VG Ansbach, Entscheidung vom 30.01.2023, Az. AN 3 S 22.02559

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Gegenstand

Nachbarklage, Baugenehmigung, Lage des Vorhabens im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes, Drittschutz von Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, Verstoß gegen Treu und Glauben, Abstandsflächenverstoß, Untergeordnete Bauteile


Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der am 28. Juni 2021 erhobenen Klage (AN 3 K 21.01176) gegen den Baugenehmigungsbescheid der Stadt Erlangen vom 19. Mai 2021 wird angeordnet.

2. Die Antragsgegnerin und die Beigeladenen, diese als Gesamtschuldner, tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Einfamilienhauses mit Carport auf dem Flurstück … der Gemarkung … (vormals …, nunmehr …).

Die Beigeladenen sind Eigentümer des Grundstück FlNr. … der Gemarkung … (im Folgenden wird auf die Angabe der Gemarkung verzichtet, da sich alle genannten Grundstücke auf die Gemarkung … beziehen). Das Grundstück grenzt in südöstlicher Richtung an die … an, die in Höhe des streitgegenständlichen Grundstücks in die … einmündet. Südwestlich grenzt das Grundstück an das Grundstück FlNr. … (…). Des Weiteren grenzen an das streitgegenständliche Grundstück die Grundstücke FlNr. … (westlich), FlNr. … (nordwestlich), FlNr. … (nördlich) und FlNr. … (nordöstlich) an. Alle angrenzenden Grundstücke sind mit Wohnhäusern bebaut.

Das streitgegenständliche Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. … für das Gebiet „…“ vom 20. August 1964. In der Begründung zum Bebauungsplan Nr. … wird ausgeführt, dass sich seit mehreren Jahren die Nachfrage um Baugelände im Gebiet beiderseits der … verstärke. Außerdem wünsche die angrenzende Gemeinde … das Problem ihrer Abwasserbeseitigung aus wirtschaftlichen Gründen durch den Anschluss an das Kanalnetz und die Kläranlage der Stadt … zu lösen. Der dazu von der Stadt … projektierte Sammelkanal in der …, an den auch das … und ein im Bau befindliches Altersheim angeschlossen würden, gebe die Voraussetzungen für die Erschließung des … Der Bebauungsplan Nr. … solle mit seinen Festsetzungen besonders der Bereitstellung der öffentlichen Verkehrsflächen zum Einbau aller erforderlichen Erschließungsanlagen dienen und die Bebauung dieses Gebietes unter Wahrung seines schönen Landschaftsbildes regeln. Der Aufstellung dieses Planes liege der Flächennutzungsplan der Stadt … und ein bereits früher aufgestellter, jedoch nicht mehr rechtskräftig gewordener alter Baulinienplan zu Grunde.

Aus den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplanes ergibt sich für das Bauland im gesamten Geltungsbereich eine Festsetzung als allgemeines Wohngebiet. Für das ursprüngliche Grundstück FlNr. …, das nunmehr in die Grundstücke FlNr. …, …, … und … aufgeteilt ist, werden zwei Baugrenzen für Wohngebäude und zwei Flächen für erdgeschossige Garagen und deren Zufahrten festgelegt. Die Anzahl der Vollgeschosse wird zwingend auf zwei Vollgeschosse festgelegt. Als Dachform sind zulässig: Flachdach, Walm- oder Satteldach mit einer Dachneigung von höchstens 30°. Im Falle einer Bebauung mit zwei Vollgeschossen ist eine Grundflächenzahl (GRZ) von 0,25 und eine Geschossflächenzahl (GFZ) von 0,35 festgesetzt. Für das Grundstück FlNr. …, das ursprünglich auch das Grundstück FlNr. … umfasste, ist eine Baugrenze im nördlichen Grundstücksteil festgelegt. Auf dem streitgegenständlichen Grundstück FlNr. … sind mit Ausnahme der Flächen für erdgeschossige Garagen und deren Zufahrten keine Baugrenzen definiert.

Mit Beschluss vom 18. Oktober 2016 legte der Umwelt-, Verkehrs- und Planungsausschuss der Antragsgegnerin (UVPA) zum Erhalt und zur Weiterentwicklung des … fest, dass die bestehende Beschlusslage zum … (städtebauliche Qualitäten des … sollen gewahrt bleiben) für eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Planungsrechtsvollzugs um Leitlinien für das Verwaltungshandeln ergänzt wird. Davon umfasst ist u.a., dass die Bebauungspläne weiterhin gelten sollen und die GRZ und GFZ von Bauvorhaben nach wie vor mit einer 10%-Toleranz beurteilt werden sollen.

Die Antragstellerin ist Miteigentümerin des Grundstücks FlNr. …, das mit einem Wohnhaus bebaut ist. Der Bebauungsplan Nr. … weist für dieses Grundstück mit Ausnahme der Fläche für erdgeschossige Garagen und deren Zufahrten ebenfalls keine Baugrenzen auf.

Die Beigeladenen beantragten mit Bauantragsunterlagen vom 13. März 2019 die Genehmigung zur Errichtung eines Einfamilienhauses auf dem Grundstück FlNr. … Die eingereichten Bauvorlagen wurden im Laufe des Baugenehmigungsverfahrens mehrmals modifiziert. Nach den Planvorlagen handelt es sich bei dem Vorhaben um ein U-förmiges Einfamilienhaus mit zwei Vollgeschossen, Flachdach und Keller. Es soll mit einem Abstand von 3,00 m zur nördlichen Grundstücksgrenze und von mindestens 3,00 m zur schräg verlaufenden westlichen Grundstücksgrenze errichtet werden. Ein Carport mit einer Fläche von 19,45 m² ist als Grenzbebauung an der östlichen Grundstücksgrenze vorgesehen. An der Ostfassade finden sich insgesamt drei Auskragungen zum Abschluss des Erdgeschosses beziehungsweis des Dachgeschosses mit einer Länge von jeweils 4,00 m beziehungsweise 4,5 m und einer Tiefe von etwa 1,5 m und südlich und nördlich über die Hauswand überstehend.

