Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 26.01.2022, Az. 7 AV 1/21

7. Senat | REWIS RS 2022, 1740

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Gegenstand

Bestimmung des zuständigen Gerichts


Tenor

Als zuständiges Gericht für die Entscheidung über die Klage wird das [X.] bestimmt.

Gründe

I

1

Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen mit Bescheid vom 24. März 2016 erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung für die Errichtung, den Betrieb und die Änderung einer Windkraftanlage an Land mit einer Gesamthöhe über 50 m. Die gegen den Bescheid erhobene Anfechtungsklage wies das Verwaltungsgericht als unzulässig ab. Auf die Berufung hat der [X.]hof das Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen. Mit Beschluss vom 18. Februar 2021 hat das Verwaltungsgericht seine Zuständigkeit unter Hinweis auf den mit Gesetz zur Beschleunigung von Investitionen vom 3. Dezember 2020 geänderten § 48 VwGO verneint und die Sache an den [X.]hof verwiesen. Die Beteiligten des Rechtsstreits haben den Beschluss nicht angegriffen. Mit Beschluss vom 20. April 2021 hat sich der [X.]hof für unzuständig erklärt und dem Verweisungsbeschluss des [X.] wegen eines Verstoßes gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters die Bindungswirkung abgesprochen. Zudem hat der [X.]hof zur Bestimmung der Zuständigkeit das [X.] angerufen.

2

Das [X.] hat den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.

II

3

Auf den Antrag, über den der beschließende Senat gemäß § 53 Abs. 3 Satz 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist als zuständiges Gericht das [X.] zu bestimmen.

4

1. Das [X.] ist gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO für die Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Verwaltungsgericht und dem [X.]hof berufen. Nach dieser Vorschrift wird, wenn verschiedene Verwaltungsgerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben, das zuständige Gericht von dem nächsthöheren Gericht bestimmt. Mit den vorliegenden Beschlüssen haben sich Verwaltungsgericht und [X.]hof für unzuständig erklärt und der [X.]hof hat das [X.] angerufen. Einen solchen negativen Kompetenzkonflikt zwischen dem Verwaltungsgericht und dem [X.]gerichtshof desselben Bundeslandes entscheidet das beiden beteiligten Gerichten übergeordnete [X.] (BVerwG, Beschluss vom 4. November 2021 - 6 AV 9.21 - juris Rn. 12).

5

2. Für die Entscheidung über die Anfechtungsklage ist das Verwaltungsgericht zuständig. Der [X.]hof legt ausführlich und zutreffend dar, dass die sachliche Zuständigkeit mit Inkrafttreten der Neuregelung nicht auf ihn übergegangen ist. Insoweit kann auf die Ausführungen in seinem Beschluss ([X.] Rn. 9 bis 28) verwiesen werden. Ihm ist auch darin beizupflichten, dass dem Verweisungsbeschluss des [X.] ausnahmsweise die Bindungswirkung des § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 [X.] abzusprechen ist.

6

Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses wird nur bei extremen Rechtsverstößen durchbrochen (BVerwG, Beschlüsse vom 10. März 2016 - 6 AV 1.16 - [X.] 300 § 17a [X.] Nr. 36 Rn. 4 und vom 16. Juni 2021 - 6 AV 1.21 - NVwZ-RR 2021, 740 Rn. 10). So liegt es, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerwG, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 6 AV 1.21 - a.a.[X.] Rn. 10 m.w.N.). Das ist hier der Fall.

7

Das Verwaltungsgericht erkennt selbst den Vorrang des in § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 [X.] niedergelegten Kontinuitätsgrundsatzes (sog. perpetuatio fori) gegenüber dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts, wonach Beteiligte grundsätzlich mit der Änderung des Prozessrechts innerhalb eines anhängigen Verfahrens rechnen müssen (hierzu [X.], Beschluss vom 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631, 1728/90 - [X.]E 87, 48 <62 ff.>) an, bejaht allerdings vorliegend eine teleologische Reduktion dieses Grundsatzes als erforderlich. Die hierfür gegebene Begründung ist mit Blick auf die dem Grundsatz des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Anforderungen an die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsvorschriften sowie das Willkürverbot nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. April 2019 - 6 AV 11.19 - [X.] 310 § 53 VwGO Nr. 41 Rn. 11).

8

Zu Recht weist der [X.]hof darauf hin, dass die Begründung des [X.], eine teleologische Reduktion der gesetzlich angeordneten perpetuatio fori sei gerechtfertigt, da nach dem konkreten Verfahrensstand durch eine Verweisung an den [X.]hof weder eine (weitere) Verzögerung des Rechtsstreits noch der Verlust erlangter [X.] der Beteiligten zu befürchten seien, den Grundsatz einer im Voraus nach abstrakt-generellen Kriterien bestimmten Zuständigkeit des gesetzlichen Richters zugunsten einer einzelfallbezogenen Prüfung aufgibt. Damit verkennt das Verwaltungsgericht in unverständlicher und offensichtlich unhaltbarer Weise die in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Anforderungen. Das in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltene Verbot, die Auswahl des zur Mitwirkung berufenen Richters von Fall zu Fall vorzunehmen, ist derart fundamental, dass die Auffassung des [X.] einen extremen Verstoß gegen geltendes Verfassungsrecht darstellt.

9

Auch die weitere Begründung des [X.], dass der mit dem Gesetz zur Beschleunigung von Investitionen vom 3. Dezember 2020 ([X.]) verfolgte [X.] eine teleologische Reduktion rechtfertige, erweist sich als objektiv willkürlich. Das Verwaltungsgericht weist selbst darauf hin, dass eine im Gesetzgebungsverfahren angeregte klarstellende Regelung, wonach die geplante Änderung der instanziellen Zuständigkeit anhängige Verfahren nicht erfasst, unter Hinweis auf § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 [X.] als nicht erforderlich angesehen und unterblieben ist. Dass das Verwaltungsgericht trotz dieses Befundes und damit gegen den erkennbaren Willen des Gesetzgebers unter Berufung auf den allgemeinen [X.] des Gesetzes eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs einer gesetzlichen Zuständigkeitsnorm vornimmt, ist schlechterdings nicht mehr vertretbar. Das gilt gleichermaßen auch für das weitere Argument des [X.], es müsse bei der Anwendung des § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 [X.] dem Umstand Rechnung getragen werden, dass durch die Änderung des § 63 BImSchG Widerspruch und Klage eines [X.] gegen die Zulassung von Windenergieanlagen von mehr als 50 m Höhe keine aufschiebende Wirkung mehr hätten. Auch insoweit erkennt das Verwaltungsgericht, dass der Gesetzgeber - wie auch im Bereich des Baurechts - keine Übergangsregelung geschaffen hat und es damit von ihm in Kauf genommen wird, dass übergangsweise weiterhin vorläufiger Rechtsschutz zum Verwaltungsgericht möglich ist. Diese Erkenntnis zu ignorieren und ihr zuwider zu entscheiden, stellt einen groben Rechtsverstoß dar und macht die Entscheidung unhaltbar.

Auch das weitere Argument des [X.], dass es je nach Zeitpunkt des [X.] vor oder nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des [X.] zur Anrufung sowohl des [X.] als auch des [X.]hofs kommen könne, ist nicht mehr vertretbar. Derartige, im Übrigen nur für einen Übergangszeitraum denkbare Konstellationen rechtfertigen ganz offensichtlich keine teleologische Reduktion der dies gerade hinnehmenden gesetzlichen Regelung des § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 [X.]. Die gegenteilige Auffassung des [X.] ist auch vor dem Hintergrund, dass unterschiedliche Schicksale von Rechtsschutzverfahren angesichts der Systementscheidung der [X.]ordnung für eine subjektiv-rechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes systemimmanent sind, nicht mehr nachvollziehbar und stellt eine unhaltbare Rechtsanwendung dar.

Meta

7 AV 1/21

26.01.2022

Bundesverwaltungsgericht 7. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AV

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 20. April 2021, Az: 22 A 21.40004, Beschluss

§ 53 Abs 3 Nr 5 VwGO, § 83 S 1 VwGO, § 17 Abs 1 S 1 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 26.01.2022, Az. 7 AV 1/21 (REWIS RS 2022, 1740)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 1740

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