Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 20.03.2014, Az. 2 B 59/12

2. Senat | REWIS RS 2014, 6903

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sachverständigengutachten; Beurteilungsmaßstäbe; Leitung der Tätigkeit des Sachverständigen; Aufklärungspflichtverstoß


Gründe

1

Die Beschwerde der Klägerin hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil die Berufungsentscheidung auf einem Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) beruhen kann.

2

Die 1959 geborene Klägerin - eine Oberstudienrätin im Dienst des Beklagten - erlitt im Februar 1996 und im Dezember 1997 als solche anerkannte Dienstunfälle, bei denen jeweils ein [X.] diagnostiziert worden war. Im September 2003 rutschte sie beim Schließen eines Fensters in der Schule von einem Stuhl ab und hielt sich zwei bis drei Minuten mit der rechten Hand am Fenstergriff hängend fest. Der Beklagte erkannte dies als weiteren Dienstunfall mit der Dienstunfallfolge "Schulterdistorsion rechts" an.

3

2005 stellte der Beklagte fest, dass bei der Klägerin 2004 darüber hinaus festgestellte Bandscheibenschäden an der Halswirbelsäule und Schulter (frozen shoulder) nicht auf den bereits als Dienstunfälle anerkannten Ereignissen beruhten. Zugleich forderte er für die Jahre 2004 bis 2005 vorläufig gewährte dienstunfallbedingte Heilbehandlungskosten zurück. Die Klage, die vorrangig auf die Anerkennung der Schäden im Bereich der Halswirbelsäule und der rechten Schulter als Dienstunfallfolgen gerichtet ist, ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben, weil sich ein Kausalzusammenhang der Schäden mit dem Unfallgeschehen nicht nachweisen lasse.

4

1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst.

5

Die nach § 133 Abs. 3 VwGO erforderliche Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine Rechtsfrage von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung aufwirft und darlegt, dass diese Rechtsfrage sowohl im konkreten Fall entscheidungserheblich als auch allgemein klärungsbedürftig ist. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage auf der Grundlage der bundesgerichtlichen Rechtsprechung oder des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Auslegungsregeln eindeutig beantwortet werden kann (stRspr. vgl. Beschluss vom 24. Januar 2011 - BVerwG 2 B 2.11 - NVwZ-RR 2011, 329 Rn. 4).

6

Bei der von der Klägerin als rechtsgrundsätzlich aufgeworfenen Frage,

ob ein Verwaltungsgericht sein Urteil auf ein Sachverständigengutachten stützen kann, welches in wesentlichen Teilen auf einem Interneteintrag [X.] beruht, ohne das dies vom Sachverständigen erläutert wurde,

handelt es sich nicht um eine Frage der Auslegung revisiblen Rechts, die in einem Revisionsverfahren geklärt werden könnte.

7

Bei den vom Sachverständigen herangezogenen fachorthopädischen Beurteilungsmaßstäben handelt es sich um tatsächliche medizinische Aussagen. Sie haben keinen normativen [X.]harakter. Insoweit fehlt es an Rechtsnormen, die das Revisionsgericht als Maßstab für seine Nachprüfung heranziehen darf (vgl. hierzu auch Urteil vom 15. Dezember 2011 - BVerwG 2 [X.] - [X.] 240 § 50a [X.] Nr. 1 Rn. 14 = NVwZ 2012, 641; Beschlüsse vom 1. April 2009 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 6 und vom 8. Januar 2013 - BVerwG 5 [X.] - juris Rn. 5). Dies gilt unabhängig von der inhaltlichen Qualität eines Sachverständigengutachtens und der in Bezug genommenen Quellen. Im Übrigen ergeben sich nur für die theoretischen Ausführungen im Gutachten zur Schultersteife (frozen shoulder) auf zwei Seiten ([X.] 17 - 19 des Gutachtens) des 27-seitigen Gutachtens auffällige Übereinstimmungen mit dem entsprechenden [X.] Eintrag.

8

2. Allerdings hat die Klägerin einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO bezeichnet, auf dem die Berufungsentscheidung beruhen kann. Der Verwaltungsgerichtshof hat gegen seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts nach § 86 Abs. 1 VwGO verstoßen.

