Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.08.2022, Az. 3 StR 216/22

3. Strafsenat | REWIS RS 2022, 5482

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Gegenstand

Freispruch und Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus: Gefährlichkeitsprognose an Hand standardisierter Prognoseinstrumente; Verurteilung durch das wiederbefasste Tatgericht nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 11. März 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten von den Vorwürfen des Diebstahls mit Waffen, des Diebstahls in zwei Fällen, des Erschleichens von Leistungen in zwei Fällen sowie der sexuellen Belästigung in zwei Fällen wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet er sich mit seiner auf die nicht ausgeführte allgemeine Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

2

1. Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

3

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der [X.](en) aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen [X.](en) zu entwickeln. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschlüsse vom 26. September 2019 - 4 StR 24/19, NStZ-RR 2020, 9, 10; vom 10. November 2015 - 3 [X.], [X.], 144 f., jeweils mwN).

4

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

5

aa) Den vorstehend wiedergegebenen [X.] genügen die Urteilsgründe bereits deshalb nicht, weil sie an einem unaufgelösten Widerspruch leiden. Einerseits wird als Ergebnis der anzustellenden Prognose lediglich bezeichnet, der Angeklagte werde mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, die den [X.]en gleichartig seien ([X.], 21 f.). Andererseits wird im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (§ 62 StGB) ausgeführt, “dass in dem Verhalten des Angeklagten im Laufe der [X.] eine Steigerung festzustellen“ sei und “eine weitergehende Entwicklung auch mit schwerwiegenderen Rechtsgutsverletzungen […] sehr wahrscheinlich“ erscheine ([X.]). Umstände, die zu einer Auflösung dieses Widerspruchs herangezogen werden könnten, lassen sich dem Urteil auch in seinem Gesamtzusammenhang nicht entnehmen.

6

bb) Weiterhin ist die Herleitung der Gefährlichkeitsprognose durch den psychiatrischen Sachverständigen, dem sich die [X.] in ihrer Beurteilung angeschlossen hat, in methodischer Hinsicht zu beanstanden. Denn der Sachverständige hat jedenfalls ausweislich der Urteilsgründe ausschließlich die “Kriterien zur Legalprognose nach [X.]“ sowie den “sog. HCR-20-V3 als Prognose-Checkliste“ zur Anwendung gebracht. Standardisierte [X.] können indessen niemals für sich allein, sondern immer nur im Zusammenhang mit einer Erforschung und Bewertung der individuellen Täterpersönlichkeit eine Gefährlichkeitsbeurteilung tragfähig begründen. Das empirische Wissen über das generelle Rückfallrisiko führt für sich allein noch nicht zur Entscheidung im Einzelfall, sondern erlaubt nur dessen erste Verortung im kriminologischen Erfahrungsraum ([X.], Beschluss vom 23. Oktober 2008 - 3 [X.], [X.]R StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 8 Rn. 5; vgl. auch [X.], Beschlüsse vom 13. November 2007 - 3 [X.], [X.], 301, 302; vom 6. Dezember 2007 - 3 StR 355/07, [X.], 300, 301). Eine in diesem Sinne fundierte individuelle Analyse (vgl. [X.], Beschluss vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10, [X.], 203, 204) enthält das Urteil nicht.

7

2. Der Senat hebt das angefochtene Urteil insgesamt mit den Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO), damit das zukünftig zur Entscheidung berufene Tatgericht in die Lage versetzt wird, stimmige Entscheidungen zu den Taten und den daran anknüpfenden Rechtsfolgen zu treffen; präzisere, widerspruchsfreie Feststellungen könnten sich insbesondere mit Blick auf die bislang äußerst knappen Angaben zu Fall II. B 7. und den nicht anklagegegenständlichen Fall II. B 8. der Urteilsgründe als erforderlich erweisen.

8

3. Über den Freispruch des Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit und seine Unterbringung muss somit - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 StPO) - neu entschieden werden. Das [X.] des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO steht der Aufhebung des Freispruchs nicht entgegen. § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ermöglicht es, in einer neuen Hauptverhandlung anstelle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Täter schuldig zu sprechen und eine Strafe zu verhängen. Daraus folgt, dass auf die Revision des Angeklagten ein mit der Maßregelanordnung ergangenes freisprechendes Erkenntnis ebenfalls aufgehoben werden kann (vgl. [X.], Urteil vom 25. März 2021 - 3 StR 408/20, juris Rn. 17; Beschlüsse vom 5. August 2014 - 3 StR 271/14, [X.]R StPO § 358 Abs. 2 Satz 2 Freispruch 1 Rn. 9; vom 18. September 2019 - 3 StR 337/19, NStZ-RR 2020, 8, 9).

VRi[X.] Prof. Dr. Schäfer
befindet sich im Urlaub
und ist deshalb gehindert
zu unterschreiben.

        

Paul     

        

Berg   

Paul   

                                   
        

     Erbguth     

        

Kreicker     

        

Meta

3 StR 216/22

25.08.2022

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Koblenz, 11. März 2022, Az: 12 KLs 2020 Js 25130/21

§ 20 StGB, § 63 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO, § 358 Abs 2 S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.08.2022, Az. 3 StR 216/22 (REWIS RS 2022, 5482)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5482

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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