Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 11.07.2013, Az. V ZB 144/12

V. Zivilsenat | REWIS RS 2013, 4213

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V [X.]

vom

11. Juli 2013
in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
Richtlinie 2008/115/[X.] Art. 16 Abs. 1; [X.] § 62a Abs. 1 Satz 1 und 2
Dem Gerichtshof der [X.] wird gemäß
Art.
267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist es mit Art.
16 Abs.
1 der Richtlinie 2008/115/[X.] des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.
Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ([X.]. 2008 Nr.
L
348/98) vereinbar, einen [X.] gemeinsam mit [X.] unterzubringen, wenn er in diese gemeinsame Unterbringung einwilligt?

[X.], Beschluss vom 11. Juli 2013 -
V [X.] -
LG [X.]

[X.]

-
2
-
Der V. Zivilsenat des [X.] hat am
11. Juli
2013
durch die Vorsitzende
Richterin
Dr. Stresemann
und
die Richter Dr.
Lemke,
Prof.
Dr.
Schmidt-Räntsch, Dr.
Czub und Dr.
Kazele
beschlossen:

I.
Das Verfahren
wird ausgesetzt.
II.
Dem Gerichtshof der [X.] wird
gemäß Art.
267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung
vorgelegt:

Ist es mit
Art.
16 Abs.
1 der Richtlinie 2008/115/[X.]
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.
Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfah-ren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ([X.]. 2008 Nr.
L
348/98) vereinbar, einen
[X.] gemeinsam mit Strafgefangenen unterzubringen, wenn er in diese gemeinsame Unterbringung einwilligt?

Gründe:
I.
Die Betroffene, eine [X.] Staatsangehörige, reiste ohne Aus-weisdokumente und Aufenthaltstitel in die Bundesrepublik
Deutschland ein. Gegen sie wurde am 29.
März 2012 Haft zur Sicherung
der Abschiebung bis zum 28.
Juni 2012
angeordnet. In der Abschiebungshaft war sie in einer [X.]
-
3
-
vollzugsanstalt gemeinsam mit Strafgefangenen untergebracht. Hierzu hatte sie am 30.
März 2012 eine schriftliche Einwilligungserklärung unterzeichnet; sie wünschte den Kontakt mit
Landsleuten, die sich in Strafhaft befanden.
Die beteiligte
Behörde beabsichtigte, die Abschiebung am 10.
Juli 2012 durchzuführen
und beantragte, die Abschiebungshaft bis zum Ablauf des 10.
Juli 2012 zu verlängern. Dem hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 25.
Juni 2012 entsprochen. Die hiergegen
gerichtete Beschwerde der [X.] hat das Beschwerdegericht mit Beschluss vom 5.
Juli 2012 zurückgewie-sen. Nachdem die Betroffene am 10.
Juli 2012 nach [X.] abgeschoben worden ist, will sie mit der Rechtsbeschwerde die Feststellung erreichen, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts
und des [X.] betreffend die Verlän-gerung der Haft
sie in ihren Rechten verletzt haben.
II.
Nach Auffassung des [X.] (Vorinstanz) ist
die Verlänge-rung
der
Sicherungshaft
über drei Monate hinaus
gerechtfertigt
gewesen, weil die Verzögerung bei der Abschiebung von der Betroffenen zu vertreten gewe-sen sei. Soweit die Betroffene entgegen §
62a Abs.
1 Satz
2
[X.] nicht getrennt von
Strafgefangenen untergebracht gewesen
sei, sei das rechtmäßig gewesen; denn
sie habe in die gemeinsame Unterbringung eingewilligt.
III.
Die Rechtsbeschwerde ist nach
§
70 Abs.
3 Satz
1 Nr.
3, Satz
2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig
(§ 71 FamFG).
Sie ist nicht dadurch [X.] geworden, dass sich die Hauptsache mit dem Ende der Haft erledigt hat. Angesichts des Eingriffs in ein besonders bedeutsames Grundrecht bleiben Rechtsmittel gegen eine Freiheitsentziehung
auch nach deren Ende zulässig, 2
3
4
-
4
-
weil der Betroffene entsprechend
§
62
Abs.
1,
Abs.
2 Nr.
1 FamFG ein schutz-würdiges Interesse an der nachträglichen Feststellung hat, dass die freiheits-entziehende Maßnahme rechtswidrig war (Senat, Beschluss vom 25.
Februar 2010 -
V
ZB
172/09, NVwZ
2010, 726, 727). §
62 des [X.] Gesetzes
über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), der das Beschwerdeverfahren betrifft, aber auch auf das Rechtsbeschwerdeverfahren Anwendung findet,
lautet auszugsweise:

