Bundesgerichtshof, Urteil vom 17.05.2018, Az. 3 StR 508/17

3. Strafsenat | REWIS RS 2018, 8998

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland: Behandlung von Tatsachen zur Ausfüllung der Merkmale einer terroristischen Vereinigung als allgemein- und gerichtskundig


Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 10. Mai 2017 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtmittels zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland und wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf Verfahrensbeanstandungen und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision.

2

I. Der Revision des Angeklagten bleibt - weitgehend aus den in der Antragsschrift des [X.] aufgeführten Gründen - der Erfolg versagt.

3

Der näheren Erörterung bedarf nur die Verfahrensrüge, das [X.] habe seine Überzeugung von den Tatsachen, die die Bewertung des "[X.]" (im Folgenden: [X.]) als terroristischer Vereinigung tragen, nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft (§ 261 [X.]), sondern Kenntnisse aus nicht nachvollziehbar und pauschal benannten Entscheidungen und Gutachten, insbesondere aus einem in der Ermittlungsakte befindlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. S.     verwertet, die nicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden seien.

4

In dem angefochtenen Urteil hat das [X.] auf etwa 19 Seiten Feststellungen zu Historie, Entwicklung, Organisation, Zielen und Handlungen des [X.] getroffen. In der Beweiswürdigung hat es dazu lediglich ausgeführt, diese seien "sowohl aufgrund der Befassung des [X.]s - auch im Rahmen des [X.] von Entscheidungen mit anderen Oberlandesgerichten - mit vergleichbaren Sachverhalten gerichtsbekannt als auch inzwischen allgemeinbekannt".

5

1. Mit der Stoßrichtung, das [X.] habe ein in der Akte befindliches Gutachten des Sachverständigen Dr. S.     verwendet, ohne dieses in die Hauptverhandlung eingeführt zu haben, kann die Rüge keinen Erfolg haben: Ob das Tatgericht [X.], der nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war, tatsächlich verwendet hat, kann nur anhand der Urteilsgründe überprüft werden ([X.], [X.], 7. Aufl., § 261 Rn. 80 [X.]). Ausweislich dieser hat das [X.] aber die Feststellungen zum [X.] gerade nicht auf das Sachverständigengutachten gestützt.

6

2. Soweit die Rüge dahin zu verstehen sein sollte, das [X.] habe die als gerichts- bzw. [X.] behandelten Tatsachen nicht in die Hauptverhandlung eingeführt, erweist sie sich als unzulässig.

7

Allerdings muss das Tatgericht, wenn es seiner Überzeugungsbildung Tatsachen zugrunde legen will, zu denen es in der Hauptverhandlung keinen Beweis erhebt, weil es sie für offenkundig hält, in der Hauptverhandlung darauf hinweisen und erörtern, welche Tatsachen es aus welchem Grund als offenkundig zu behandeln gedenkt (vgl. [X.], Urteile vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, [X.]St 6, 292, 295 f.; vom 10. Januar 1963 - 3 StR 22/62, NJW 1963, 598, 599; vom 3. November 1994 - 1 [X.], [X.], 246, 247; Beschluss vom 27. Juli 2012 - 1 StR 68/12, [X.], 121; [X.] aaO; [X.]/[X.], [X.], 26. Aufl., § 261 Rn. 171; vgl. zu der Pflicht zur Erörterung in der Hauptverhandlung auch [X.]/[X.] aaO, § 244 Rn. 213 [X.]). Soll beanstandet werden, dass dies nicht oder nicht ordnungsgemäß geschehen sei, so erfordert § 344 Abs. 2 Satz 2 [X.] den vollständigen Vortrag der entsprechenden Verfahrensvorgänge (vgl. [X.], Beschluss vom 5. Juni 2013 - 1 [X.], juris; s. auch [X.], Urteil vom 23. Juni 1993 - 3 StR 89/93, [X.]St 39, 239, 240). Daran fehlt es hier. Den vom Vorsitzenden des Strafsenats des [X.]s erteilten Hinweis, dass und in welchem Umfang das Gericht Feststellungen zum [X.] als offenkundig behandeln will, trägt der Beschwerdeführer nicht vor. Der Umfang dessen, was das [X.] als offenkundig in der Hauptverhandlung erörtert hat, ergibt sich auch nicht aus den vom [X.] wegen zur Kenntnis zu nehmenden Urteilsgründen. Der [X.] kann deshalb nicht allein anhand des Revisionsvorbringens prüfen, ob die Rüge mit dieser Stoßrichtung Erfolg haben könnte, wenn die behaupteten Verfahrenstatsachen sich so zugetragen hätten; dies führt zur Unzulässigkeit einer insoweit eventuell erhobenen Verfahrensbeanstandung.

