X.] oder durch das Kindergeld nach den §§ 62 ff. [X.] bewirkt. Ist der Abzug der Freibeträge für Kinder günstiger als der Anspruch auf Kindergeld, erhöht sich die unter Berücksichtigung des Abzugs der Freibeträge für Kinder ermittelte tarifliche Einkommensteuer um den Anspruch auf Kindergeld (§ 31 Satz 4 [X.]).

2. Die für das Streitjahr 2004 geltende Fassung des § 31 Satz 4 [X.] geht zurück auf das Steueränderungsgesetz 2003 vom 15. Dezember 2003 ([X.], 2645, [X.], 710). Bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2003 waren nach § 31 Satz 4 [X.] a.F. die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 [X.] abzuziehen, wenn die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes durch das Kindergeld nicht in vollem Umfang bewirkt wurde; in diesem Fall war das gezahlte Kindergeld nach § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] a.F. der tariflichen Einkommensteuer hinzuzurechnen. Aufgrund der Gesetzesänderung ist seit dem Veranlagungszeitraum 2004 bei der Prüfung der Frage, ob der Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 [X.] für den Steuerpflichtigen vorteilhafter ist als das Kindergeld, nicht auf das tatsächlich gezahlte, sondern auf den Anspruch auf Kindergeld abzustellen. Für die Änderung des § 31 [X.] waren Gesichtspunkte der Verfahrensvereinfachung maßgebend. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten insbesondere Änderungen der Steuerfestsetzung aufgrund einer nachträglichen Gewährung von Kindergeld vermieden werden (BTDrucks 15/1798, [X.]). Für die Hinzurechnung von Kindergeld ist somit der ursprüngliche, vor Erlöschen (z.B. durch Erfüllung) bestehende materiell-rechtliche Kindergeldanspruch maßgebend. Wegen der vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollten Abkoppelung der Steuer- von der Kindergeldfestsetzung ist nicht entscheidend, ob der Anspruch tatsächlich durch Zahlung erfüllt worden ist. Der Kindergeldanspruch ist seit dem Veranlagungszeitraum 2004 unabhängig von der kindergeldrechtlichen Beurteilung durch die Familienkasse hinzuzurechnen, wenn die Berücksichtigung von Freibeträgen nach § 32 Abs. 6 [X.] rechnerisch günstiger ist als der Kindergeldanspruch.

3. [X.] über die Festsetzung von Kindergeld oder die Ablehnung einer Kindergeldgewährung entfaltet für die Steuerfestsetzung keine [X.] mit der Folge, dass das [X.] die negative Entscheidung über einen Kindergeldanspruch durch die Familienkasse im Besteuerungsverfahren zu übernehmen hätte (s. Senatsurteil vom 27. Januar 2007 III [X.]/07, [X.], 485, [X.], 543; Kanzler in [X.]/[X.]/[X.], § 31 [X.] [X.] 33; a.[X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], Kommentar, § 31 [X.] [X.] 246). Die [X.] eines Verwaltungsaktes führt dazu, dass dieser in einem ressortfremden Verwaltungsverfahren als gegeben hinzunehmen und nicht etwa darauf hin zu überprüfen ist, ob er dem materiellen Recht entspricht (s. Urteil des [X.] vom 21. Januar 2010 [X.], [X.], 295, [X.], 703, m.w.N.). Die Familienkassen sind im Verhältnis zu den Finanzämtern jedoch keine ressortfremden Behörden. Die [X.] stellt dem [X.] ihre Dienststellen als Familienkassen für die Durchführung des einkommensteuerrechtlichen Familienleistungsausgleichs zur Verfügung (§ 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 2 des Gesetzes über die Finanzverwaltung --FVG--). Gehört ein Kindergeldberechtigter dem öffentlichen Dienst an, so fungiert der entsprechende öffentlich-rechtliche Arbeitgeber als Familienkasse (§ 72 Abs. 1 Satz 2 [X.]). Gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 6 [X.] gehören zu den Finanzbehörden im Sinne der [X.] auch die Familienkassen. Die Finanzämter und Familienkassen sind gleichermaßen in die Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs eingebunden und kooperieren hierbei durch Informationsaustausch (§ 21 Abs. 4 FVG; s.a. Abschn. 68.3 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, BStBl I 2009, 1030, sowie [X.] der Einkommensteuer-Richtlinien 2011). Ein von der Familienkasse erlassener [X.] ist somit für die Finanzämter kein ressortfremder Verwaltungsakt.

4. Die ursprünglichen Ansprüche auf Kindergeld nach [X.] und [X.] Recht für die drei in [X.] lebenden gemeinsamen Kinder der Kläger bzw. für das jüngere in [X.] lebende Kind des [X.] belaufen sich nach den bindenden Feststellungen des [X.] (§ 118 Abs. 2 [X.]O) auf einen Betrag, der die [X.] übersteigt, die bei Ansatz von vier weiteren Freibeträgen nach § 32 Abs. 6 [X.] entstünde. Das [X.] hat die Freibeträge somit zu Recht nicht berücksichtigt.

Meta

III R 82/09

15.03.2012

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 5. November 2009, Az: 4 K 4733/08, Urteil

§ 31 EStG 2002 vom 15.12.2003, § 32 EStG 2002 vom 15.12.2003, § 36 Abs 2 S 1 EStG 2002, § 21 Abs 4 FVG, § 5 Abs 1 Nr 11 S 2 FVG, § 6 Abs 2 Nr 6 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.03.2012, Az. III R 82/09 (REWIS RS 2012, 8136)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8136

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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