Mit Bescheid vom 19. Mai 2021 wurde den Beigeladenen die Baugenehmigung entsprechend der mit Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen unter Auflagen erteilt. Es wurden Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … hinsichtlich der Errichtung des Gebäudes außerhalb des Baufensters und hinsichtlich der Überschreitung der festgesetzten GFZ von 0,35 auf 0,38 erteilt. Die Errichtung des Carports außerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen wurde gemäß § 23 Abs. 5 BauNVO zugelassen. Für das Fällen von geschützten Bäumen wurde gemäß § 4 Baumschutzverordnung eine Befreiung erteilt.

In den Gründen wurde bezüglich der Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. … ausgeführt, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt würden und die Abweichungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes städtebaulich vertretbar seien. Sie seien insbesondere mit den nachbarlichen Interessen und den öffentlichen Belangen vereinbar. Das bestehende Baufenster sichere derzeitig ausschließlich das Baurecht des mittlerweile denkmalgeschützten Wohngebäudes auf dem Grundstück. Im Zuge der Nachverdichtung sei daher ein Neubau nur außerhalb eines Baufensters möglich. Die Lage berücksichtige denkmal- und baumschützende Belange und die Abstandsflächen seien eingehalten. Die zulässige Grundflächenzahl (GRZ) werde eingehalten. Die Geschossflächenzahl (GFZ) resultiere aus den Berechnungsgrundlagen der einschlägigen Baunutzungsverordnung von 1962. Deren Überschreitung bewege sich jedoch im Rahmen dessen, was mit Stadtratsbeschluss zur Nachverdichtung des … vereinbart worden sei. Das Bauvorhaben trete gleichfalls gegenüber der angrenzenden Bebauung nicht rücksichtslos in Erscheinung. Die genehmigte Höhenentwicklung bewege sich mit zwei Geschossen und der überbaubaren Fläche im Rahmen der dort vorhandenen Bebauung und führe nicht zu einer Verletzung geschützter Nachbarrechte, insbesondere würden die Abstandsflächen eingehalten. Auch die natürliche Belüftung und Belichtung werde nicht in einem unzumutbaren Maße beeinträchtigt.

Die Baugenehmigung wurde der Antragstellerin mit Postzustellungsurkunde am 27. Mai 2021 zugestellt.

Die Antragstellerin ließ mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 28. Juni 2021, über das besondere Anwaltspostfach beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach eingegangen am selben Tag, Klage erheben.

Zur Begründung wurde vorgetragen, dass durch die Genehmigung eines Baukörpers außerhalb der bestehenden Baugrenzen die Ziele des Bebauungsplanes hinsichtlich der Beschränkung der baulichen Ausnutzung der Grundstücke insgesamt und hinsichtlich der Sicherung eines gebietsprägenden und bestimmenden Grünflächenanteils verletzt werde. Das Bauvorhaben trage zu einer zunehmenden Verdichtung der Bebauung am … bei, wodurch der beschriebene Gebietscharakter verloren gehen sowie die Ziele des Bebauungsplans fortschreitend vereitelt würden und sich bei weiterer Entwicklung nicht mehr verwirklichen ließen.

Die verfahrensgegenständliche Baugenehmigung verletze die Rechte der Antragstellerin zum einen, da der durch den Bebauungsplan geprägte Gebietscharakter negativ verändert werde und der der Antragstellerin zustehende Gebietserhaltungsanspruch verletzt sei. In der Regel vermittelten Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung zwar keinen Nachbarschutz, dies sei allerdings anders, wenn die planerischen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung insgesamt dazu dienten, den Charakter eines bestehenden Gebietes zu bewahren (BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7/17). Der Bebauungsplan sichere mit seinen Festsetzungen für das Plangebiet den bestehenden Charakter des … mit einer villenartigen, von bestimmenden Grünflächen durchzogenen Bebauung. Die Bewahrung dieses Gebietscharakters komme allen im Gebiet ansässigen Grundstückseigentümern zu Gute. Wenn durch eine immer weiter fortschreitende Verdichtung die villenartige Baustruktur und die großen Grünflächen verschwinden würden, habe sich der Gebietscharakter geändert, wodurch jeder im Gebiet Ansässige mit der weiteren Ausnutzung jedes zur Bebauung geeigneten freien Bereichs rechnen und den noch weitergehenden Verlust der gebietsbestimmenden Grünflächen hinnehmen müsse. In Anbetracht der speziellen Gestaltung der …-Bebauung sei in diesem besonderen Fall von einem Drittschutz auch im Hinblick auf die definierten Baugrenzen und im Hinblick auf das Verbot von baulichen Anlagen außerhalb dieser Bereiche auszugehen. Die dies ignorierende Baugenehmigung stelle den Gebietscharakter in Frage und sei als nachbarrechtsverletzend einzuordnen. Demnach könne auch die ergangene Befreiung nicht rechtmäßig sein. Die Rechtswidrigkeit ergebe sich bereits daraus, dass die Antragsgegnerin als planende Gemeinde mit der Festsetzung der Baugrenzen bewusst eine Entscheidung dahingehend getroffen habe, dass die Grundstücke nur eine mäßige Bebauung erhalten und große Grünflächen bewahrt werden sollten. Eine Befreiung für ein Vorhaben, das völlig außerhalb der Baugrenzen verwirklicht werden solle, greife in das planerische Grundkonzept ein und stelle sich wegen Berührens der Grundzüge der Planung als rechtswidrig dar. Auch dieser Verstoß sei aufgrund der Verletzung des Gebietscharakters nachbarrechtsverletzend.

