Bundesfinanzhof, Beschluss vom 11.03.2015, Az. V B 83/14

5. Senat | REWIS RS 2015, 14251

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Gegenstand

Zur schuldhaften Beweisvereitelung


Leitsatz

1. NV: Eine schuldhafte Beweisvereitelung liegt vor, wenn ein Prozessbeteiligter einen Gegenstand vernichtet oder vernichten lässt, obwohl für ihn erkennbar ist, dass jenem eine Beweisfunktion zukommen kann, oder er dem Prozessgegner auf sonstige Weise die Beweisführung schuldhaft unmöglich macht.

2. NV: Eine solche schuldhafte Beweisvereitelung kann zu Beweiserleichterungen bis hin zur Umkehr der Beweislast führen.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 2. Juni 2014  6 K 1308/13 (Kg) aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) erhielt Kindergeld für ihre Tochter [X.] Mit Bescheid vom 23. April 2013 hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (die Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung auf. Ob die Klägerin hiergegen mit Schreiben vom 3. Mai 2013 Einspruch eingelegt hat, ist streitig. Dokumentiert ist in der von der Familienkasse vorgelegten Aktenkopie nur der Eingang eines auf den 6. Juni 2013 datierten Schreibens der Klägerin am 11. Juni 2013.

2

Das Finanzgericht ([X.]) forderte die Kindergeldkasse am 16. September 2013 zur Vorlage der Akten auf. Die Familienkasse hat daraufhin die in Papierform geführten Akten gescannt und diese "E-Akte" dem [X.] zugeleitet. Das [X.] hat der Familienkasse am 17. November 2013 mitgeteilt, es stehe nicht fest, dass das übermittelte Material eine Überzeugung zugunsten der Familienkasse ermögliche. Gleichwohl hat die Familienkasse die [X.] vernichtet. Die "E-Akte" wies diverse Mängel auf und bildete nur einen Teil des Verfahrens ab.

3

Mit der Klagebegründung vom 17. Oktober 2013 bot die Klägerin Beweis für den rechtzeitig eingelegten Einspruch u.a. durch "Schreiben der Klägerin vom 03.05.2013 (Anlage K 1)" an.

4

Das [X.] wies die Klage ab, weil die Klägerin die fristgerechte Einlegung des Einspruchs nicht bewiesen habe. Aufgrund der Mängel des Verwaltungsverfahrens und der Vernichtung der [X.]n sei zwar eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerin in Betracht zu ziehen. Diese greife im Ergebnis aber nicht durch, weil die Klägerin das Schreiben vom 3. Mai 2013 nicht vorgelegt und die angekündigte eidesstattliche Versicherung nicht abgegeben habe.

Entscheidungsgründe

5

II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O).

6

Der von der Klägerin ordnungsgemäß (§ 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O) geltend gemachte Verfahrensmangel liegt vor. Das [X.] hat das Recht der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 [X.]O) verletzt, indem es versäumt hat, die Klägerin darauf hinzuweisen, dass das von ihr als "[X.]" bezeichnete Schriftstück nicht zur [X.]-Akte gelangt ist. Auf diesem Fehler kann das [X.]-Urteil beruhen.

7

1. Nach § 96 Abs. 2 [X.]O, der im finanzgerichtlichen Verfahren der Verwirklichung des verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör dient, darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Aus dieser Vorschrift folgt u.a. das Verbot von Überraschungsentscheidungen. Danach darf ein bisher nicht erörterter Gesichtspunkt, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der ein gewissenhafter und kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen, nicht zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden (Urteil des [X.] --BFH-- vom 21. August 2007 VII R 37/04, [X.], 254, unter II.; [X.] vom 22. Juli 2014 XI B 103/13, [X.]NV 2014, 1761, unter [X.] und b; vom 1. Februar 2012 VI B 71/11, [X.]NV 2012, 767, unter Gründe 2.d).