§ [X.] der Beschwerde nach Erledigung der Hauptsache
(1)
Hat sich die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache erledigt, spricht das Beschwerdegericht auf Antrag aus, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn der Beschwerdeführer ein berechtigtes Inte-resse an der Feststellung hat.
(2)
Ein berechtigtes Interesse liegt in der Regel vor, wenn
1.
schwerwiegende Grundrechtseingriffe vorliegen

IV.
Der Erfolg der Rechtsbeschwerde
hängt von der Auslegung
von Art.
16 Abs.
1 der Richtlinie 2008/115/[X.]
ab.
Vor einer
Entscheidung über die Rechts-beschwerde ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß
Art.
267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] zu der im Tenor dieses
Beschlusses gestellten Frage einzuholen
(vgl. [X.], FamFG, 17. Aufl., § 21 Rn. 60 ff.).
5
-
5
-
V.
Die Entscheidung des [X.] wäre rechtlich nicht zu bean-standen, wenn die Unterbringung der Betroffenen in einer Justizvollzugsanstalt zusammen mit Strafgefangenen von der Einwilligung gedeckt gewesen wäre.
1. Die gemeinsame Unterbringung mit Strafgefangenen stand in
Wider-spruch zu dem
Trennungsgebot des Art.
16 Abs.
1 der Richtlinie 2008/115/[X.] und zu dem
zur Umsetzung der Richtlinie ergangenen nationalen Recht (§ 62a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 [X.]). Die Vorschrift des §
62a des [X.] Aufenthaltsgesetzes, die der Umsetzung der Richtlinie dient, bestimmt in Ab-satz
1 Satz
1 und Satz 2:

iellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Land nicht vorhanden, kann sie in diesem Land in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die [X.] sind in diesem Fall getrennt von Strafgefange-

Die gemeinsame Unterbringung war deshalb nur dann rechtmäßig, wenn die
Einwilligung der Betroffenen
in die gemeinsame Unterbringung wirksam war.
Die Antwort auf diese Frage ergibt sich weder aus dem Wortlaut von Art.
16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/[X.] noch aus dem Wortlaut von § 62a
[X.]. Deshalb kommt es auf
die Auslegung von Art.
16 Abs.
1 der [X.] 2008/115/[X.]
an. Nur soweit die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Um-setzungsspielraum lässt, ist allein auf das nationale Recht abzustellen.
Dass Art.
16 der Richtlinie 2008/115/[X.] gegenüber den Mitgliedstaaten grundsätzlich unmittelbare Wirkungen entfaltet, sie also inhaltlich unbedingt und hinreichend genau zu einer Trennung von Abschiebungshaft und gewöhnlicher Haft ver-pflichtet, hat der Gerichtshof bereits festgestellt (Urteil vom 28.
April 2011 in der Rechtssache [X.]/11
PPU, El
Dridi, Slg.
2011, [X.] = InfAuslR
2011, 320, Rn.
47).
6
7
8
-
6
-
a)
Gegen die Zulässigkeit einer Einwilligung von [X.]en in die gemeinsame Unterbringung mit Strafgefangenen spricht, dass der Wort-laut von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/[X.]
keine Ausnahme von dem
Trennungsgebot vorsieht. Auch besteht die Gefahr einer Umgehung
des Tren-nungsgebots, etwa wenn die beteiligten
Behörden
die Betroffenen regelmäßig vorformulierte Einwilligungserklärungen unterschreiben lassen
oder sie zu einer Einwilligung drängen.
b) Der vorlegende Senat neigt demgegenüber zu der Auffassung, dass der Betroffene wirksam auf das Trennungsgebot
verzichten kann. Dabei kommt es auf die Streitfrage, ob und inwieweit die Menschenwürde disponibel ist (vgl. dazu [X.], NJW
2001, 2343, 2344; OLG
Karlsruhe, NJW-RR
2005, 1267, 1268), nicht an.
Denn der Kerngehalt der Menschenwürde ist hier nicht betrof-fen;
es geht lediglich um eine angemessene Abgrenzung der Vollziehung der Abschiebungshaft von dem
Strafvollzug. Dieser ist
nicht als solcher menschen-unwürdig. Entscheidend ist vielmehr, dass das Trennungsgebot ausschließlich eine Besserstellung zugunsten des Betroffenen bezweckt. Auf diese sollte er verzichten können, wenn er -
nach Belehrung über einen Anspruch auf getrenn-te Unterbringung
-
eine gemeinsame Unterbringung mit Strafgefangenen
wünscht bzw. ausdrücklich darin einwilligt, etwa -
wie hier -
wegen der [X.] zu Landsleuten
oder Gleichaltrigen.
c) Eine ähnliche Konstellation findet sich im [X.] Recht bei der Si-cherungsverwahrung, für die ebenfalls eine von dem
Strafvollzug getrennte Un-terbringung der Sicherungsverwahrten vorgeschrieben ist (§
140 Abs.
1 StVollzG).
Dort kann dem Betroffenen, wenn er eine Zusammenlegung
mit Strafgefangenen
wünscht, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts (Beschluss vom 12.
Juli 2012 -
2
BvR
1278/10, NStZ-RR
2013, 26, 27) sogar ein Anspruch darauf zustehen.
9
10
11
-
7
-
d) Ob Art.
16 Abs.
1 der Richtlinie 2008/115/[X.] einen Verzicht auf die getrennte Unterbringung von [X.]en und Strafgefangenen zu-lässt,
steht wegen
des Fehlens einer
ausdrücklichen Regelung nicht zweifelsfrei fest und bedarf somit
einer
Klärung durch den Gerichtshof.
VI.
Die Vorlagefrage ist
entscheidungserheblich.
1. Wenn der Verzicht auf eine getrennte
Unterbringung nach Art.
16 Abs.
1 der Richtlinie 2008/115/[X.] nicht wirksam möglich ist, ist die Rechtsbe-schwerde begründet.
Bei der Entscheidung über die Haftverlängerung hätten das Amtsgericht und das Beschwerdegericht die rechtswidrige Unterbringung der Betroffenen berücksichtigen müssen.
2. Anderenfalls ist die Rechtsbeschwerde unbegründet:
a) Nach den Feststellungen des [X.] hat die Betroffene eine gemeinsame Unterbringung mit Landsleuten in der Justizvollzugsanstalt ausdrücklich gewünscht und damit zum Ausdruck
gebracht, dass sie auf eine getrennte Unterbringung
von Strafgefangenen verzichtet.
Entgegen der von der Rechtsbeschwerde vertretenen Auffassung liegen damit ausreichende tatsäch-liche Feststellungen zu einer Einwilligung vor, die für das Rechtsbeschwerde-verfahren bindend sind. Dass diese Feststellungen verfahrensfehlerhaft [X.] gekommen wären, zeigt die Rechtsbeschwerde nicht auf.
b)
Die Beschwerdeentscheidung hat die Betroffene auch nicht deshalb in ihren Rechten verletzt, weil das Beschwerdegericht von einer erneuten persön-lichen Anhörung zur Frage der Entziehungsabsicht