Die Baugenehmigung sei darüber hinaus auch deshalb rechtswidrig, weil das genehmigte Bauvorhaben nicht die Abstandsflächen zum Grundstück der Antragstellerin einhalte. Das Vorhaben halte die mindestens einzuhaltende Abstandsfläche von 3,00 m wegen der auskragenden Deckenplatten, die bis zu 1,5 m an die Grenze zum Grundstück der Antragstellerin hinreichten, nicht ein. Die auskragenden Deckenplatten seien nicht unbeachtlich, da sie nicht der Vorschrift des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO unterfielen. Es handle sich dabei nicht um ein Gesims oder einen Dachüberstand oder ein ähnliches Bauteil, welches eine untergeordnete Wirkung habe (wird unter Hinweis auf Busse/Kraus, BayBO, Art. 6 Rn. 412 weiter ausgeführt).

Der Antragsgegner erwiderte mit Schriftsatz vom 27. September 2021, dass die Antragstellerin durch den Baugenehmigungsbescheid nicht in drittschützenden Rechten verletzt werde. Ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften sei nicht gegeben. So vermittelten die Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. … ersichtlich keinen Drittschutz. Eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen des Bebauungsplanes bestehe regelmäßig nur bei Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung (wird weiter ausgeführt). Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung vermittelten ausnahmsweise Drittschutz nur dann, wenn sie nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion haben sollten. Dies sei durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln. Ein entsprechender Wille müsse sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan selbst, aus seiner Begründung oder aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung ergeben. Maßgeblich sei, ob die Festsetzungen nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen worden seien oder einen nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollten.

Entsprechendes ergebe sich weder aus der Begründung des Bebauungsplanes Nr. … noch aus sonstigen Umständen. Gegen diese Annahme spreche ferner auch der UVPA-Beschluss vom 18. Oktober 2016, der eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Planungsrechtsvollzuges in diesem Bereich zum Gegenstand habe und einem intendierten Drittschutz letztlich zuwiderlaufen würde.

Ungeachtet dessen seien Abwehrrechte der Antragstellerin jedenfalls nach Treu und Glauben ausgeschlossen. Ein Nachbar könne sich gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht mit Erfolg auf die Verletzung nachbarschützender Vorschriften berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück nicht dieser Vorschrift entspreche und wenn die beiderseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig seien und nicht zu schlechthin untragbaren, als Missstand zur qualifizierenden Verhältnissen führt (BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7/17 - juris Rn. 24 ff; BayVGH, U.v. 4.2.2011 - 1 BV 08.131 - juris Rn. 37). Vorliegend liege das Wohngebäude der Antragstellerin selbst völlig außerhalb der Baugrenzen und sei etwa gleichgewichtig zum streitgegenständlichen Vorhaben. Beide Befreiungen führten auch nicht zu untragbaren Verhältnissen. Zu berücksichtigen sei auch, dass im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. … bereits eine Vielzahl von Befreiungen bezüglich der Baugrenzen erteilt worden seien und dass der beantragten Befreiung aus städtebaulicher Sicht im konkreten Fall keine Gründe entgegenstünden.

Von Bedeutung sei insoweit auch der Beschluss des Stadtrats vom 27. Oktober 2016 zum Erhalt und zur Weiterentwicklung des … Dieser stelle eine Leitlinie für das Verwaltungshandeln dar, die das Ziel verfolge, den Planungsrechtsvollzug in diesem Bereich zeitgemäß weiterzuentwickeln. In der Beschlussvorlage werde zwar auf die Einzigartigkeit des … und seine Bedeutung sowohl für die Stadt … als auch das … Stadtbild hingewiesen. Es werde aber auch darauf hingewiesen, dass sich im Laufe der Zeit ein Wandel vollzogen habe, der sich durch einen starken Druck auf den Wohnungsmarkt in … und eine erhöhte Nachfrage nach Wohnraum aller Art auch auf den … äußere. Demnach sei es das Ziel des Programmes, unter Berücksichtigung der Bestandsqualität, eine moderate Weiterentwicklung der Bebauung zu ermöglichen, um einen Ausgleich zwischen starkem Wohndruck einerseits und Erhaltung der städtebaulichen Qualität des … andererseits zu erzielen. Ferner sei in diesem Zusammenhang auch beschlossen worden, dass im Hinblick auf die einschlägigen Festsetzungen des Bebauungsplanes die GRZ und GFZ von Bauvorhaben weiterhin mit einer 10-prozentigen Toleranz bewertet werden sollten. Dies zu Grunde gelegt halte sich das geplante Vorhaben rechnerisch mit einer Dimension von 0,38 auch innerhalb dieser Toleranzgrenze.

Das Bauvorhaben halte auch die Abstandsflächen ein. Bei den auskragenden Platten handle es sich um einen Dachüberstand, der gemäß Art. 6 Abs. 6 Nr. 1 BayBO abstandsflächenrechtlich privilegiert sei. Es handle sich um untergeordnete Bauteile, denen keine eigene Funktion zukomme. Sie stellten vielmehr gestalterische Elemente dar, die dem Schutz der Fassade dienten und daher abstandsflächenrechtlich außer Betracht blieben. Dies gelte umso mehr, als sich durch die Dachplatten auch keinerlei Gefahren in brandschutzrechtlicher Sicht ergeben und auch Belichtung, Belüftung und Besonnung des Nachbargrundstücks keine Einschränkungen erführen.

