Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.03.2024, Az. X ARZ 119/23

10. Zivilsenat | REWIS RS 2024, 2356

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Leitsatz

1. