Bundesfinanzhof, Urteil vom 28.04.2016, Az. III R 4/12

3. Senat | REWIS RS 2016, 12113

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Gegenstand

Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden geschiedenen Elternteils


Leitsatz

NV: Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften polnischen Staatsangehörigen für sein in Polen im Haushalt des geschiedenen Elternteils lebenden Kindes kann nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des anderen Elternteils verdrängt werden (Anschluss an BFH-Urteil vom 28. April 2016 III R 68/13) .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 8. Dezember 2011  16 K 291/11 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist [X.] [X.]taatsangehöriger, wohnt seit 2005 in der [X.] ([X.]) und übt hier eine unselbständige, sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aus. Er ist der Vater eines im Juni 1995 geborenen [X.] ([X.]).

2

Die nicht erwerbstätige Kindsmutter, von der der Kläger seit 2006 geschieden ist, wohnt mit [X.] in [X.]. Ein Anspruch auf [X.] Kindergeld bestand nicht.

3

Mit Bescheid vom 9. März 2011 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (E[X.]tG) ab Mai 2010 auf. Zur Begründung machte sie geltend, dass die Kindsmutter das Kind in ihren Haushalt aufgenommen und deshalb einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld (§ 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG) habe. Der dagegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 12. August 2011).

4

Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen erhobenen Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 849 veröffentlichten Urteil statt und hob den Aufhebungsbescheid vom 9. März 2011 auf.

5

Mit der Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 E[X.]tG ergebende Verletzung materiellen Rechts.

6

Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Mit Beschluss vom 26. November 2014 hat der [X.]enat das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen [X.]/14 zum Ruhen gebracht. Der [X.] hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2015, 1190) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

9

II. Die Revision ist begründet. [X.]ie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 [X.]atz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht anspruchsberechtigt (§§ 62 ff. E[X.]tG). Allerdings führt die Anwendung von Unionsrecht dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG vorrangig der geschiedenen Ehefrau zusteht.

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 [X.]atz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 E[X.]tG. Dies wurde --für den [X.]enat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O)-- vom [X.] festgestellt und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Unerheblich ist für die Kindergeldberechtigung, dass [X.] seinen Wohnsitz in [X.] hat (§ 63 Abs. 1 [X.]atz 3 E[X.]tG).

2. Allerdings ist die Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG vorrangig anspruchsberechtigt, weil sie [X.] in ihren Haushalt aufgenommen hat. Gemäß Art. 67 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der [X.]ysteme der sozialen [X.]icherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, [X.]. 1) in der für den [X.]treitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 883/2004 ([X.]. Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. [X.]eptember 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der [X.]ysteme der sozialen [X.]icherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, [X.]. 1) in der für den [X.]treitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 987/2009 ([X.] ist zu unterstellen, dass sie mit [X.] in [X.] wohnt.

a) Nach § 64 Abs. 1 E[X.]tG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG).

b) Im [X.]treitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 E[X.]tG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der [X.] (dazu 3.). Dadurch fingiert Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der [X.] einen Inlandswohnsitz der Kindsmutter (dazu 4.). Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).

3. Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im [X.]treitfall eröffnet und [X.] ist der zuständige Mitgliedstaat.

a) Der Kläger ist [X.] [X.]taatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem E[X.]tG eine Familienleistung i.[X.]. des Art. 1 Buchst. z der [X.] 883/2004. Deshalb ist auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004 eröffnet.

b) Nach Art. 11 Abs. 1 der [X.] 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im [X.]treitfall ergibt sich die Anwendung der [X.] Rechtsvorschriften aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der [X.] 883/2004.

4. Aus Art. 67 [X.]atz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der [X.] 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird.

a) Nach Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der [X.] 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der [X.] 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die [X.]ituation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigten, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der [X.] 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der [X.] 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahingehend, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die [X.]ituation der gesamten Familien in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten.

b) Art. 67 der [X.] 883/2004 ist ungeachtet dessen anwendbar, dass es bereits nach nationalem Recht (§ 63 Abs. 1 [X.]atz 1 Nr. 1, [X.]atz 3 E[X.]tG) nicht darauf ankommt, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedstaat der [X.] hat ([X.]-Urteil in [X.], 1190, Rz 35 ff.). Zudem kommt es nicht darauf an, ob im [X.]treitfall zusätzlich auch eine von Art. 68 der [X.] 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist. Wäre Art. 68 der [X.] 883/2004 nicht einschlägig, fände Art. 60 der [X.] 987/2009 bereits über Art. 67 der [X.] 883/2004 Anwendung ([X.]-Urteil in [X.], 1190, Rz 32 f., 35 ff.).

c) Zu den "beteiligten Personen" i.[X.]. des Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der [X.] 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i.[X.]. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der [X.] 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem E[X.]tG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben ([X.]-Urteil in [X.], 1190, Rz 38). Daher werden von diesem Begriff auch Elternteile erfasst, die nicht miteinander verheiratet sind.

Der Begriff der "beteiligten Personen" i.[X.]. des Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der [X.] 987/2009 ist auch nicht unter Rückgriff auf Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der [X.] 883/2004 zu bestimmen. Danach gelten als "Familienangehörige" nur der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder, wenn die anzuwendenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen Personen unterscheiden, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar sind. Die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung ergibt sich zum einen daraus, dass im [X.] Kindergeldrecht die Anspruchsberechtigung von einer familienrechtlichen Beziehung zu dem Kind abhängig gemacht wird (vgl. § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 E[X.]tG). Zum anderen hat auch der [X.] in seinem Urteil in [X.], 1190, Rz 38 zur Bestimmung der "beteiligten Personen" auf die nach nationalem Recht Anspruchsberechtigten abgestellt und dementsprechend im dort entschiedenen [X.]treitfall auch die ehemalige (geschiedene) Ehefrau des Anspruchstellers als "beteiligte Person" qualifiziert.

5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte [X.] i.[X.]. des § 62 Abs. 2 E[X.]tG ist, noch dass sie mit dem Kläger einen gemeinsamen Haushalt in [X.] hatte (§ 64 Abs. 2 [X.]atz 2 E[X.]tG). Letzterer ergibt sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der [X.] 987/2009.

6. [X.]chließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt hat. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Ansprüche auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt nach Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 3 der [X.] 987/2009 der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem "anderen Elternteil" gestellt wird. Der Anspruch auf Kindergeld müsste dem Kläger daher nicht wegen einer fehlenden Antragstellung der Kindsmutter zuerkannt werden ([X.]-Urteil in [X.], 1190, Rz 50). Vielmehr reichte es aus, dass der Kläger einen Antrag auf Kindergeld gestellt hat. Diesen hätte die [X.] Familienkasse auch zugunsten des [X.] der Kindsmutter zu berücksichtigen.

7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

III R 4/12

28.04.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 8. Dezember 2011, Az: 16 K 291/11, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 2 EStG 2009, § 64 Abs 3 EStG 2009, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, Art 1 Buchst i Nr 1 Buchst i EGV 883/2004, Art 1 Buchst i Nr 2 EGV 883/2004, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 28.04.2016, Az. III R 4/12 (REWIS RS 2016, 12113)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 12113

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