Damit könne die Antragstellerin die Verletzung von Nachbarrechten nur nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots geltend machen. Nachbarrechte würden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig sei, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben in Folge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt werde. Insbesondere liege keine erdrückende Wirkung des Bauvorhabens gegenüber der Antragstellerin vor.

Der Bevollmächtigte der Antragstellerin erwiderte mit Schriftsatz vom 9. November 2021, dass es zwar richtig sei, das Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung meist nicht nachbarschützend seien, vorliegend aufgrund der Besonderheiten der durchgrünten und von großen Freiflächen geprägten Bebauung des Burgberges entsprechend der Festsetzungen von den Willen der Plangemeinde bei Aufstellung des Bebauungsplanes in den 60er-Jahren davon auszugehen sei, dass das Maß der baulichen Nutzung Teil des wechselseitigen nachbarlichen Austauschverhältnisses sei. Die Festsetzungen des Bebauungsplanes selbst enthielten hierzu keine Aussagen. Allerdings sei davon auszugehen, dass die Planbegründung hierzu Aussagen enthalte.

Vorliegend sei in ähnlicher Weise wie in der sogenannte Wannsee-Entscheidung (BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7/17) durch die durchgrünte, von großen Freiflächen geprägte, villenartige Anlage des Baugebiets, welches durch die definierten Baugrenzen, die geringe Grundflächen- und Geschossflächenzahl und die Beschränkung hinsichtlich der Geschosse gesichert werde, eine Schicksalsgemeinschaft der Grundstückseigentümer im Plangebiet entstanden, deren Bestehen davon abhängig sei, dass die Festsetzungen im gesamten Plangebiet eingehalten würden. Durch die Befreiung im Hinblick auf die Baugrenzen greife die Antragsgegnerin rechtswidrig in drittschutzbezogene Rechte ein. Die Befreiung berühre die Grundzüge der Planung. Wolle die Antragsgegnerin den Inhalt des Bebauungsplans ändern, dann müsse sie sich an das Verfahren gemäß §§ 2 und 10 BauGB halten und im Übrigen nach den Vorgaben des § 31 BauGB Befreiungen erteilen. Eine nachträgliche Änderung des Inhalts eines Bebauungsplans durch einfachen Beschluss sehe das Gesetz nicht vor. Habe die Antragsgegnerin beschlossen, von der Befreiungsmöglichkeit des § 31 BauGB in einer Weise Gebrauch zu machen, die vom Gesetz nicht gedeckt sei, handle sie nicht rechtmäßig.

Die Antragstellerin sei nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen, die Rechtswidrigkeit der Genehmigung geltend zu machen. Ein Nachbar sei unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung nur gehindert, einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften geltend zu machen, wenn er in vergleichbarer Weise, also etwa im selben Umfang gegen diese Vorschriften verstoßen habe (BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7/17, Rn. 26). Das Gebäude auf dem Grundstück der Antragstellerin sei zwar ebenfalls aufgrund einer Befreiung außerhalb der Baugrenzen des Bebauungsplans errichtet worden, sei aber so platziert, dass der Zweck des Bebauungsplans ein durchgrüntes Gebiet mit großen Freiflächen zwischen den Baukörpern zu erhalten, gewahrt werde. Auch nach Norden hin halte das Gebäude auf dem Grundstück der Antragstellerin einen Abstand von 4,00 m ein und bewahre auf diese Weise die planerische Konzeption. Dagegen solle das Bauvorhaben der Beigeladenen in einer Nähe von 3,00 m zur Grenze zum Grundstück der Antragstellerin ausgeführt werden. Es liege demnach kein vergleichbarer Verstoß vor.

Es bestehe auch die gerügte Abstandsflächenverletzung durch die auskragenden Deckenplatten. Diese wirkten wie eine Verbreiterung des Gebäudes und kämen der Grenze ca. 1,50 m nahe. Die in einer Höhe von ca. 7,00 m auskragende Deckenplatte führe zu einer zusätzlichen Verschattung und bewirke den Entzug von Sonnenlicht. Selbst bei Annahme, dass die auskragenden Platten gestalterische Funktion hätten, beziehe sich diese nicht auf die Gestaltung der Fassade, sondern wirkten als eigenständiges Element. Die gestalterische Funktion und der Schutz der Fassade gäben jedoch nicht das Recht, die gegenüber dem Grundstück der Antragstellerin einzuhaltenden Abstandsflächen zu verletzen.

Bei Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 und 4 BayBO seien Höchstmaße definiert, um den Nachbarn zu schützen, während bei Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 BayBO Maßangaben fehlten. Aus der Formulierung ergebe sich aber, dass es sich um ein deutlich untergeordnetes Bauteil handeln müsse. So träten ein Balkon oder eine Eingangsüberdachung nicht vor die Hauswand, sondern stellten ein Bauteil dar, welches an die Außenwand anschließe. So sei dies auch im Hinblick auf die auskragenden Deckenplatten. Aufgrund ihres Ausmaßes seien sie nicht vergleichbar mit einem Gesims oder einem Dachüberstand, sondern wirkten aufgrund ihrer Massivität und Dimension wie eine Gebäudeverbreiterung und könnten somit nicht als vortretendes Bauteil angesehen werden.

Mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2021, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach über das besondere Anwaltspostfach eingegangen am selben Tag, beantragten die Bevollmächtigten der Antragstellerin,

die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 28. Juni 2021 gegen die der Beigeladenen am 19. Mai 2021 erteilte Baugenehmigung bezüglich der Errichtung eines Einfamilienhauses und eines Carports auf dem Flurstück … der Gemarkung … anzuordnen.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen bereits der Vortrag aus dem Klageverfahren wiederholt und ergänzt, dass die Beigeladenen mittlerweile mit den Arbeiten zur Realisierung des Bauvorhabens durch Räumung des Baufeldes begonnen hätten. Es sei nun damit zu rechnen, dass die Beigeladenen den Ausgang des Klageverfahrens nicht abwarten würden, sondern von der vollziehbaren Baugenehmigung Gebrauch machen und Fakten schaffen wollten.

Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2022,

den Antrag abzulehnen.

Die Interessenabwägung zwischen dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin und dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin und der Beigeladenen würde zu Gunsten letzterer ausfallen. Für die gerichtliche Abwägungsentscheidung spielten vor allem die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens eine Rolle. Vorliegend werde der Rechtsbehelf in der Hauptsache nach summarischer Prüfung voraussichtlich erfolglos bleiben. Die Antragsgegnerin verwies zur Begründung im Übrigen vollumfänglich auf die Klageerwiderung im Hauptsacheverfahren.

Die Bevollmächtigten der Beigeladenen beantragten,

den Antrag kostenpflichtig abzuweisen.

Das Rechtsmittel sei in der Hauptsache unbegründet. Es ließen sich keine drittschützenden Normen des Bebauungsplanes finden, von denen das streitgegenständliche Bauvorhaben abweiche. Damit scheide eine Betroffenheit der Antragstellerin als planbetroffene Nachbarin aus. Auch eine Verletzung von Abstandsflächenvorschriften scheide aus. Bei der vom Bevollmächtigen der Antragstellerin angesprochenen Deckenplatten handle es sich um bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht bleibende Bauteile im Sinne des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO. Konkret handle es sich um Dachüberstände, die abstandsflächenrechtlich irrelevant seien.

Selbst wenn die Bauteile abstandsflächenrelevant sein sollten, würde dies nicht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung rechtfertigen. Das vom Bevollmächtigten der Antragstellerin angesprochene Bauteil ließe sich ohne Weiteres nachträglich abändern und so verkürzen, dass die Mindestabstandsflächentiefe von 3,00 m eingehalten werde.

Der Bevollmächtigte der Antragstellerin bestritt mit Schriftsatz vom 27. Dezember 2022, dass die auskragende Deckenplatte sich mit einfachen Mitteln nachträglich abändern und kürzen lasse. Unter Bezugnahme auf die Kommentierung bei Busse/Kraus, BayBO, Art. 66 Rn. 614 und die Entscheidung des BayVGH vom 17.06.1994 - 20 CS 94.1555 - werde darauf hingewiesen, dass bei begründeten Zweifeln über die Erfolgsaussichten die aufschiebende Wirkung regelmäßig wiederhergestellt werden müsse beziehungsweise nur dann nicht geboten sei, wenn der Mangel des Vorhabens nachträglich durch relativ geringfügige Veränderungen behoben werden könne. Vorliegend handle es sich um eine weit auskragende Betonplatte, die über eine definierte Bewehrung kombiniert mit einer bestimmten Betonüberdecke verfügen müsse, um dauerhaft stabil zu sein. Das diese nachträglich eingekürzt werden könne und dies als unschwer auszuführende Maßnahme anzusehen sei, ergebe sich nicht. Ein Abschneiden der Betonplatte führe zwangsläufig zu einem Durchtrennen der Bewehrungsstähle, die dann nicht mehr plangemäß vorhanden und nicht mehr plangemäß vom Beton überdeckt seien. Es sei damit zu rechnen, dass ein Einkürzen nicht gelingen werde und das abstandsflächenverletzende Bauteil insgesamt abgebrochen werden müsse. Eine solche nachträgliche Veränderung unterfalle der Norm des Art. 76 Satz 1 BayBO. Es handle sich dabei um eine Ermessensentscheidung der Behörde. Wie die Behörde ihr Ermessen betätige, könne nicht vorhergesehen werden. Der insofern der Antragstellerin zustehende Folgenbeseitigungsanspruch ziele ebenfalls auf eine Ermessenentscheidung der Behörde, bei der der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Bedeutung sei. Danach werde dem Nachbarn der Folgenbeseitigungsanspruch nur zuzubilligen sein, wenn die von dem rechtswidrigen Bauwerk ausgehenden Beeinträchtigungen einen erheblichen Grad erreichen und die Abwägung der Beeinträchtigung des Nachbarn mit dem Schaden des Bauherrn nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein deutliches Übergewicht der Interessen des Nachbarn ergebe. Andernfalls werde die Herstellung des früheren oder eines gleichwertigen Zustands nicht zumutbar sein und der Folgenbeseitigungsanspruch entfallen.

Die Antragstellerin könne also nicht damit rechnen, dass ein einmal verwirklichtes Bauvorhaben nachträglich wieder beseitigt oder verändert würde, sodass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung notwendig und begründet sei.

