Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.04.2023, Az. XII ZB 462/22

12. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 2627

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Gegenstand

Gerichtliche Feststellungen zur Verlängerung einer bestehenden Betreuung


Leitsatz

1. Die Erforderlichkeit einer Betreuung kann sich nicht allein aus der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben, seine Angelegenheiten selbst regeln zu können (Betreuungsbedürftigkeit). Nach § 1815 Abs. 1 Satz 3 BGB darf ein Aufgabenbereich nur angeordnet werden, wenn und soweit dessen rechtliche Wahrnehmung durch einen Betreuer erforderlich ist (Fortführung der Senatsbeschlüsse vom 30. Juni 2021 - XII ZB 73/21, FamRZ 2021, 1737 und vom 21. Oktober 2020 - XII ZB 153/20, FamRZ 2021, 385).

2. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen (Fortführung der Senatsbeschlüsse vom 30. Juni 2021 - XII ZB 73/21, FamRZ 2021, 1737 und vom 21. Oktober 2020 - XII ZB 153/20, FamRZ 2021, 385).

3. Eine Anordnung zur Entscheidung über die Postangelegenheiten des Betroffenen nach § 1815 Abs. 2 Nr. 6 BGB ist nur zulässig, soweit die Befugnis erforderlich ist, um dem Betreuer die Erfüllung einer ihm ansonsten übertragenen Betreuungsaufgabe in der gebotenen Weise zu ermöglichen. Zudem setzt eine solche Anordnung regelmäßig voraus, dass sie erforderlich ist, um eine erhebliche Gefährdung oder Beeinträchtigung von wesentlichen Rechtsgütern des Betroffenen zu beseitigen. Beides muss durch konkrete tatrichterliche Feststellungen belegt werden (Fortführung des Senatsbeschlusses vom 21. Oktober 2020 - XII ZB 153/20, FamRZ 2021, 385).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 12. Zivilkammer des [X.] vom 7. Oktober 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Eine Festsetzung des [X.] (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.

Gründe

I.

1

Die Betroffene wendet sich gegen die Verlängerung einer bestehenden Betreuung.

2

Die Betroffene leidet an einer [X.] Schizophrenie sowie an einem schizophrenen Residuum. Für sie ist seit vielen Jahren eine Betreuung eingerichtet, zuletzt mit dem Aufgabenkreis Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge mit Sozialhilfe- und Unterhaltsangelegenheiten, Vertretung bei Behörden und Ämtern, Gesundheitssorge, Regelung des Postverkehrs sowie Wohnungsangelegenheiten.

3

Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Betroffenen hat das Amtsgericht die Betreuung mit unverändertem Aufgabenkreis verlängert und als Zeitpunkt, bis zu dem über die Aufhebung oder Verlängerung der Betreuung zu entscheiden ist, den 19. Mai 2029 bestimmt. Das [X.] hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich diese mit der Rechtsbeschwerde.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.].

5

1. Das [X.] hat zur Begründung seiner Entscheidung Folgendes ausgeführt:

6

Die weitere Anordnung der Betreuung sei zu Recht erfolgt. Der Sachverständige habe in seinem Gutachten festgestellt, dass die Betroffene aufgrund ihrer Erkrankung unverändert nicht zur freien Willensbildung fähig sei. Daher sei eine Betreuung für die angeordneten Aufgabenbereiche erforderlich.

7

Den überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen, die durch den Bericht der Betreuungsbehörde und den Inhalt des Anhörungstermins gestützt würden, sei zu folgen. Die Betroffene könne aufgrund einer psychischen Krankheit ihre Angelegenheiten in den von dem angefochtenen Beschluss genannten Aufgabenbereichen nicht besorgen. Da ihr Denken, Handeln und Planen von dem psychotischen Erleben dominiert würden, bedürfe sie auch weiterhin einer rechtlichen Betreuung.

8

2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

9

a) Nach § 1815 Abs. 1 Satz 3 BGB darf ein Aufgabenbereich nur angeordnet werden, wenn und soweit dessen rechtliche Wahrnehmung durch einen Betreuer erforderlich ist. Mit dieser durch das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021 ([X.]) mit Wirkung zum 1. Januar 2023 eingeführten Vorschrift wurde der bislang in § 1896 Abs. 2 BGB enthaltene Grundsatz der Erforderlichkeit einer Betreuung ausdrücklich auch auf den Umfang der Betreuung erstreckt. Dadurch soll deutlich gemacht werden, dass neben der Prüfung der grundsätzlichen Erforderlichkeit einer Betreuerbestellung im Hinblick auf das Vorliegen einer Vorsorgevollmacht oder anderer Hilfen (vgl. § 1814 Abs. 3 BGB) auch für jeden einzelnen Aufgabenbereich eine Erforderlichkeitsprüfung durchzuführen ist (vgl. BT-Drucks. 19/24445 S. 234).

Dies entspricht der Rechtsprechung des Senats zu der bis zum 31. Dezember 2022 gültigen Vorschrift des § 1896 Abs. 2 BGB, wonach sich die Erforderlichkeit einer Betreuung nicht allein aus der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben kann, seine Angelegenheiten selbst regeln zu können (Betreuungsbedürftigkeit). Hinzutreten muss ein konkreter Bedarf für die Anordnung eines bestimmten Aufgabenbereichs (st. Rspr. zu § 1896 Abs. 2 BGB, vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 30. Juni 2021 - [X.]/21 - FamRZ 2021, 1737 Rn. 7 und vom 21. Oktober 2020 - [X.] 153/20 - FamRZ 2021, 385 Rn. 22 [X.]). Daher müssen Betreuungsbedürftigkeit und Betreuungsbedarf gegenständlich nicht deckungsgleich sein. Betreuungsmaßnahmen dürfen vielmehr nur in dem Umfang angeordnet werden, in dem Betreuungsbedarf besteht, auch wenn darüber hinaus Betreuungsbedürftigkeit gegeben sein mag (vgl. [X.]/[X.] [Stand: 1. Januar 2023] BGB § 1815 Rn. 3).

Dies gilt auch für die durch die Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts eingeführte Vorschrift des § 1815 Abs. 1 Satz 3 BGB. Notwendig ist stets die konkrete tatrichterliche Feststellung, für welche Aufgabenbereiche die Bestellung eines Betreuers - auch unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit - erforderlich ist, weil der Betroffene Unterstützungsbedarf beim rechtlichen Handeln hat ([X.]/[X.] Betreuungsrecht 7. Aufl. § 1815 BGB Rn. 13 [X.]) und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen (st. Rspr. zu § 1896 Abs. 2 BGB, vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 30. Juni 2021 - [X.]/21 - FamRZ 2021, 1737 Rn. 7 und vom 21. Oktober 2020 - [X.] 153/20 - FamRZ 2021, 385 Rn. 22 [X.]). [X.] ist allerdings nicht, dass schon im Zeitpunkt der Anordnung der Regelungsbedarf im Einzelnen in Form einer konkreten Angelegenheit fest umrissen sein muss. Die Beschreibung des Aufgabenbereichs ist nicht allein davon abhängig, was der Betreute eventuell nicht selbst regeln kann, sondern auch davon, was zukünftig absehbar regelungsbedürftig ist. Es genügt, dass ein Handlungsbedarf jederzeit auftreten kann (vgl. BT-Drucks. 19/24445 S. 234; vgl. auch Senatsbeschlüsse vom 30. Juni 2021 - [X.]/21 - FamRZ 2021, 1737 Rn. 7 und vom 21. Oktober 2020 - [X.] 153/20 - FamRZ 2021, 385 Rn. 22 [X.], jeweils zu § 1896 Abs. 2 BGB).

b) Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.

aa) Das [X.] hat die fortbestehende Erforderlichkeit der Betreuung nur aus seinen Erwägungen zur Betreuungsbedürftigkeit der Betroffenen hergeleitet. Ausreichende Feststellungen dazu, dass in der gegenwärtigen Lebenssituation der Betroffenen ein objektiver Bedarf für die Aufrechterhaltung einer Betreuung mit dem angeordneten umfassenden Aufgabenkreis besteht, hat es dagegen nicht getroffen. In dem eingeholten Sachverständigengutachten, auf das sich das [X.] in seiner Entscheidung bezieht, bejaht der Sachverständige zwar, dass die Betroffene in dem angeordneten Aufgabenkreis ihre Angelegenheiten nicht selbst besorgen kann. Ausweislich des weiteren Inhalts des Gutachtens schließt der Sachverständige dies jedoch nur aus der psychiatrischen Erkrankung der Betroffenen und damit aus deren Betreuungsbedürftigkeit. Inwieweit die Betroffene in ihrer derzeitigen konkreten Lebenssituation der Unterstützung eines rechtlichen Betreuers bedarf, ist in dem Gutachten hingegen nicht aufgezeigt.

bb) Die Rechtsbeschwerde rügt auch zu Recht, dass die bislang getroffenen Feststellungen insbesondere nicht die Anordnung einer Betreuung für private Postangelegenheiten tragen. Der Senat hat zu der bis zum 31. Dezember 2022 maßgeblichen Vorschrift des § 1896 Abs. 4 BGB entschieden, dass dem Betreuer die [X.] nur unter engen Voraussetzungen übertragen werden kann. Sie ist nur zulässig, soweit die Befugnis erforderlich ist, um dem Betreuer die Erfüllung einer ihm ansonsten übertragenen [X.] in der gebotenen Weise zu ermöglichen und um eine erhebliche Gefährdung oder Beeinträchtigung von wesentlichen Rechtsgütern des Betroffenen zu beseitigen. Aus bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen lässt sich die Erforderlichkeit einer Betreuung im Rahmen von § 1896 Abs. 4 BGB aF somit nicht herleiten (vgl. Senatsbeschluss vom 21. Oktober 2020 - [X.] 153/20 - FamRZ 2021, 385 Rn. 23 ff. [X.]). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist durch konkrete tatrichterliche Feststellungen zu belegen. Dies gilt auch bezüglich der privaten Post eines Betroffenen, sofern diese - wie hier - nicht von einer Betreuung in Postangelegenheiten ausgenommen wird (Senatsbeschluss vom 21. Oktober 2020 - [X.] 153/20 - FamRZ 2021, 385 Rn. 30 f.).

Durch das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021 ([X.]) hat sich an diesen Anforderungen nichts geändert, da die bislang in § 1896 Abs. 4 BGB enthaltene Regelung zur Übertragung der [X.] in § 1815 Abs. 2 Nr. 6 BGB übernommen worden ist (BT-Drucks. 19/24445 [X.]). Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung ebenfalls nicht gerecht.

3. Die Beschwerdeentscheidung ist daher aufzuheben und die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 5, Abs. 6 Satz 1 und 2 FamFG).

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

[X.]     

      

Günter     

      

Nedden-Boeger

      

Botur     

      

Pernice     

      

Meta

XII ZB 462/22

19.04.2023

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Duisburg, 7. Oktober 2022, Az: 12 T 107/22

§ 1815 Abs 1 S 3 BGB, § 1815 Abs 2 Nr 6 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.04.2023, Az. XII ZB 462/22 (REWIS RS 2023, 2627)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 2627


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. XII ZB 462/22

Bundesgerichtshof, XII ZB 462/22, 19.04.2023.


Az. 12 T 107/22

Landgericht Duisburg, 12 T 107/22, 07.10.2022.


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