Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.06.2021, Az. 2 StR 131/21

2. Strafsenat | REWIS RS 2021, 4780

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Gegenstand

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen: Geschützter Personenkreis


Leitsatz

Zu dem von § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB geschützten Personenkreis.

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] – [X.] – vom 12. Januar 2021 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als [X.] zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von [X.] in sechs Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung und in drei Fällen in Tateinheit mit einem sexuellen Übergriff, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der [X.] ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.] ist der Angeklagte der „[X.]“ der am 13. März 2003 geborenen Nebenklägerin. Sein [X.] ist mit der Mutter der Nebenklägerin verheiratet. Der Angeklagte übernahm alle zwei Wochen nachmittags für ein bis zwei Stunden die Betreuung der damals 15- bzw. 16-jährigen Nebenklägerin. Dabei nutzte er die [X.], um die Nebenklägerin, begleitet von anzüglichen Bemerkungen, an den Armen und Schultern, später auch an ihrem Gesäß und an ihrer Brust zu streicheln, um sich sexuell zu erregen. Die Nebenklägerin lehnte die Annäherungsversuche, die sie als sehr unangenehm empfand, stets ab. Ungeachtet dessen setzte der Angeklagte sein Verhalten gegen ihren Willen fort, wobei er teilweise [X.] entfaltete, sodass die Nebenklägerin immer wieder blaue Flecken erlitt. Das [X.] hat die konkrete Anzahl der Übergriffe nicht feststellen können. Es hat jedoch sechs Einzeltaten im [X.]raum von Anfang 2018 bis zum 2. September 2019 individualisiert (Fälle II.1. bis II.6. der Urteilsgründe), bei denen die Nebenklägerin 15 Jahre (Fall II.1.) beziehungsweise 16 Jahre (Fälle II.2. bis II.6.) alt war.

3

2. [X.] hat keinen Bestand. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen diesen nicht, soweit das [X.] den Angeklagten in sämtlichen Fällen auch wegen sexuellen Missbrauchs von [X.] verurteilt hat.

4

a) Nach § 174 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB in der unverändert gebliebenen Fassung vom 21. Januar 2015 ([X.]) wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person unter 18 Jahren vornimmt oder an sich von dieser vornehmen lässt, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling oder der seines Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person ist, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft lebt.

5

aa) Die Nebenklägerin ist kein leiblicher Abkömmling des Angeklagten.

6

(1) Leibliche Abkömmlinge sind Personen, die biologisch vom Täter abstammen (vgl. [X.]/[X.], [X.], 80. Aufl., Einf. v. § 1591 Rn. 1 mwN; [X.]/[X.]/[X.], StGB, 30. Aufl., § 174 Rn. 13), sodass neben leiblichen Kindern auch die gemäß § 1589 Satz 1 [X.] in gerader Linie absteigenden Verwandten (Enkel und Urenkel) umfasst sind (vgl. Senat, Urteil vom 29. Oktober 1980 ‒ 2 StR 508/80, [X.]St 29, 387 f.; MüKo-StGB/[X.], 4. Aufl., § 174 Rn. 37 f.; [X.]/[X.], StGB, 2. Aufl., § 174 Rn. 23).

7

(2) Ein derartiges Abstammungsverhältnis ist zwischen dem Angeklagten und seiner „Stiefenkelin“ nicht festgestellt.

8

bb) Die Nebenklägerin unterfällt auch nicht als rechtlicher Abkömmling des Angeklagten dem Schutzbereich der Norm.

9

(1) Rechtliche Abkömmlinge eines Mannes sind adoptierte Kinder, die nach § 1754 [X.] die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden erlangen, oder Kinder, die nach § 1592 Nr. 1 bis Nr. 3 [X.] rechtlich [X.] zugeordnet werden, ohne von diesem abzustammen (vgl. BT-Drucks. 18/3202 (neu), S. 26; BeckOK-StGB/Ziegler, [X.]., § 174 Rn. 9; MüKo-StGB/[X.], aaO, Rn. 37).