8

3. Etwas anderes könnte nur gelten und der Vortrag des Verfahrensgeschehens insoweit entbehrlich sein, wenn der Beschwerdeführer geltend machen würde, das [X.] habe den Rechtsbegriff der Offenkundigkeit verkannt (vgl. [X.], Urteile vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, [X.]St 6, 292, 296; vom 15. März 1994 - 1 [X.], [X.]St 40, 97, 99; [X.] aaO). Mit dieser Stoßrichtung ist die Verfahrensrüge indes nicht erhoben (vgl. zur Erforderlichkeit eines diesbezüglichen Vortrags auch [X.], Urteil vom 10. Januar 1963 - 3 StR 22/62, NJW 1963, 598). Denn dem [X.] kann nicht die Beanstandung entnommen werden, dass das [X.] die als offenkundig behandelten Tatsachen überhaupt als gerichts- bzw. [X.] angesehen hat; vielmehr rügt der Beschwerdeführer lediglich, der Strafsenat habe die behaupteten Kenntnisse tatsächlich nicht gehabt, sondern einem Sachverständigengutachten oder nicht hinlänglich bezeichneten Entscheidungen entnommen. Darin kann insbesondere nicht die ausreichend bestimmte Behauptung gesehen werden, das [X.] sei zu Unrecht von der Allgemeinkundigkeit der Feststellungen zum [X.] ausgegangen.

9

II. Der [X.] kann deshalb im Ergebnis offen lassen, ob das Vorgehen des [X.]s rechtlich zulässig war, Feststellungen als offenkundig zu behandeln, die die rechtliche Würdigung erlaubten, bei dem [X.] handele es sich um eine terroristische Vereinigung im Ausland im Sinne von § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Er sieht jedoch Anlass zu folgendem Bemerken:

1. a) Soweit das [X.] die Feststellungen zum [X.] als [X.] behandelt hat, könnte zunächst zweifelhaft sein, ob dies für die Tatsachen zur historischen Entwicklung, der Organisationsstruktur oder den Vorgehensweisen der Vereinigung in allen festgestellten Einzelheiten gilt:

