Bundesgerichtshof, Urteil vom 09.11.2022, Az. IV ZR 62/22

4. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 7046

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Gegenstand

Versicherungsschutz in der Wohngebäudeversicherung: Begriff des Erdrutsches


Leitsatz

Der in den Klauseln zu einer Wohngebäudeversicherung (hier: Klauseln zu den WGB F 01/08 K.7) als "naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen" definierte Begriff "Erdrutsch" erfasst auch Schäden am Versicherungsobjekt, die durch allmähliche, nicht augenscheinliche naturbedingte Bewegungen von Gesteins- oder Erdmassen verursacht werden.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] - 1. Zivilsenat - vom 27. Januar 2022 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 84.000 € festgesetzt.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einer Wohngebäudeversicherung geltend, der unter anderem Wohngebäudeversicherungsbedingungen der [X.] ([X.]) sowie Klauseln zu den [X.] zugrunde liegen. Der Versicherungsschutz erstreckt sich auf Schäden durch weitere Elementargefahren, unter anderem Erdrutsch. Dazu bestimmen die Klauseln zu den [X.] in K.7:

"Erdrutsch ist ein naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen."

2

Das versicherte Grundstück des [X.] liegt am vorderen Rand einer vor etwa 80 Jahren am Hang aufgeschütteten Terrasse. Im Jahre 2018 zeigte der Kläger bei der [X.] Schäden in Form von Rissbildungen an seinem Wohnhaus und auf der zugehörigen Terrasse an. Eine Übernahme der Kosten für die Beseitigung der Schäden lehnte die Beklagte ab.

3

Der Kläger behauptet, die Schäden seien einzig mit einem Erdrutsch erklärbar. Sie seien durch nicht augenscheinliche Rutschungen des Untergrunds von wenigen Zentimetern pro Jahr verursacht. Für die Rissinstandsetzung und Malerarbeiten seien geschätzte Aufwendungen in Höhe von 20.000 €, für die gesamte Beseitigung der Schäden Kosten im Bereich von insgesamt 100.000 € zu erwarten. Den genannten Betrag für die Rissinstandsetzung und Malerarbeiten nebst Zinsen verlangt der Kläger als Vorschuss; ferner begehrt er die Feststellung der Verpflichtung der [X.] zur Erstattung aller weiteren versicherten Schäden sowie Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten.

4

In den Vorinstanzen ist die Klage erfolglos geblieben. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Entscheidungsgründe

5

Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

6

I. Nach dessen Auffassung fehlt es auf der Grundlage des Sachvortrags des [X.] an einem die Leistungspflicht der Beklagten auslösenden Erdrutsch. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer werde unter einem "Erdrutsch" im Sinne der Versicherungsbedingungen sinnlich wahrnehmbare Vorgänge verstehen, nicht hingegen auch sich langsam über Jahre hinweg vollziehende Erdbewegungen. Über einen längeren Zeitraum schleichend vonstattengehende allmähliche und bis zur [X.] unbemerkt bleibende Erdbewegungen seien auch mit dem allgemeinen Wortsinn der für die Definition herangezogenen Begriffe des "Abgleitens" und "Abstürzens" nicht in Einklang zu bringen. Beide [X.]ormulierungen implizierten ein Bewegungsmoment und legten erkennbar nahe, dass es sich hierbei um Vorgänge handele, die sich mit einer gewissen sinnlich wahrnehmbaren Dynamik vollzögen. Die Geologie verwende für langfristig langsam verlaufende, sich nicht beschleunigende Bewegungen von Erdmassen ohne ausgeprägte Gleitflächen den Begriff des "[X.]". Hieraus ergebe sich, dass langsame, sinnlich nicht wahrnehmbare Erdbewegungen in [X.]orm des "[X.]" vom Begriff des "Erdrutsches" als einem anderen geologischen Vorgang nicht umfasst seien. Auch die weiteren versicherten Schäden wie Überschwemmungen, Rückstau, Erdfall, Schneedruck, Lawinen und Vulkanausbrüche seien deutlich wahrnehmbare Vorgänge, die sich als plötzlich auftretende Naturereignisse mit einer gewissen Dynamik vollzögen.

7

II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

8

Der Begriff "Erdrutsch" im Sinne der Bestimmung in [X.] der Klauseln zu den [X.] erfasst auch Schäden am Versicherungsobjekt, die durch allmähliche, nicht augenscheinliche naturbedingte Bewegungen von Gesteins- oder Erdmassen verursacht werden.