9

Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO obliegt den [X.] die Pflicht, jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. Urteile vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 [X.] 15.84 - BVerwGE 71, 38 <41> und vom 6. Oktober 1987 - BVerwG 9 [X.] 12.87 - [X.] 310 § 98 VwGO Nr. 31 S. 1). Dabei entscheidet das [X.] über die Art der heranzuziehenden Beweismittel und den Umfang der Beweisaufnahme im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsermittlung von Amts wegen nach Ermessen. Dies gilt auch für die Einholung von Gutachten oder die Ergänzung vorhandener Gutachten oder Arztberichte und selbst dann, wenn eine solche Maßnahme der Sachverhaltsermittlung von einem Beteiligten angeregt worden ist (z.B. Urteil vom 6. Oktober 1987 a.a.[X.]; Beschlüsse vom 24. März 2000 - BVerwG 9 B 530.99 - [X.] 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 308 S. 16 und vom 26. September 2012 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 4).

Ein Verstoß gegen § 86 Abs. 1 S. 1 VwGO liegt vor, wenn sich das Gericht zur Klärung einer entscheidungserheblichen Frage mit einem von ihm eingeholten Sachverständigengutachten begnügt, das wegen fachlicher Mängel nicht verwertet werden kann. Dies ist im Allgemeinen der Fall, wenn das vorliegende Gutachten auch für den Nichtsachkundigen erkennbare Mängel aufweist, etwa nicht auf dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft beruht, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen gibt (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 26. Februar 2008 - BVerwG 2 B 122.07 - [X.] 2008, 257 <259 f.> und vom 29. Mai 2009 - BVerwG 2 [X.] - [X.] 235.1 § 58 [X.] Nr. 5 Rn. 7 = NJW 2009, 2614).

Nach § 98 VwGO i.V.m. § 404a ZPO leitet das Gericht die Tätigkeit des Sachverständigen. Bei einem medizinischen Gutachten muss das Gericht dem Gutachter sämtliche Anknüpfungstatsachen, insbesondere Krankenunterlagen oder Stellungnahmen der behandelnden Ärzte, übermitteln und ihn anhalten, sich mit diesen fachkundigen Stellungnahmen auseinanderzusetzen. Weicht der Sachverständige von einer solchen Stellungnahme ab, so muss er im Gutachten auf diese fachkundige Äußerung eingehen und den Grund für sein abweichendes Ergebnis nachvollziehbar darlegen. Andernfalls ist das Gutachten unvollständig und deshalb fehlerhaft (Beschluss vom 30. Juni 2010 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 6).

Nach diesen Grundsätzen durfte der Verwaltungsgerichtshof die von der Klägerin wiederholt mit konkreten Sachverhaltsfragen vorgetragene Beweisanregung, den Gutachter um mündliche Erläuterung seiner schriftlichen Ausführungen in einer mündlichen Verhandlung zu bitten, nicht mit der im Beschluss dargelegten Begründung ablehnen.

a) Der Gutachter verneint eine Kausalität zwischen dem Unfallereignis von Februar 1996 und den bei der Klägerin festgestellten Bandscheibenvorfälle und degenerativen Veränderungen ihrer Halswirbelsäule wegen einer von ihm nach Aktenlage als nur leichtgradig eingeschätzten [X.]. Dabei setzt er sich nicht nachvollziehbar mit den ihm vorliegenden Befunderhebungen des die Klägerin seit dem 22. Februar 1996 behandelnden Orthopäden (Attest vom 15. April 1996: deutliche Bewegungseinschränkung der HWS, insbesondere der Rechtsrotation bei 20 Grad, deutlicher Druckschmerz im Bereich der [X.] sowie der seitlichen [X.]) auseinander. Auch die Feststellungen desjenigen Arztes, der die Klägerin am 14. und 15. Februar 1996 behandelte, hat der Gutachter nicht berücksichtigt. Der Hinweis des Gutachters in seiner ergänzenden Stellungnahme, es sei nicht seine Aufgabe, nicht in der Akte enthaltene Unterlagen vorbehandelnder Ärzte einzuholen (gemeint ist der Durchgangsarztbericht), ist in diesem Zusammenhang irreführend. Denn in dem ihm vorliegenden eingeholten [X.] von [X.] vom 16. Dezember 2004 heißt es: "[X.], Druck- und Bewegungsschmerz paravertebrale HWS-Muskulatur, röntgenologisch Steilstellung der HWS ohne Frakturnachweis, [X.]ephalgie sowie starker Druckschmerz über dem rechten Musculus trapezius". An einer wertenden Auseinandersetzung des Gutachters mit den vorgenannten Anknüpfungstatsachen fehlt es.

