Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.04.2012, Az. III R 85/09

3. Senat | REWIS RS 2012, 7100

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Gegenstand

(Erstattung oder Abzweigung von Kindergeld an einen Sozialleistungsträger, der von dem Kindergeldberechtigten nach § 94 Abs. 2 SGB XII einen Unterhaltsbeitrag fordert - Prüfung der Ermessensausübung bei behaupteter Unterhaltspflichtverletzung des Kindergeldberechtigten - Aufhebung der Vorentscheidung)


Leitsatz

1. Begehrt ein Sozialleistungsträger die Auszahlung von zugunsten des Berechtigten festgesetztem Kindergeld und legt er dabei die Anspruchsgrundlage für dieses Begehren nicht eindeutig oder unzutreffend dar, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG oder Erstattung nach § 74 Abs. 2 EStG begehrt wird .

2. Die nach § 102 FGO vorzunehmende gerichtliche Prüfung, ob die Familienkasse bei der Entscheidung über die Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat, erstreckt sich auch darauf, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck des § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG maßgeblich sind. Insoweit ist bei einer von dem Sozialleistungsträger behaupteten Unterhaltspflichtverletzung des Kindergeldberechtigten gegenüber seinem behinderten Kind u.a. erforderlich, dass für den konkreten Streitzeitraum die von dem Kindergeldberechtigten getätigten Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf des Kindes festgestellt und erforderlichenfalls geschätzt werden .

Tatbestand

1

I. Die im Dezember 1972 geborene [X.] ist die [X.]ochter des Beigeladenen, der kindergeldberechtigt ist. [X.] ist seit ihrer Kindheit schwerbehindert. Der Schwerbehindertenausweis weist den [X.]rad der Behinderung mit 100 sowie die [X.], [X.], [X.] und [X.] aus. [X.] ist auf Kosten des [X.] und Revisionsklägers (Kläger), des [X.], in einem Wohnheim und einer Werkstatt für behinderte Menschen untergebracht.

2

Der Kläger begehrte die Auszahlung von Kindergeld nach § 74 des Einkommensteuergesetzes (ESt[X.]) in [X.]öhe von monatlich 46 € ab Oktober 2005 wegen unterhaltsrechtlicher Leistungsunfähigkeit des Beigeladenen. Mit Bescheid vom 16. Februar 2006 lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) diesen Antrag ab. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 3. November 2006 als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass eine Abzweigung ausscheide, weil der kindergeldberechtigte Elternteil seine Unterhaltspflicht erfülle.

3

Die hiergegen gerichtete Klage wies das Finanzgericht (F[X.]) nach Beiladung des Vaters der [X.] als unbegründet ab. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen darauf, dass die Entscheidung der Familienkasse, das Kindergeld in voller [X.]öhe an den Beigeladenen auszuzahlen und keinen [X.]eilbetrag an den Kläger abzuzweigen, ermessensfehlerfrei zustande gekommen sei.

4

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

5

Der Kläger beantragt,

das Urteil des F[X.] aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, im Rahmen der Abzweigung an den Kläger Kindergeld in [X.]öhe des anteiligen Unterhaltsbeitrages in [X.]öhe von 46 € ab 1. Oktober 2005, 48,99 € ab 1. Januar 2009 und 54,96 € ab 1. Januar 2010 zu leisten.

6

Die Familienkasse beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

7

Der Beigeladene beantragt, entsprechend dem Urteil des F[X.] zu entscheiden.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Revision ist begründet. Sie führt nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zur Aufhebung der Vorentscheidung sowie zur Zurückverweisung der Sache an das [X.].

9

1. a) Das [X.] hat die Grundsätze über die Auslegung des Klagebegehrens nicht hinreichend beachtet. Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]O ist das Gericht an die Fassung des Klageantrags nicht gebunden, sondern hat im Wege der Auslegung den Willen der [X.] anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln (vgl. [X.]surteil vom 27. Januar 2011 [X.]/09, [X.], 991, m.w.N.). Dies ist auch noch in der Revisionsinstanz möglich und geboten. Das Wesen der Klage wird nicht durch den Wortlaut des Klageantrags bestimmt, sondern durch den begehrten richterlichen Ausspruch. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (vgl. Urteil des [X.] --[X.]-- vom 29. April 2009 [X.]/08, [X.], 1777, m.w.N.). Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der Rechtsschutz gewährenden Auslegung nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes Rechnung ([X.]surteil in [X.], 991, m.w.N.).