Der Bevollmächtigte der Kläger teilte mit Schriftsatz vom 10. Januar 2023 mit, dass es sich bei dem Bauvorhaben um ein Haus in Holzrahmenbauweise handele. Die monierte Auskragung werde als Platte auf die Flachdachkonstruktion aufgelegt, sei unabhängig von der Dach- und Außenwandkonstruktion und könne nachträglich unschwer gekürzt oder verändert werden. Auch seien die Beigeladenen bereit zu erklären, auf die Ausführungen der Auskragung zu verzichten. Falls das Gericht Entsprechendes für erforderlich erachte, werde um einen gerichtlichen Hinweis gebeten.

Ebenfalls mit Schriftsatz vom 10. Januar 2023 legte der Bevollmächtigte der Beigeladenen Klage gegen einen Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. Dezember 2019, mit dem die Baumaßnahmen auf dem streitgegenständlichen Grundstück wegen Nichteinhaltung der Auflagen zum Baumschutz unter Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eingestellt worden sind, ein (AN 3 K 23.53).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, auch der Gerichtsakte des beigezogenen Verfahrens AN 3 K 21.01176 und AN 3 K 23.53, und auf die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

II.

1. Der Antrag gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig.

Insbesondere ist der Antrag statthaft, da der Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt.

2. Der Antrag ist auch begründet.

Erhebt ein Dritter gegen die einem anderen erteilte Baugenehmigung Anfechtungsklage, so kann das Gericht auf Antrag gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die bundesgesetzlich gemäß § 212a Abs. 1 BauGB ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Hierbei trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, welche Interessen höher zu bewerten sind - die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streitenden. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Fällt die Erfolgsprognose zu Gunsten des Nachbarn aus, erweist sich die angefochtene Baugenehmigung nach summarischer Prüfung also als rechtswidrig im Hinblick auf nachbarschützende Vorschriften, so ist die Vollziehung der Genehmigung regelmäßig auszusetzen. Hat dagegen die Anfechtungsklage des Nachbarn mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg, so ist dies im Rahmen der Interessenabwägung ein starkes Indiz für ein überwiegendes Interesse des Bauherrn an der sofortigen Vollziehung der ihm erteilten Baugenehmigung. Bei offenen Erfolgsaussichten findet eine reine Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. etwa BayVGH, B.v. 26.7.2011 - 14 CS 11.535 - juris; B.v. 23.2.2021 - 15 CS 21.403 - juris).

Nach diesen Grundsätzen hat der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage der Antragstellerin Erfolg. Im vorliegenden Fall überwiegen die Interessen der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegenüber dem Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung der ihnen erteilten Baugenehmigung, da die Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom 19. Mai 2021 voraussichtlich Erfolg haben wird.

Die zulässige Anfechtungsklage ist voraussichtlich begründet. Die von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung verletzt nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage aller Voraussicht nach die Antragstellerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dabei kann die Antragstellerin die streitgegenständliche Baugenehmigung mit dem Ziel der Aufhebung nur dann erfolgreich anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, welche auch dem nachbarlichen Schutz dienen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und Gegenstand des vorliegenden Baugenehmigungsverfahrens gemäß Art. 59 BayBO sind.

Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 19. Mai 2021 verletzt die Antragstellerin nach summarischer Prüfung in ihren Rechten, da sie zu deren Lasten den gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 1 lit. b Bayerische Bauordnung (BayBO) zum Prüfprogramm des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens gehörenden bauordnungsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 BayBO widerspricht. Nicht berufen kann sich die Antragstellerin hingegen auf einen Verstoß der Baugenehmigung gegen Regelungen des maßgeblichen Bebauungsplanes.

a) Die Antragstellerin kann mit ihrer Argumentation, dass durch die Errichtung des Vorhabens der Beigeladenen vollständig außerhalb der im Bebauungsplan Nr. … für das Gebiet „…“ vom 20. August 1964 definierten Baugrenzen bzw. Baufenster der Gebietserhaltungsanspruch der Antragstellerin verletzt ist, nicht durchdringen.

Insoweit gilt bereits, dass Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, d.h. Baulinien, Baugrenzen, Baufenster, Grundflächenzahl und Geschossflächenzahl nicht drittschützend sind (vgl z.B. BayVGH, B.v. 27.11.2019 - 9 CS 19.1595 - juris Rn. 16 unter Verweis auf BVerwG, B.v. 13.12.2016 - 4 B 29.16 - juris Rn. 5 und BayVGH, B.v. 18.6.2018 - 15 ZB 17.635 - juris Rn. 16). Ob eine solche Festsetzung auch darauf gerichtet ist, dem Schutz eines Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab (BVerwG, B.v. 13.12.2016 - 4 B 29.16 - juris Rn. 5). Dabei können Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch dann drittschützende Wirkung entfalten, wenn der Bebauungsplan aus einer Zeit stammt, in der man ganz allgemein noch nicht an einen nachbarlichen Drittschutz gedacht hat (BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7/17 - juris Rn. 15). Aus Sicht der Kammer spricht unter Berücksichtigung der Begründung zum Bebauungsplan Nr. … viel dafür, dass die Antragsgegnerin mit den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung keinen Drittschutz für die Anwohner begründen wollte. Vielmehr dürfte es der Antragsgegnerin neben dem Anschluss der damaligen Gemeinde … an die Kläranlage und das Kanalnetz der Antraggegnerin und der Bereitstellung notwendiger Verkehrsflächen um die Schaffung von Bauland unter Wahrung des schönen Landschaftsbildes gegangen sein. Dies deutet darauf hin, dass ausschließlich städtebauliche Erwägungen maßgeblich waren (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 1.8.2016 - 15 CS 16.1106 - juris Rn. 18 ff.).

Letztlich kann es aber dahinstehen, ob die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung, insbesondere die Baugrenzen und Baufenster, auch dem Schutz der Nachbarn dienen, da sich die Antragstellerin wegen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben hierauf nicht berufen kann.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes muss eine Nachbarklage zum Schutze einer planwidrigen Nutzung erfolglos bleiben, weil rechtsmissbräuchlich handelt, wer unter Berufung auf das nachbarliche Austauschverhältnis eine eigene Nutzung schützen möchte, die ihrerseits das nachbarliche Austauschverhältnis stört. Dabei ist der Nachbar unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung dann gehindert, einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften geltend zu machen, wenn er in vergleichbarer Weise, d.h. etwa im selben Umfang, gegen diese Vorschriften verstoßen hat (BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7/17 - juris Rn. 24, 26).

Das Vorhaben der Beigeladenen soll vollständig außerhalb der im Bebauungsplan festgelegten Baugrenzen/Baufenster errichtet werden. Dazu wurde den Beigeladenen mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung eine Befreiung von den entsprechenden Festsetzungen des Bebauungsplanes erteilt. Ebenfalls vollständig außerhalb der festgesetzten Baufenster wurde jedoch auch das Gebäude der Antragstellerin errichtet. Insoweit verstoßen die Antragstellerin und die Beigeladenen in vergleichbarer Weise gegen die Vorgaben des Bebauungsplanes, für die der Bevollmächtigte der Antragstellerin eine drittschützende Wirkung reklamieren will.

Nach Überzeugung der Kammer kommt es für die Beurteilung der Vergleichbarkeit der Verstöße entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten der Antragstellerin nicht auf die exakte Platzierung des Vorhabens der Beigeladenen bzw. des Gebäudes der Antragstellerin im Verhältnis zu anderen Bauwerken an. Entscheidend ist insoweit nicht, ob das Vorhaben der Beigeladenen einen Meter weniger Abstand zu angrenzenden Gebäuden einhält als das Gebäude der Antragstellerin. Maßgeblich ist vielmehr, dass sowohl das geplante Vorhaben der Beigeladenen als auch das Gebäude der Antragstellerin vollständig außerhalb der vorhandenen Baufenster liegen und die Beigeladenen und die Antragstellerin in gleicher Weise in den Genuss von Befreiungen von den festgelegten Baufenstern gekommen sind. Denn ohne die durch den UVPA-Beschluss vom 18. Oktober 2016 dokumentierte Befreiungspraxis zur Förderung einer Nachverdichtung hätte auch das Gebäude der Antragstellerin nicht errichtet werden können. Insoweit unterscheidet sich die Situation des vorliegenden Falles von dem der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 9.8.2018 - a.a.O.) zugrundeliegenden Sachverhalt, bei dem sich die gegenüberstehenden Gebäudlichkeiten hinsichtlich der Anzahl der Vollgeschosse unterschieden.

Im Übrigen ist für das Gericht auch nicht erkennbar, dass die Verwirklichung des Vorhabens zu schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen würde (BayVGH, B.v. 27.7.2017 - 1 CS 17.918 -, juris Rn. 10).

b) Allerdings hält das Vorhaben nach summarischer Prüfung nicht die Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO ein.

Die Abstandsflächenregelungen des Art. 6 BayBO sind für den Eigentümer des Nachbargrundstückes drittschützend. Der Schutzzweck des Abstandsflächenrechts besteht für den Nachbarn gerade darin, Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie ggf. einen ausreichenden Sozialabstand zu gewährleisten (BayVGH, U.v. 21.7.2020 - 15 B 19.832 - juris Rn. 22).

Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Die Abstandsflächen müssen auf dem Grundstück selbst liegen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO) und ihre Tiefe beträgt 0,4 H, jeweils aber mindestens 3 m (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO). Bei der Bemessung der Abstandsflächen bleiben die in Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO genannten Gebäude- bzw. Bauteile außer Betracht.

Das Vorhaben der Beigeladenen hält zur östlichen Grundstücksgrenze, an die das Grundstück der Antragstellerin angrenzt, an der nördlichen Gebäudeecke einen Abstand von 3 m bzw. an der südlichen Gebäudeecke von etwa 5,50 m ein. Innerhalb dieser Abstände lassen sich zwar grundsätzlich die allein durch die östliche Außenwand in Höhe von 7,46 m bis 8,10 m ab der natürlichen Geländeoberfläche ausgelösten Abstandsflächen einhalten, jedoch wurden bei der Berechnung der Abstandsflächen von 3 m bzw. 3,24 m die drei waagrecht aus der Wand auskragenden Platten mit den Abmessungen von 4,00 m bzw. 4,50 m x 1,5 m nicht berücksichtigt. Da es sich bei den auskragenden Platten jedoch nicht um außer Betracht bleibende Bauteile im Sinne des Art. 6 Abs. 6 BayBO handelt, hätte nicht ausschließlich darauf abgestellt werden dürfen, dass die erforderliche Abstandsfläche dieser Außenwand ohne Berücksichtigung der Bauteile eingehalten wird.

Art. 6 Abs. 6 BayBO stellt eine gesetzliche Ausnahmeregelung dar, nach der die dort genannten Bauteile und Vorbauten zu abstandsflächenrechtlich unbeachtlichen Bestandteilen der Außenwand erklärt werden, wenn sie bestimmte Voraussetzungen beachten bzw. bestimmte Maße nicht überschreiten (Kraus in: Busse/Kraus, BayBO Art. 6 Rn. 406; Schönfeld in: BeckOK BauordnungsR Bayern, BayBO Art. 6 Rn. 179).

