Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.11.2021, Az. 3 StR 378/21

3. Strafsenat | REWIS RS 2021, 1074

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Gegenstand

Revision im Strafverfahren: Sachrüge wegen Absehens von der Anordnung einer Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung


Tenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 7. Juni 2021 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) in den Aussprüchen über die jeweilige Gesamtstrafe,

b) soweit jeweils von der Anordnung einer Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung abgesehen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Angeklagten wegen einer im Mai 2017 von ihnen gemeinschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung verurteilt; den Angeklagten [X.]    unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe aus einem Urteil von September 2020 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, die Angeklagte [X.]     unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einem Strafbefehl von September 2019 oder 2020 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen. Von der Anordnung einer Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verzögerung des Verfahrens hat die [X.] jeweils abgesehen. Die auf die [X.] der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten haben den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Die Aussprüche über die Gesamtfreiheitsstrafen unterliegen wegen der fehlenden Angabe der [X.] zu den jeweiligen Vorverurteilungen der Aufhebung. Es ist deshalb nicht überprüfbar, ob die von der [X.] gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 StPO jeweils vorgenommene nachträgliche Gesamtstrafenbildung rechtsfehlerfrei ist. Im Einzelnen:

3

a) Betreffend den Angeklagten [X.]    hat das [X.] angesichts der hiesigen Tatzeit Mai 2017 eine nachträgliche Gesamtstrafe mit der Freiheitsstrafe aus einer nicht erledigten Verurteilung aus September 2020 gebildet. Ausweislich der Urteilsgründe wurde der Angeklagte allerdings im November 2020 zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe wegen zweier Delikte verurteilt, die ebenfalls noch nicht vollstreckt ist. Ohne Angabe der entsprechenden [X.] lässt sich nicht nachvollziehen, ob die Einbeziehung auch der für jene beiden Taten verhängten Einzelstrafen rechtsfehlerfrei unterblieben ist. [X.] der Angeklagte die Taten vor dem Urteil von September 2020, was zeitlich naheliegt, hätten die Strafen ebenfalls einbezogen werden müssen.

4

b) Hinsichtlich der Angeklagten [X.]    hat das [X.] in Anwendung von § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB eine Gesamtstrafe mit einer (wohl) am 2. September 2019 (so [X.] und [X.]; im Tenor: "02.09.2020") rechtskräftig gegen die Angeklagte verhängten und noch nicht erledigten Geldstrafe gebildet, weil die hiesige Tatzeit im Mai 2017 vor jener Verurteilung lag.

5

Die Angeklagte wurde jedoch laut den getroffenen Feststellungen im [X.] sowie im Juni und August 2017 zu drei weiteren Geldstrafen verurteilt. Diese führte das Amtsgericht nachträglich gemäß § 460 StPO auf eine Gesamtgeldstrafe zurück, die zum Urteilszeitpunkt noch nicht vollständig vollstreckt war. Die beiden nicht erledigten Erkenntnisse aus dem [X.] hat das [X.] bei seiner Gesamtstrafenbildung nicht ersichtlich bedacht, obwohl sie in den Zeitraum zwischen der hiesigen Tatbegehung und der einbezogenen Strafe aus 2019 fallen.

6

Aufgrund der fehlenden Feststellungen zu den jeweiligen [X.] ist eine revisionsrechtliche Prüfung dahin nicht möglich, ob diese Gesamtstrafenbildung rechtsfehlerfrei ist, oder - wie der [X.] meint - weitere Strafen hätten einbezogen werden müssen. Insofern ist maßgeblich, ob die Angeklagte einzelne oder alle der im Juni und August 2017 abgeurteilten Taten nach der Verurteilung aus dem [X.] verübte. Ist dies nicht der Fall, können das Erkenntnis aus dem [X.] eine Zäsur gebildet haben und die unterbliebene Einbeziehung zutreffend sein.

7

2. Das Urteil unterliegt ebenfalls der Aufhebung, soweit die [X.] davon abgesehen hat, eine Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung auszusprechen.