62 Abs.
3 Satz
3
[X.])
abgesehen hat. Das war hier ausnahmsweise zulässig, weil das Be-12
13
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16
17
-
8
-
schwerdegericht zutreffend davon ausgegangen ist, dass von einer erneuten persönlichen Anhörung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten waren (§
68 Abs.
3 Satz
2 FamFG).
aa) Einer erneuten persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren [X.] es insbesondere dann, wenn sich aus dem Beschwerdevorbingen neue Anhaltspunkte ergeben, zu denen der Betroffene bislang nicht angehört werden konnte, oder es sonst unmittelbar auf die Glaubwürdigkeit des Betroffenen an-kommt (Senat, Beschlüsse vom 4.
März 2010 -
V
ZB
184/09, FGPrax
2010, 152 Rn.
7;
vom 8.
April 2010 -
V
ZB
51/10, juris Rn.
19; vom 16.
September 2010
-
V
ZB
120/10, FGPrax
2010, 290 Rn.
9). Das war hier nicht der Fall.
bb) Nach §
62 Abs.
3
Satz
3 [X.] kann ausnahmsweise von der Haftanordnung abgesehen werden, wenn der Betroffene glaubhaft macht, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will. Zwar lässt sich der fehlende Ent-ziehungswille
grundsätzlich nur aufgrund einer persönlichen Anhörung feststel-len
(Senat aaO). Eine solche Fallgestaltung lag hier jedoch nicht vor.
Entgegen der Darstellung in der Rechtsbeschwerdebegründung
hat die Betroffene weder in dem
amtsgerichtlichen Verfahren noch in dem
Beschwerdeverfahren geltend gemacht, dass sie sich der Abschiebung nicht entziehen wolle. Vielmehr haben
sich ihre Stellungnahmen darauf
beschränkt, dass sie -
ohne
neue Gesichts-punkte aufzuzeigen
-
lediglich in
Zweifel gezogen hat, ob ihr
bisheriges Verhal-ten
geeignet gewesen sei, zwingend auf einen Entziehungswillen zu schließen. Diesen Schluss
konnte das Beschwerdegericht aus den objektiven Umständen

18
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-
9
-
ziehen, ohne dass es dafür auf die Glaubwürdigkeit der Betroffenen und damit
auf
deren persönliche Anhörung ankam.
Stresemann
Lemke
Schmidt-Räntsch

Czub
Kazele
Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 25.06.2012 -
58 [X.] 22/12 -

LG [X.], Entscheidung vom 05.07.2012 -
18 T 4996/12 -

Meta

V ZB 144/12

11.07.2013

Bundesgerichtshof V. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 11.07.2013, Az. V ZB 144/12 (REWIS RS 2013, 4213)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 4213

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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V ZB 144/12

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