8

2. Eine derartige Überraschungsentscheidung liegt hier vor, weil das [X.] sein Urteil u.a. darauf gestützt hat, dass die Klägerin das streitige Schreiben vom 3. Mai 2013 dem [X.] nicht vorgelegt habe. Die Klägerin hat mit der Klagebegründung vom 17. Oktober 2013 Beweis angeboten durch Vorlage des Schreibens vom 3. Mai 2013 und mit dem Hinweis "Anlage [X.]" zum Ausdruck gebracht, dass diese Anlage dem Schriftsatz beigefügt sei. Für das [X.] war erkennbar, dass die Klägerin von der --unzutreffenden-- Annahme ausging, dass das Schreiben dem [X.] damit vorliege. Unter diesen Umständen durfte das [X.] sein Urteil nicht (auch) auf die Nichtvorlage des Schreibens vom 3. Mai 2013 stützen, ohne die Klägerin zuvor darüber in Kenntnis zu setzen, dass das Schreiben tatsächlich nicht vorlag.

9

3. Auf diesem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des [X.] beruhen.

a) Das [X.] hat sein Urteil darauf gestützt, dass der Einspruch verfristet war. Die Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung ([X.]) ist nur gewahrt, wenn der Einspruch der Behörde (§ 357 Abs. 2 [X.]) rechtzeitig zugegangen ist. Dafür trägt der Einspruchsführer die Feststellungslast (vgl. [X.] vom 24. Juli 2008 VII B 41/08, juris, unter [X.]; vom 21. September 2007 IX B 79/07, [X.]NV 2008, 22).

b) Die Klägerin hat den Beweis des rechtzeitigen Zugangs des Schreibens vom 3. Mai 2013 zwar nicht geführt. Das [X.] ist aber zutreffend davon ausgegangen, dass eine schuldhafte Beweisvereitelung, die anzunehmen ist, wenn ein Prozessbeteiligter einen Gegenstand vernichtet oder vernichten lässt, obwohl für ihn erkennbar ist, dass jenem eine Beweisfunktion zukommen kann, oder er dem Gegner auf sonstige Weise die Beweisführung schuldhaft unmöglich macht, zu Beweiserleichterungen bis hin zur Umkehr der Beweislast führen kann (BFH-Urteil vom 3. März 2004 [X.], [X.]NV 2004, 1237, unter [X.]; [X.] vom 7. April 2003 V B 28/02, [X.]NV 2003, 1195, unter II.2.; vgl. auch Urteile des [X.] vom 24. Januar 2012 II ZR 119/10, Der Betrieb 2012, 794, unter [X.]; vom 12. März 2007 II ZR 315/05, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2007, 3130, unter [X.] bb; vom 1. Februar 1994 VI ZR 65/93, NJW 1994, 1594, 1595; vom 15. November 1984 IX ZR 157/83, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1985, 312, 314, unter [X.]). Nach den Feststellungen des [X.] hatte die Familienkasse die Nachvollziehbarkeit des genauen Ablaufs des Verwaltungsverfahrens anhand des [X.] schuldhaft vereitelt. Das [X.] hat deshalb zwar eine Umkehr der Beweislast in Betracht gezogen, im Ergebnis aber deshalb nicht angenommen, weil die Klägerin das Schreiben vom 3. Mai 2013 nicht vorgelegt und die angekündigte eidesstattliche Versicherung nicht abgegeben habe. Die Entscheidung des [X.] wäre deshalb möglicherweise anders ausgefallen, wenn die Klägerin Kenntnis davon erhalten hätte, dass das Schreiben vom 3. Mai 2013 dem [X.] tatsächlich nicht vorlag und es dem [X.] noch rechtzeitig vorgelegt hätte.

4. [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

V B 83/14

11.03.2015

Bundesfinanzhof 5. Senat

Beschluss

vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 2. Juni 2014, Az: 6 K 1308/13 (Kg), Urteil

§ 96 Abs 2 FGO, § 116 Abs 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 355 Abs 1 AO, § 357 Abs 2 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 11.03.2015, Az. V B 83/14 (REWIS RS 2015, 14251)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 14251

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