9

1. Allerdings ist in Rechtsprechung und Literatur streitig, ob in einer Elementarschadenversicherung bei einer Klauselfassung wie der vorliegenden die versicherte Gefahr "Erdrutsch" ein in einer solchen Geschwindigkeit ablaufendes Ereignis voraussetzt, dass die Bewegung des Erdreichs sinnlich wahrnehmbar ist (so [X.], Beschluss vom 24. April 2017 - 25 U 843/17, BeckRS 2017, 145362 Rn. 3 f.; LG Tübingen [X.], 351 Rn. 28; [X.]/[X.], 2. Aufl. 230. Elementarschadenversicherung Rn. 77a; [X.]., [X.], 434135; [X.]., [X.], 437881; [X.], [X.], 1292, 1297; vgl. auch zu einer abweichenden Klauselfassung von [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/Wandt, Sachversicherung 4. Aufl. § 8 Rn. 120; zur Erdsenkung siehe OLG Nürnberg r+s 2007, 329), oder auch dann vorliegt, wenn sich [X.] über einen länger andauernden Zeitraum unmerklich verlagern, mithin das Leistungsversprechen des Versicherers auch allmählich eintretende Schäden umfasst ([X.], 67 [juris Rn. 12]; Armbrüster in [X.]/[X.], [X.]. § 4 VGB 2016 - Wert 1914 [X.] Rn. 14; HK-VVG/[X.] 4. Aufl. [X.] ([X.]) Rn. 14; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]. § 4 Rn. 127; von [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/Wandt, Sachversicherung 4. Aufl. § 8 Rn. 119; [X.], [X.] 7/2015 [X.]. 4; vgl. auch [X.] in [X.], 5. Aufl. § 9 Rn. 378; zu Erdsenkung bzw. Erdfall siehe LG Detmold [X.], 274 Rn. 23).

2. Die letztgenannte Auffassung trifft zu. Das ergibt die Auslegung der Klausel, deren Anwendung - an[X.] als das Berufungsgericht meint - nicht auf plötzliche und sinnlich wahrnehmbare Vorgänge beschränkt ist.

a) Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die [X.] eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom [X.] auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (Senatsurteil vom 26. Januar 2022 - [X.], [X.], 312 Rn. 10; st. Rspr.).

b) Bei der Beurteilung der [X.]rage, ob es sich um ein in der Elementarschadenversicherung versichertes Ereignis handelt, wenn sich [X.] über einen längeren Zeitraum verlagern und hierdurch Schäden in [X.]orm von Rissbildungen am versicherten Gebäude verursacht werden, wird der durchschnittliche Versicherungsnehmer zunächst vom Wortlaut der Bedingungen ausgehen, wobei für ihn der Sprachgebrauch des täglichen Lebens und nicht etwa eine Terminologie, wie sie in bestimmten [X.]achkreisen üblich ist, maßgebend ist (Senatsurteil vom 29. März 2017 - [X.], [X.], 252 Rn. 13 m.w.N.). [X.] ist deshalb die Anknüpfung des Berufungsgerichts an die in der Geologie gebräuchliche Unterscheidung langfristig und langsam verlaufender Bewegungen von Erdmassen ohne ausgeprägte Gleitflächen von solchen, die eine Bewegung von Gleitflächen voraussetzen, und die fachliche Klassifizierung dieser Vorgänge als "[X.]" und "Erdrutsch", die im Wortlaut der Bedingungen keinen Nie[X.]chlag findet. Insoweit legt das Berufungsgericht seiner Beurteilung - worauf die Revision zu Recht hinweist - einen Prüfungsmaßstab zugrunde, der von der ständigen Rechtsprechung des Senats abweicht.

Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird vielmehr die in [X.] der Klauseln zu den [X.] enthaltene Definition des Begriffs "Erdrutsch" zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nehmen und erkennen, dass der versicherte Tatbestand mit einem naturbedingten Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen zwei unterschiedliche Vorgänge einschließt, denen zwar in der Variante des "Abstürzens" ein plötzliches Ereignis immanent ist, das aber in der Alternative des "Abgleitens", welches nach allgemeinem Sprachgebrauch einen Haftungs- oder Haltverlust und eine unbeabsichtigte Bewegung seitwärts und nach unten umschreibt (vgl. [X.], [X.] [X.] 3. Aufl. Band 1 Stichwort abgleiten), gerade nicht gefordert wird.

Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird der Klausel mangels entsprechender Klarstellung auch nicht entnehmen, dass sinnlich nicht wahrnehmbare Erdbewegungen über einen längeren Zeitraum nicht unter den versicherten Tatbestand fallen. Hierbei muss angesichts der eigenständigen Definition des Begriffs "Erdrutsch" in den Versicherungsbedingungen nicht entschieden werden, ob der Begriff des "Rutschens" nach allgemeinem Sprachgebrauch einen sensorisch erfassbaren Vorgang beschreibt und sich für den Versicherungsnehmer unmerklich über einen längeren Zeitraum vollziehende Erdbewegungen geringen Ausmaßes ausschließt (entgegen [X.]/[X.], 2. Aufl. 230. Elementarschadenversicherung Rn. 77a; [X.]., [X.], 434135; [X.]., [X.], 437881; vgl. auch zu einer abweichenden Klauselfassung von [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/Wandt, Sachversicherung 4. Aufl. § 8 Rn. 120; [X.] in Wälder/[X.]/[X.], Sach- und Betriebsunterbrechungsversicherung, 2022, [X.] Rn. 48).

Soweit die Revisionserwiderung darauf verweist, der Versicherungsnehmer werde auch aus dem Umstand, dass die Klausel das Abgleiten (oder Abstürzen) "von Gesteins- oder Erdmassen" verlangt, das zusätzliche Erfordernis eines sinnlich wahrnehmbaren Vorgangs herleiten, gilt nichts Anderes. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird dies nicht als Hinweis darauf verstehen, dass die Massenbewegung eine Mindestgeschwindigkeit aufweisen muss, mithin [X.] vom Versicherungsschutz ausgenommen sind (vgl. von [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/Wandt, Sachversicherung 4. Aufl. § 8 Rn. 116, 119).

c) Strengere Anforderungen lassen sich für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer auch nicht aus dem für ihn erkennbaren Sinn und Zweck des [X.] ableiten. Der vom Berufungsgericht für seine abweichende Auffassung herangezogene Vergleich mit den Regelungen zu den übrigen in der Elementarschadenversicherung versicherten Ereignissen (Überschwemmung, Rückstau, Erdbeben, Erdfall, Schneedruck, Lawinen, Vulkanausbruch) muss den Versicherungsnehmer nicht zu der Erkenntnis verleiten, nur deutlich wahrnehmbare Vorgänge, die sich als plötzlich auftretende Naturereignisse mit einer gewissen Dynamik vollziehen, seien vom Versicherungsschutz umfasst. Eine Plötzlichkeit des Ereignisses wird auch für die übrigen Elementargefahren - mit Ausnahme des Vulkanausbruchs, der nach [X.] der Klauseln zu den [X.] eine plötzliche Druckentladung beim Aufreißen der Erdkruste voraussetzt - nach dem Wortlaut der Bedingungen gerade nicht gefordert (vgl. [X.], [X.], 1292; [X.], r+s 2020, 489, 490).

d) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung lässt sich schließlich hinsichtlich des Erfordernisses eines sinnlich wahrnehmbaren Vorganges weder aus der Rechtsprechung des [X.] zur Auslegung des Begriffs "Erdrutschung" in § 4 I Nr. 5 [X.] noch aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung zu § 4 Abs. 3 Buchst. c VGB 62 und inhaltsgleichen Klauseln in der Wohngebäudeversicherung etwas Gegenteiliges herleiten. Die von der Revisionserwiderung angeführten Entscheidungen des [X.] vom 19. November 1956 ([X.], [X.], 789 unter I; vgl. auch Senatsurteile vom 3. [X.]ebruar 1988 - [X.], [X.], 1259 [juris Rn. 6 ff.]; vom 8. April 1970 - [X.], [X.], 611 [juris Rn. 12 ff.]) und des [X.] vom 12. Juli 1983 ([X.] 1985, 286) betrafen jeweils - den Begriff des Erdrutsches ohnehin nicht näher beschreibende - Risikoausschlussklauseln, die nach ständiger Rechtsprechung des Senats eng und nicht weiter auszulegen sind, als es ihr Sinn unter Beachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise erfordert (vgl. nur Senatsurteil vom 20. Mai 2021 - [X.], [X.], 398 Rn. 21), während es hier um eine primäre Leistungsbeschreibung geht, deren Auslegung anderen Grundsätzen unterliegt.

III. [X.] ist nach allem an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, da es zur Entscheidung des Rechtsstreits noch weiterer [X.]eststellungen bedarf. Insoweit wird das Berufungsgericht mit sachverständiger Hilfe zu klären haben, ob die Behauptung des [X.] zur Ursache der Rissbildungen zutrifft.

Prof. Dr. Karczewski     

      

Dr. Brockmöller     

      

Dr. Götz

      

Rust     

      

[X.]     

      

Meta

IV ZR 62/22

09.11.2022

Bundesgerichtshof 4. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Bamberg, 27. Januar 2022, Az: 1 U 127/21

§ 1 VVG, §§ 1ff VVG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 09.11.2022, Az. IV ZR 62/22 (REWIS RS 2022, 7046)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7046 MDR 2023, 40-41 REWIS RS 2022, 7046 NJW 2023, 366 REWIS RS 2022, 7046

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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