(2) Hieran gemessen ist nicht festgestellt, dass die Nebenklägerin ein rechtlicher Abkömmling des Angeklagten ist. Den Feststellungen lässt sich – auch unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe – nicht entnehmen, dass der [X.] des Angeklagten bereits zum [X.]punkt der Geburt der Nebenklägerin im Jahr 2003 mit deren Mutter verheiratet war (§ 1592 Nr. 1 [X.]) oder die minderjährige Nebenklägerin adoptiert hat (§ 1754 Abs. 1, Abs. 2 [X.]) und dadurch ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin begründet wurde (vgl. MüKo-[X.]/[X.], 8. Aufl., § 1754 Rn. 12).

cc) Die Feststellung des [X.], der Angeklagte sei der „[X.]“ der Nebenklägerin, eröffnet nicht den Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB.

(1) Zwar hat der Gesetzgeber den Täterkreis mit der Neufassung des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB durch das 49. [X.] vom 21. Januar 2015 erweitert, indem er den Schutz der Vorschrift auch auf leibliche und rechtliche Abkömmlinge des Ehegatten, Lebenspartners oder der Person, mit der der Täter in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt, erstreckt hat. Er hat damit die – leiblichen und rechtlichen − Kinder des Ehe- oder Lebenspartners (Stiefkinder) und deren Abkömmlinge ([X.]) sowie von derjenigen Person, mit der der Täter in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Beziehung zusammenlebt (vgl. hierzu [X.], Beschluss vom 23. Januar 2018 – 1 [X.], juris Rn. 5 ff.), in den Schutzbereich der Vorschrift einbezogen (BT-Drucks. 18/2601, S. 26; MüKo-StGB/[X.], aaO Rn. 38; [X.]/[X.]/Heger, StGB, 29. Aufl., § 174 Rn. 4). Der Gesetzgeber wollte hierdurch den Schutz von Jugendlichen gegenüber sexuellen Übergriffen in ihrem engsten [X.] und verwandtschaftlichen Umfeld verbessern (BT-Drucks. 18/2601, aaO), da § 174 Abs. 1 StGB in der Fassung vom 27. Dezember 2003 für eine Strafbarkeit von Stiefeltern oder ([X.] deren Übernahme von Erziehungsverantwortung voraussetzte (vgl. BT-Drucks. 18/2601, aaO).

„Stiefenkel“ sind daher nur insoweit vom Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfasst, als es sich um Abkömmlinge des Ehe- oder Lebenspartners des [X.] beziehungsweise einer Person, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt, handelt. Stiefkinder der eigenen Abkömmlinge fallen danach nicht unter die Vorschrift. Dieses – am eindeutigen Wortlaut orientierte – Verständnis der Vorschrift entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der ihren Schutzbereich auf „leibliche und angenommene Abkömmlinge sowie diejenigen des Ehegatten oder Lebenspartners (Enkel, Stiefkinder und Stiefenkel) …“ erstrecken wollte (BT-Drucks. 18/2601, aaO).

(2) Danach unterfällt die Nebenklägerin im Verhältnis zu dem Angeklagten nicht dem von § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF geschützten Personenkreis.

b) Die bisherigen Feststellungen belegen, wie der [X.] in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, auch nicht, dass hinsichtlich des Falles II.1 der Urteilsgründe eine Strafbarkeit nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF beziehungsweise hinsichtlich der Fälle II.2 bis II.6 der Urteilsgründe nach § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB aF gegeben ist.

c) Der Senat hat von einer Schuldspruchänderung abgesehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das [X.] ergänzende Feststellungen treffen kann, welche eine Strafbarkeit nach § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF begründen.

3. Die Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und können aufrechterhalten bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das zur neuen Verhandlung und Entscheidung berufene Tatgericht ist nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, die den bisherigen nicht widersprechen.

[X.]     

      

[X.]     

      

Meyberg

      

Grube     

      

[X.]     

      

Meta

2 StR 131/21

22.06.2021

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Darmstadt, 12. Januar 2021, Az: 200 Js 54548/19 - 2 KLs

§ 174 Abs 1 Nr 3 StGB vom 21.01.2015

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.06.2021, Az. 2 StR 131/21 (REWIS RS 2021, 4780)

Papier­fundstellen: NJW 2021, 3798 REWIS RS 2021, 4780

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Wird zitiert von

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Zitiert

1 StR 625/17

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