Bundesfinanzhof, Beschluss vom 30.06.2021, Az. I B 43/20 (AdV)

1. Senat | REWIS RS 2021, 4468

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Gegenstand

Unterbrechung eines AdV-Verfahrens wegen Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Antragstellers


Leitsatz

NV: Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Antragstellers führt bei einem AdV-Verfahren grundsätzlich nicht zu einer Unterbrechung nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 240 Satz 1 ZPO. Etwas anderes gilt aber dann, wenn die durch die angefochtenen Bescheide festgesetzten Steuern schon vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig getilgt wurden und es somit um eine Aufhebung der Vollziehung mit der Folge entsprechender Erstattungsansprüche geht.

Tenor

Das Verfahren ist unterbrochen.

Der noch nicht bekannt gegebene Beschluss des Senats vom 27.01.2021 - [X.]/20 (AdV) wird aus Gründen der Rechtsklarheit aufgehoben.

Tatbestand

I.

1

Die [X.]eteiligten streiten darüber, ob die von der Insolvenzschuldnerin, einer GmbH, an ihren Gesellschafter-Geschäftsführer gezahlte Invalidenrente als verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) einkommens- und gewerbeertragserhöhend anzusetzen ist und --daran anschließend-- Kapitalertragsteuer anfällt.

2

Der Antragsgegner, [X.]eschwerdeführer und [X.] (das Finanzamt --[X.]--) berücksichtigte die Zahlungen als vGA und erließ am 27.09.2019 u.a. entsprechend geänderte [X.]escheide über Körperschaftsteuer für 2015 und über den [X.] für 2015. Darüber hinaus ergingen ein Nachforderungsbescheid über Kapitalertragsteuer für 2013 bis 2015 und am [X.] ein Nachforderungsbescheid über Kapitalertragsteuer für 2017. Den [X.] für 2017 setzte das [X.] mit [X.]escheid vom 17.10.2019 auf 0 € fest.

3

Die Insolvenzschuldnerin legte gegen diese [X.]escheide Einsprüche ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV) der angefochtenen [X.]escheide. Das [X.] lehnte den Antrag unter dem 05.11.2019 ab.

4

Mit [X.]eschluss vom 30.06.2020 - 1 V 1424/19 hat das Finanzgericht ([X.]) des [X.] den [X.] (§ 69 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--), soweit er auf den [X.] für 2017 bezogen war, als unzulässig zurückgewiesen. Hinsichtlich der übrigen [X.]escheide hat das [X.] AdV gewährt und die [X.]eschwerde zugelassen (§ 128 Abs. 3 Satz 1 [X.]O).

5

Das [X.] wendet sich mit seiner [X.]eschwerde zuletzt nur noch gegen den [X.]eschluss des [X.], soweit AdV gewährt worden ist, und beantragt (sinngemäß), den [X.]-[X.]eschluss insoweit aufzuheben und den [X.] abzulehnen. Soweit sich die [X.]eschwerde ursprünglich auch auf den [X.]escheid über den [X.] für 2017 bezog, hat sie das [X.] mit Schriftsatz vom 28.07.2020 zurückgenommen.

6

Die Insolvenzschuldnerin erhebt "[X.]" und beantragt (sinngemäß), sowohl die [X.]eschwerde des [X.] als unbegründet zurückzuweisen als auch die Vollziehung des [X.]escheids über den [X.] für 2017 aufzuheben.

7

Der Senat hat am 27.01.2021 über die [X.]eschwerden der [X.]eteiligten einen [X.]eschluss gefasst. [X.]evor dieser [X.]eschluss den internen Geschäftsbetrieb des Gerichts verlassen hat, zeigte Rechtsanwältin [X.] mit ihrem Schreiben vom 21.04.2021 an, dass das [X.] mit [X.]eschluss vom 30.03.2021 über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und sie als Insolvenzverwalterin bestellt habe. Dadurch sei das Verfahren unterbrochen. Da die [X.] vollständig getilgt worden seien und das [X.] den [X.]eschluss des [X.] über die Aufhebung der Vollziehung noch nicht umgesetzt habe, bestehe trotz Eröffnung des Insolvenzverfahrens weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis zur Durchführung des [X.]eschwerdeverfahrens. Das [X.] macht dagegen geltend, dass es nicht zu einer Unterbrechung des Verfahrens gekommen sei. Die Erstattung von bereits getilgten [X.]eträgen wirke sich nicht auf die zur Insolvenztabelle anzumeldenden Steuerforderungen aus.

Entscheidungsgründe

II.

8

Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin ist das Beschwerdeverfahren unterbrochen (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 240 Satz 1 der Zivilprozessordnung --ZPO--).