Offensichtlich unterfallen die an der östlichen Außenwand vorgesehenen Platten nicht der Regelung des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO, da dem sowohl Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a BayBO als auch Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c BayBO entgegenstehen.

Die Auskragungen können aber auch nicht als Bauteile im Sinne des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 BayBO bei der Bemessung der Abstandsflächen unberücksichtigt bleiben. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes zu Art. 6 Abs. 8 BayBO 2008 ist es auch für Bauteile im Sinne der Nr. 1 erforderlich, dass diese untergeordnet sind. Aus dem Fehlen des Tatbestandsmerkmals der „Unterordnung“ kann nicht gefolgert werden, dass bei der Bemessung der Abstandsflächen auch solche Bauteile außer Betracht bleiben können, die nicht „untergeordnet“ sind (BayVGH, U.v. 23.3.2010 - 15 B 08.2180 - juris Rn. 25; VG München, B.v. 11.7.2022 - M 11 SN 22.2871 - juris Rn 29; VG Augsburg, B.v. 20.3.2013 - Au 4 S 13.318 - juris Rn. 56; Kraus in: Busse/Kraus, BayBO Art. 6 Rn. 407; Schönfeld in: BeckOK BauordnungsR Bayern, BayBO Art. 6 Rn. 188). Dem entsprechend entfällt die Privilegierung eines prinzipiell unter Art. 6 Abs. 6 Nr. 1 fallende Bauteils dann, wenn es eine zusätzliche eigenständige Nutzungsfunktion aufweist, wie etwa ein als Überdachung eines Stellplatzes oder Lagerplatzes dienender Dachüberstand (VG München, B.v. 11.7.2022 - M 11 SN 22.2871 - juris Rn 29; Schönfeld in: BeckOK BauordnungsR Bayern, BayBO Art. 6 Rn. 187; Kraus in: Busse/Kraus, BayBO Art. 6 Rn. 407).

Vorliegend fehlt es nach Überzeugung der Kammer an einer derartigen Funktionslosigkeit. Zwar kommt den Auskragungen sicherlich auch eine gestalterische Wirkung zu, jedoch dürfte insbesondere bei den im nördlichen Bereich der östlichen Außenwand befindlichen Platten, insbesondere der Platte zwischen Erdgeschoss und 1. Stock, eine überdachende Funktion hinzukommen. Die Platten stehen 1,5 m über die Außenwand hinaus, setzen sich über Eck an der nördlichen Außenwand fort und enden am überstehenden 1. OG. Damit entsteht vom Carport bis zu der in der nördlichen Außenwand gelegenen Eingangstüre ein Regen - und Witterungsschutz, der es ermöglicht, trocken vom Carport bis zum Eingang zu kommen. Diese aus Sicht der Kammer offensichtliche zusätzliche Funktion steht einer Untergeordnetheit der Platten entgegen, selbst wenn man die Tiefe der Platten von 1,5 m der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 BauGB nicht als entgegenstehend betrachten wollte (so wohl z.B. VG Augsburg, B.v. 20.3.2013 - Au 4 S 13.318 - juris Rn. 56; Schönfeld in: BeckOK BauordnungsR Bayern, BayBO Art. 6 Rn. 187).

Soweit der Bevollmächtigte der Beigeladenen mit Schriftsatz vom 10. Januar 2023 angekündigt hat, dass die Beigeladenen bereit seien, auf die Auskragungen zu verzichten, so ist dies im Rahmen des Eilrechtsschutzes noch nicht ausreichend verbindlich umgesetzt, solange die Baugenehmigung die Errichtung des Vorhabens mit den Auskragungen ermöglicht. Insoweit steht den Beigeladenen frei, vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren z.B. eine Tektur der Baugenehmigung zu veranlassen oder eine Einigung mit der Antragstellerin herbeizuführen. Entsprechend konnte im Eilverfahren auch auf die Erteilung eines gerichtlichen Hinweises verzichtet werden.

Auch steht der Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht entgegen, falls die auskragenden Bauteile möglicherweise ohne erheblichen Aufwand entfernt werden können und so der rügbarer Mangel durch geringfügige Veränderungen behoben werden kann (BayVGH, B.v. 17.6.1994 - 20 CS 94.1555 - juris Rn. 15). Zum einen ist für das Gericht nicht belastbar nachvollziehbar, ob eine Beseitigung der Auskragungen tatsächlich bautechnisch unschwer möglich ist, zum anderen bezieht sich die Erklärung des Beigeladenenvertreters ausschließlich auf die am Dach angebrachte Auskragung, nicht aber auf die zwischen dem Erdgeschoss und dem 1. Obergeschoss angebrachte Platte. Hinzukommt, dass eine Abänderung der Baugenehmigung bzw. ein bauaufsichtliches Einschreiten jeweils im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde stehen und eine Ermessensreduzierung auf Null sich für die Kammer insoweit nicht aufdrängt.

3. Die Kostenpflicht der Antragsgegnerin ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Den Beigeladenen waren neben der Antragsgegnerin als unterliegender Partei gem. § 154 Abs. 3 VwGO die Hälfte der Kosten aufzuerlegen (§ 159 Satz 2 VwGO), da sie einen Sachantrag gestellt haben und mit diesem unterlegen ist.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nrn. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

Datenquelle d. amtl. Textes: Bayern.Recht

Meta

AN 3 S 22.02559

30.01.2023

VG Ansbach

Entscheidung

Sachgebiet: S

Zitier­vorschlag: VG Ansbach, Entscheidung vom 30.01.2023, Az. AN 3 S 22.02559 (REWIS RS 2023, 288)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 288

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