Tatsachen sind allgemein bekannt, wenn es sich um Vorgänge handelt, von denen verständige Menschen regelmäßig Kenntnis haben oder über die sie sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten können ([X.], Urteile vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, [X.]St 6, 292, 293; vom 26. Februar 1980 - 4 StR 700/79, juris Rn. 7; Beschluss vom 29. Januar 1975 - [X.], [X.]St 26, 56, 59; [X.], Beschluss vom 3. November 1959 - 1 BvR 13/59, [X.]E 10, 177, 183; [X.]/[X.], [X.] im Strafprozess, 6. Aufl., Rn. 1056; [X.], [X.] der [X.], 10. Aufl., Rn. 19; [X.]/[X.] aaO, § 244 Rn. 204; MüKo[X.]/[X.]/[X.], § 244 Rn. 215; MüKo[X.]/[X.], § 261 Rn. 25; [X.] aaO, § 261 Rn. 11; [X.], Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, 1996, [X.]). Das Merkmal der Allgemeinkundigkeit setzt sich mithin aus zwei Elementen zusammen, demjenigen der allgemein vorhandenen Kenntnis bzw. der allgemein zugänglichen Erkenntnisquelle einerseits und der inhaltlichen Richtigkeit der in Betracht kommenden Tatsache andererseits (vgl. [X.] aaO, S. 14); dabei stellt der Umstand, dass die Kenntnis von der Tatsache von einer grundsätzlich unbeschränkten Allgemeinheit geteilt wird, zugleich ein gewichtiges Indiz für deren Richtigkeit dar (MüKo[X.]/[X.]/[X.] aaO; [X.] aaO, § 244 Rn. 134; [X.] aaO, Rn. 17; [X.] aaO, [X.]; [X.], Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, 1997, [X.]). Zu den genannten Vorgängen gehören neben Gegebenheiten der Außenwelt auch geschichtliche und politische Geschehnisse, sofern sie auf sicher feststellbaren Fakten beruhen, die sich aus allgemein zugänglichen Quellen, Nachschlagewerken, Büchern, [X.]ungen oder sonstigen Nachrichtenmitteln wie etwa auch Internetseiten ergeben ([X.]/[X.] aaO; [X.] aaO, § 244 Rn. 132). In diesen Fällen ist indes nicht selten [X.] der Tatsachen oder Ereignisse [X.], nicht aber die ihm zugrundeliegenden Einzelheiten der Geschehnisse (MüKo[X.]/[X.]/[X.], § 244 Rn. 219 [X.]).

b) Ungeklärt ist darüber hinaus die Frage, ob Tatsachen, die zur Ausfüllung des Tatbestandsmerkmals "terroristische Vereinigung" (§ 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB) notwendig sind, überhaupt als [X.] behandelt werden dürfen.

Im Schrifttum wird überwiegend die Auffassung vertreten, die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands bzw. die unmittelbar beweiserheblichen Tatsachen könnten grundsätzlich nicht als offenkundig und damit auch nicht als [X.] behandelt werden; nach dieser Ansicht können nur Indiz- oder Hilfstatsachen als [X.] gelten ([X.]/[X.] aaO, Rn. 1067 f.; [X.] aaO, Rn. 18; [X.]/[X.] aaO, § 244 Rn. 51; HK-[X.]-Julius, 5. Aufl., § 244 Rn. 29; [X.] aaO, [X.]0 ff.; differenzierend MüKo[X.]/[X.]/[X.], § 244 Rn. 221; vgl. auch [X.]/[X.] aaO, § 244 Rn. 210 [X.]. 1103).

Demgegenüber ist in der Rechtsprechung zwar mehrfach entschieden worden, dass jedenfalls unbeschränkt [X.]e Tatsachen auch zur Ausfüllung von Tatbestandsmerkmalen oder anderen unmittelbar für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch erheblichen Umständen herangezogen werden können, etwa ob der Explosionsdruck einer Gaspistole konstruktionsbedingt nach vorne austritt und damit der Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB erfüllt war (vgl. [X.], Beschluss vom 11. November 2014 - 3 [X.], juris Rn. 4 [X.]), zur Trommelkapazität eines Revolvers, aus der sich ergab, dass der Versuch fehlgeschlagen war und der Täter nicht mehr strafbefreiend zurücktreten konnte ([X.], Urteil vom 20. September 1989 - 2 StR 251/89, [X.]R StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, fehlgeschlagener 4), zur Frage des für den Tatbestand der Volksverhetzung erheblichen Massenmords an den [X.], vor allem in den Gaskammern von Konzentrationslagern während des [X.] ([X.], Urteil vom 15. März 1994 - 1 [X.], [X.]St 40, 97, 99) oder zu den für die Beurteilung, ob in dem Werturteil "Killertruppe" über die [X.] eine Beleidigung zu sehen ist, wesentlichen Umständen der [X.] "[X.]" in [X.] im Jahr 1977 ([X.], Urteil vom 5. Mai 1980 - 5 [X.], [X.], 868 f.).