9

1. Grundsätzlich führt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bei einem AdV-Verfahren nicht zur Unterbrechung, da die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide während des Insolvenzverfahrens ohnehin unzulässig ist und somit das Rechtsschutzbedürfnis zur Durchführung eines [X.] fehlt (Bundesfinanzhof --[X.]--, Beschluss vom 31.01.2017 - V B 14/16, [X.], 611).

Etwas anderes gilt aber dann, wenn die durch die angefochtenen Bescheide festgesetzten Steuern --wie im Streitfall die streitige Körperschaft- und [X.] schon vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig getilgt wurden und es somit um eine Aufhebung der Vollziehung mit der Folge entsprechender Erstattungsansprüche geht. Unter diesen Voraussetzungen betrifft auch das AdV-Verfahren --wie von § 240 Satz 1 ZPO vorausgesetzt-- die Insolvenzmasse (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 240 Satz 1 ZPO). Denn ein Obsiegen der Insolvenzschuldnerin würde zu einer Erhöhung der Insolvenzmasse führen.

Ob dies auch auf die streitigen Gewerbesteuermessbeträge zutrifft, kann dahingestellt bleiben. Bei mehreren geltend gemachten Ansprüchen ist über die Unterbrechung des Rechtsstreits grundsätzlich einheitlich zu entscheiden (vgl. [X.], Beschluss vom 10.12.2014 - XII ZR 136/12, Neue Juristische [X.] Zivilrecht 2015, 433).

2. Die Unterbrechung steht nicht im Widerspruch zu den vom [X.] zitierten Entscheidungen des [X.] (Urteil vom 13.05.2009 - XI R 63/07, [X.]E 225, 278, [X.], 11; Beschluss vom 09.12.2020 - XI B 10/20, [X.]/NV 2021, 645).

Zum einen ging es dort nicht um die Unterbrechung eines gerichtlichen Verfahrens, sondern um eine analoge Anwendung des § 240 Satz 1 ZPO auf ein behördliches Festsetzungsverfahren. Zum anderen lag diesen Entscheidungen die Festsetzung eines Erstattungsanspruchs durch das Finanzamt zugrunde. Im Streitfall zielt das [X.] dagegen darauf ab, eine Erstattung bereits gezahlter Steuern zu verhindern.

3. Die Unterbrechung des Verfahrens endet, sobald es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder das Insolvenzverfahren beendet wird.

Soweit das [X.] geltend macht, die Umsetzung des angefochtenen [X.] führe zu einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache (vgl. allgemein Senatsbeschluss vom 17.12.2003 - I B 182/02, [X.]/NV 2004, 815), ist dies (erst) nach dem Ende der Verfahrensunterbrechung im Rahmen der Begründetheit der Anträge zu berücksichtigen.

4. Der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gefasste, aber den Beteiligten noch nicht bekannt gegebene Beschluss des Senats vom [X.] - I B 43/20 (AdV) ist aus Gründen der Rechtsklarheit aufzuheben.

Eine wirksame Bekanntgabe dieses Beschlusses ist nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr möglich (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 249 Abs. 2 ZPO; vgl. allgemein auch Senatsbeschluss vom 19.10.2010 - I B 18/10, [X.]/NV 2011, 282).

Eine entsprechende Anwendung des § 249 Abs. 3 ZPO kommt nicht in Betracht. Diese Vorschrift sieht zwar vor, dass eine nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung eintretende Unterbrechung nicht die Verkündung der aufgrund dieser Verhandlung zu erlassenden Entscheidung hindert, was teilweise auch auf Beschlüsse ohne mündliche Verhandlung ausgedehnt wird (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 21.11.2002 - VII B 58/02, [X.]/NV 2003, 485; vom 27.05.2015 - X B 72/14, [X.]/NV 2015, 1252). Dies scheidet aber jedenfalls dann aus, wenn die Beteiligten vor der Unterbrechung des Verfahrens nicht mit weiterem Sachvortrag ausgeschlossen waren. So liegt es im Streitfall, da es sich um eine Beschwerde gegen einen [X.] handelt. Neuer Sachvortrag hätte hier auch dann noch berücksichtigt werden müssen, wenn er nach der Beschlussfassung am [X.] erfolgt wäre; gegebenenfalls hätte neu beraten werden müssen (s. allgemein [X.]-Beschluss vom 20.11.2014 - V B 80/14, [X.]/NV 2015, 341; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 132 Rz 12; [X.] in Tipke/[X.], § 132 FGO Rz 17).

5. Der Beschluss ergeht gerichtsgebührenfrei.

Meta

I B 43/20 (AdV)

30.06.2021

Bundesfinanzhof 1. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht des Saarlandes, 30. Juni 2021, Az: 1 V 1424/19, Beschluss

§ 240 S 1 ZPO, § 249 Abs 2 ZPO, § 249 Abs 3 ZPO, § 155 S 1 FGO, § 69 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 30.06.2021, Az. I B 43/20 (AdV) (REWIS RS 2021, 4468)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4468

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XII ZR 136/12

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