8

a) Dieser Rechtsfehler findet in der hier vorliegenden Fallgestaltung auf die von beiden Angeklagten erhobene Sachrüge Beachtung. Für die revisionsrechtliche Beanstandung einer tatgerichtlichen Entscheidung über die Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verzögerung im Wege der [X.] ist zwar grundsätzlich eine Verfahrensrüge zu erheben. Die Sachrüge greift jedoch ein, wenn die Voraussetzungen einer solchen Verzögerung den Urteilsgründen zu entnehmen sind oder wenn sich aus jenen ausreichende Anhaltspunkte ergeben, die das Tatgericht zur Prüfung einer Kompensation drängen mussten, so dass ein Erörterungsmangel zu besorgen ist (st. Rspr.; s. etwa [X.], Beschluss vom 28. Mai 2020 - 3 StR 99/19, juris Rn. 24 mwN).

9

b) Hier erweist sich das Absehen von der Anordnung einer Kompensation in [X.] Hinsicht als durchgreifend rechtsfehlerhaft, da die vom [X.] getroffenen Feststellungen den Verfahrensablauf hinreichend dokumentieren und seine Entscheidung, die Voraussetzungen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] nicht als gegeben anzusehen, nicht zu stützen vermögen.

Aus den Urteilsgründen geht zunächst hervor, dass die Akte im Mai 2017 bei der Staatsanwaltschaft einging, das Verfahren dort jedoch "nicht erkennbar gefördert" wurde, bis die Behörde "ohne weitere Ermittlungstätigkeit" im Dezember 2018 Anklage erhob. Weitere 16 Monate vergingen bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens vor der [X.] im April 2020. In der vorangegangenen Zustellung der Anklage, der Bestellung von [X.], der Gewährung von Akteneinsicht und der Zulassung der Nebenklage ist dabei keine einen solchen Zeitraum erfordernde Förderung des Verfahrens zu erblicken. Schließlich dauerte es mehr als ein weiteres Jahr bis zum Beginn der dreitägigen Hauptverhandlung Ende Mai 2021.

In Anbetracht des verhältnismäßig einfach gelagerten Sachverhalts und des überschaubaren Verfahrensstoffs - es haben eine Tat, zwei Beschuldigte und neben einem gut dokumentierten [X.] im Wesentlichen zwei Zeugen in Rede gestanden - ist es auf der Grundlage der derzeit getroffenen Feststellungen auch eingedenk des Umstands, dass die Angeklagten sich nicht in Haft befanden, nicht gerechtfertigt, das Verfahren in seinen verschiedenen Stadien jeweils derart lange unbearbeitet zu lassen, dass es insgesamt über vier Jahre bis zu einem Urteil dauerte. Entgegen der Wertung des [X.]s kann dieser Zeitablauf weder als insgesamt angemessen bezeichnet noch durch eine Berücksichtigung innerhalb der Strafzumessung ausgeglichen werden. Die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verzögerung ist aus dem Strafzumessungsvorgang herausgelöst; sie steht getrennt von Schuld und Strafmaß ([X.], Beschluss vom 17. Januar 2008 - [X.], [X.]St 52, 124 Rn. 31 ff.). Das neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, den Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung und die daraus folgenden individuellen Belastungen für die Angeklagten einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu unterziehen, um die Art - Feststellung oder Vollstreckungsabschlag - und gegebenenfalls Höhe der Kompensation im Rahmen des sogenannten [X.] zu bestimmen (zur Bemessung s. etwa [X.], Beschlüsse vom 8. März 2018 - 3 [X.], NStZ-RR 2018, 199, 200 mwN; vom 1. Dezember 2020 - 2 StR 384/20, juris Rn. 8 mwN).

3. Die jeweils zugehörigen Feststellungen werden, obgleich sie rechtsfehlerfrei getroffen sind, aufgehoben, um zu beiden Aspekten - Vorverurteilungen und Verfahrensverzögerung - widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen.

Schäfer     

      

Anstötz     

      

Erbguth

      

Kreicker     

      

Voigt     

      

Meta

3 StR 378/21

16.11.2021

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Mönchengladbach, 7. Juni 2021, Az: 21 KLs 47/18

§ 337 Abs 1 StPO, Art 6 Abs 1 S 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.11.2021, Az. 3 StR 378/21 (REWIS RS 2021, 1074)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 1074

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3 StR 99/19

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