Ob die letztgenannten Maßstäbe indes auch auf solche Tatsachen angewendet werden können, die zur Ausfüllung der komplexen Merkmale einer terroristischen Vereinigung herangezogen werden würden, ist fraglich und bislang höchstrichterlich nicht entschieden. Als nicht unproblematisch könnte sich insoweit insbesondere erweisen, dass bei zeitgeschichtlichen Vorgängen jüngerer [X.] regelmäßig besondere Anforderungen an die kritische Überprüfung ihrer Allgemeinkundigkeit und Richtigkeit zu stellen sind, ohne dass dadurch freilich ausgeschlossen ist, auch Tatsachen der jüngsten Geschichte für [X.] zu halten ([X.]/[X.] aaO, Rn. 1065 f. mit zahlreichen Beispielen und Nachweisen aus der Rechtsprechung).

2. Soweit das [X.] die Tatsachen auch als gerichtskundig behandelt hat, erweist sich dies als rechtlich zweifelhaft:

Durch die Annahme einer Tatsache als offenkundig darf der Grundsatz, dass der Inbegriff der Hauptverhandlung die Grundlage der Feststellungen zu bilden hat, in seinem wesentlichen Inhalt nicht angetastet werden; an seine Stelle darf kein mit den Vorschriften der [X.] unvereinbares schriftliches Verfahren treten ([X.], Urteile vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, [X.]St 6, 292, 294 f.; vom 9. Dezember 1999 - 5 [X.], [X.]St 45, 354, 358). Grenzen ergeben sich insoweit vor allem aus der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 [X.] ([X.], Urteil vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, [X.]St 6, 292, 294 f.; Beschluss vom 29. Januar 1975 - [X.], [X.]St 26, 56, 61; MüKo[X.]/[X.], § 261 Rn. 27; [X.] aaO, [X.] ff.). Gegen die Behandlung der Tatsachen, die die Merkmale einer terroristischen Vereinigung ausfüllen können, als gerichtskundig spricht über die genannten Bedenken gegen die Behandlung als [X.] hinaus, dass allein gerichtskundigen Tatsachen die für die Bestimmung des Wahrheitsgehalts bedeutsame Indizwirkung der von einer unbestimmten Vielzahl von Menschen geteilten Allgemeinkundigkeit fehlt; dies legt bei der Behandlung einer unmittelbar beweiserheblichen Tatsache unter Verzicht auf eine förmliche Beweiserhebung als gerichtskundig eine Verletzung der Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 [X.] nahe (vgl. [X.] aaO, S. 148 f.; ablehnend zur Behandlung von Tatbestandsmerkmalen als gerichtskundig auch [X.]/[X.] aaO, § 244 Rn. 210; insgesamt kritisch zur Gleichbehandlung von [X.]en und nur gerichtskundigen Tatsachen MüKo[X.]/[X.]/[X.], § 244 Rn. 222 ff. [X.]).

[X.]   

        

Gericke   

        

   Spaniol

                          

Ri[X.] Hoch befindet sich im
Urlaub und ist daher gehindert
zu unterschreiben.

        
        

Berg   

        

[X.]

        

Meta

3 StR 508/17

17.05.2018

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend KG Berlin, 10. Mai 2017, Az: 2A 2/16

§ 244 Abs 2 StPO, § 261 StPO, § 129b StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 17.05.2018, Az. 3 StR 508/17 (REWIS RS 2018, 8998)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 8998

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

3 StR 508/17 (Bundesgerichtshof)


3 StR 160/22 (Bundesgerichtshof)

Verurteilung zweier irakischer Staatsangehöriger wegen in Mosul begangener Kriegsverbrechen; Fristsetzung zur Anbringung von Beweisanträgen; Ablehnung …


3 StR 230/16 (Bundesgerichtshof)

Strafverfahren: Revisionsgerichtliche Überprüfung der Wiederaufnahme der Klage aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel; Berücksichtigung eines Beweisverwertungsverbots; …


5 StR 188/21 (Bundesgerichtshof)

Strafverfahren: Konnexitätserfordernis beim Beweisantrag


6 StR 276/23 (Bundesgerichtshof)

Fristsetzung für Beweisanträge; Einziehung von Taterträgen


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.