Hinzu kommt, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht dafür Sorge getragen hat, dass dem Gutachter sämtliche relevanten Anknüpfungstatsachen, insbesondere die im unmittelbaren [X.] an die Dienstunfälle angefallenen ärztlichen Stellungnahmen und Befunde zur Verfügung gestanden haben. Dies ist jedenfalls für die im Februar 1996 angefallenen ärztlichen Unterlagen betreffend den von der Klägerin damals erlittenen Dienstunfall fehlerhaft unterblieben, obgleich die Klägerin den Verwaltungsgerichtshof darauf hingewiesen und um Übersendung an den Gutachter gebeten hatte.

Darüber hinaus spricht alles dafür, dass das Gutachten nicht auf dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft beruht. Denn der Gutachter stützt sich, wie die Klägerin zutreffend rügt, hinsichtlich der Bewertung der von ihr erlittenen [X.] 1996 und 1997 im Wesentlichen auf ältere und jedenfalls partiell überholte Veröffentlichungen von [X.] (1973/74) und [X.] (1984). Zusätzlich enthält der Literaturanhang des Gutachtens zwar Nachweise aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur [X.] aus der [X.] von 1985 bis 2001. Hingegen nimmt der Gutachter die von der Klägerin dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten aktuellen "Anhaltspunkte für die Begutachtung von Halswirbelsäulenverletzungen" der [X.] (Stand: 26. Februar 2004) nicht in Bezug. Seine dafür in der ergänzenden Stellungnahme gegebene Erklärung, "manche Sachen" würden "in der Wissenschaft irgendwann nicht mehr untersucht werden, da sie als geklärt gelten", ist in dieser Allgemeinheit schon deshalb nicht tragfähig, weil er für [X.]en mit [X.] auf die besondere Bedeutung des "beschwerdefreien Intervalls während der posttraumatischen Frühperiode" einer [X.] abstellt. Ein solches "beschwerdefreies Intervall" ist dagegen nach den vorbezeichneten "Anhaltspunkten" der [X.] 2004 kein Diagnosekriterium. Zur Auflösung dieser Widersprüche wäre die mündliche Erörterung des Gutachtens geeignet und geboten gewesen.

b) Die weiter geltend gemachten Aufklärungsmängel hinsichtlich des von der Klägerin im September 2003 erlittenen [X.] zum Unfallmechanismus, zur Schultersteife, zu einem Impingement der rechten Schulter und ihrer Instabilität sowie zu der in der Folge im März 2004 durchgeführten chiropraktischen Behandlung genügen den Substantiierungsanforderungen nach § 133 Abs. 3 Satz 2 VwGO nicht. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO ab.

Meta

2 B 59/12

20.03.2014

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 8. Mai 2012, Az: 3 B 09.2896, Beschluss

§ 86 Abs 1 VwGO, § 98 VwGO, § 404a ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 20.03.2014, Az. 2 B 59/12 (REWIS RS 2014, 6903)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 6903

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

3 B 14.802 (VGH München)

Unfallfürsorge - Anerkennung eines Körperschadens als Unfallfolge


3 B 14.545 (VGH München)

Schulterschmerzen eines Beamten zwei Jahre nach Dienstunfall - non liquet zu Lasten des Beamten


AN 16 K 18.02122 (VG Ansbach)

Kein Anspruch auf Anerkennung von Dienstunfallfolgen


B 5 K 12.604 (VG Bayreuth)

Dienstunfall, somatoforme Schmerzstörung, Kopfschmerzen, Ursachenzusammenhang, Kausalität, Verkehrsunfall, Verschlimmerung


M 12 K 15.4381 (VG München)

Rückforderung vorläufig gewährter Heilverfahrenskosten


Referenzen
Wird zitiert von

W 1 K 14.900

W 1 K 13.12

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.