Für den Fall, dass ein Sozialleistungsträger das Begehren auf Auszahlung des zugunsten des Berechtigten festgesetzten Kindergelds erhebt, die Anspruchsgrundlage für dieses Begehren jedoch nicht eindeutig oder unzutreffend darlegt, hat der [X.] bereits entschieden, dass im Wege der Auslegung zu ermitteln ist, ob eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG oder eine Erstattung nach § 74 Abs. 2 EStG begehrt wird (vgl. Urteil vom 25. September 2008 [X.], [X.], 164). Zu berücksichtigen ist dabei in verfahrensrechtlicher Hinsicht, dass der Erstattungsanspruch ohne Durchführung eines Vorverfahrens im Wege der nicht fristgebundenen allgemeinen Leistungsklage geltend gemacht werden kann ([X.]surteil vom 26. Januar 2006 [X.], [X.], 1, [X.], 544, m.w.N.).

b) Im Streitfall hat der Kläger mit Schreiben vom 11. Oktober 2005 gegenüber der Familienkasse den Erstattungsanspruch nach § 104 des [X.] ([X.]) angezeigt und nach § 74 Abs. 2 EStG Erstattung verlangt. Im Bescheid vom 16. Februar 2006 hat die Familienkasse auch nur die Erstattung nach § 74 EStG [X.]. §§ 103, 104 [X.] abgelehnt. Zu beachten ist auch, dass der Erstattungsanspruch nach § 104 [X.] kraft Gesetzes entsteht und daher im Gegensatz zur Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG keine Ermessensentscheidung der Familienkasse erforderlich ist. Zudem hat der Kläger seinen Auszahlungsanspruch nicht auf den gesamten monatlichen Kindergeldbetrag gerichtet, sondern ihn auf den von dem Beigeladenen nach § 94 Abs. 2 des [X.] ([X.]II) geforderten Unterhaltsbeitrag in Höhe von zunächst 46 € pro Monat beschränkt. Liegt ein solcher von § 104 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 [X.] erfasster Fall der Geltendmachung eines Aufwendungsersatzanspruchs bzw. der Erhebung eines Kostenbeitrags vor, kommt hinzu, dass nach § 104 Abs. 1 Satz 4  2. Halbsatz [X.] --anders als bei dem Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 [X.]-- auch die Erfordernisse der Gleichartigkeit und Nachrangigkeit der von dem Sozialleistungsträger erbrachten Leistungen gegenüber dem Kindergeld nicht erfüllt sein müssen. Dies spricht unter Berücksichtigung der Interessenslage des [X.] dafür, den Antrag dahin auszulegen, dass das [X.] nicht nur auf den [X.] nach § 74 Abs. 1 EStG, sondern jedenfalls auch [X.] nicht sogar primär--  auf den Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG [X.]. § 104 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 [X.] oder gegebenenfalls auch [X.]. § 104 Abs. 1 Satz 1 [X.] gestützt wird. Entsprechend hat der Kläger in seinen Schreiben selbst teils von Abzweigung und teils von Erstattung gesprochen.

2. Voraussetzung für diesen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG [X.]. § 104 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 [X.] ist nur, dass der Kläger gegenüber dem Beigeladenen einen Kostenbeitrag festgesetzt hat (vgl. [X.]-Urteil vom 25. Mai 2004 [X.], [X.] 2005, 171, m.w.N.) und der Beigeladene diesen nicht oder nicht in vollem Umfang erbracht hat. Hierauf deuten die Schreiben des [X.] vom 11. Oktober 2005 ([X.]. 525 der Kindergeldakte) und 20. Januar 2006 ([X.]. 537 der Kindergeldakte) hin. Im Einzelnen ist dies aber von dem [X.] noch festzustellen.

Liegt ein solcher bestandskräftiger Bescheid vor, sehen im Übrigen bereits die einschlägigen Verwaltungsanweisungen eine Erstattungspflicht der Familienkasse in dem Umfang vor, in dem der Kostenbeitrag nicht geleistet wurde bzw. wird (vgl. [X.] 74.2.1 Abs. 3 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand 2011, BSt[X.] I 2009, 1033, BSt[X.] I 2011, 21, 716).

3. Alternativ käme auch ein Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 [X.] in Betracht. Hierbei wäre jedoch zu berücksichtigen, dass für den Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 [X.] die Gleichartigkeit der gewährten Sozialleistungen und die Nachrangigkeit der von dem Kläger gewährten Sozialleistungen gegenüber dem von der Familienkasse gewährten Kindergeld erforderlich sind. Insoweit wäre die genaue Zusammensetzung der für [X.] von dem Kläger gewährten Leistungen noch durch das [X.] festzustellen. Auf die insoweit ergangenen Entscheidungen des [X.] zur Sozialhilfe (vgl. Urteil vom 14. Mai 2002 [X.], [X.] 2002, 1156) und zur Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (vgl. Urteil vom 7. Dezember 2004 [X.], [X.] 2005, 862) wird verwiesen.

4. a) Schließlich käme auch ein [X.] nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG in Betracht. Insoweit ist das [X.] bei der Prüfung, ob die Familienkasse ihr Ermessen im Rahmen der durch die Einspruchsentscheidung vom 3. November 2006 erfolgten Ablehnung der Abzweigung ordnungsgemäß ausgeübt hat, von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen, als sie der [X.] in dem --nach der [X.]-Entscheidung [X.] Urteil vom 9. Februar 2009 III R 37/07 ([X.]E 224, 290, BSt[X.] II 2009, 928) zugrunde gelegt hat. In dieser Entscheidung hat der [X.] die aus dem [X.]surteil vom 23. Februar 2006 [X.]/04 ([X.], 481, BSt[X.] II 2008, 753) zu ziehenden Folgerungen nochmals erläutert. Danach hängt die Entscheidung über die Abzweigung davon ab, ob und in welcher Höhe den Eltern --den Grund- und den behinderungsbedingten Mehrbedarf betreffende-- Aufwendungen für das Kind entstanden sind. Dabei sind auch im Verhältnis zu den Kosten des [X.] geringe Aufwendungen für das Kind miteinzubeziehen. Zu berücksichtigen sind jedoch nur die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten Aufwendungen. Dagegen dürfen keine fiktiven Betreuungskosten berücksichtigt werden und es kann auch nicht grundsätzlich auf eine Bezifferung oder gegebenenfalls eine Schätzung des den Eltern entstandenen Aufwands verzichtet werden.

b) Im Streitfall hat das [X.] dagegen nur ausgeführt, die Entscheidung der Familienkasse sei nicht ermessensfehlerhaft, da der Beigeladene mitgeteilt habe, dass er [X.] praktisch zu 50 % der [X.] betreue, und dies durch [X.] glaubhaft gemacht habe. Insofern hätte das [X.] jedoch im Rahmen der nach § 102 Satz 1 [X.]O durchzuführenden Überprüfung feststellen müssen, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind (vgl. [X.]-Urteile vom 22. Februar 1972 VII R 80/69, [X.]E 105, 220, BSt[X.] II 1972, 544, und vom 22. Juni 1990 III R 150/85, [X.]E 161, 4, BSt[X.] II 1991, 864; [X.] in [X.]ipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 102 [X.]O Rz 5). Hierzu wäre erforderlich gewesen, dass für den konkreten Streitzeitraum die Anzahl der Fahrten des Beigeladenen und die Aufenthaltstage der [X.] bei dem Beigeladenen ermittelt worden wären und festgestellt bzw. erforderlichenfalls geschätzt worden wäre, welche Kosten dem Beigeladenen insoweit entstanden sind. Sofern der Beigeladene andere Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Grund- und/oder dem behinderungsbedingten Mehrbedarf der [X.] geltend macht, wäre ebenfalls festzustellen gewesen, ob und gegebenenfalls inwieweit der Beigeladene tatsächlich solche Kosten getragen hat.

Sofern der Kläger nicht bereits über den geltend gemachten Erstattungsanspruch sein Klageziel erreicht, hat das [X.] eine Prüfung der Sachverhaltsermittlung durch die Familienkasse im zweiten Rechtsgang nachzuholen.

5. Im Übrigen muss der [X.] nicht entscheiden, ob dem [X.] die von dem Kläger gerügten Verfahrensfehler unterlaufen sind. Führt die Revision --wie im [X.] aus materiellen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung, muss nicht mehr darüber entschieden werden, ob außerdem ein Verfahrensfehler vorliegt (vgl. [X.]-Urteil vom 21. Januar 2010 [X.]/08, [X.]E 228, 85, BSt[X.] II 2010, 700; Lange in [X.]/[X.]/[X.], § 118 [X.]O Rz 256).

Meta

III R 85/09

19.04.2012

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 2. Juni 2008, Az: 13 K 285/06, Urteil

§ 74 Abs 1 S 4 EStG 2002, § 74 Abs 2 EStG 2002, § 104 Abs 1 SGB 10, § 104 Abs 2 SGB 10, § 94 Abs 2 SGB 12, § 96 Abs 1 S 2 Halbs 2 FGO, § 102 S 1 FGO, § 118 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.04.2012, Az. III R 85/09 (REWIS RS 2012, 7100)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 7100

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6 K 174/20

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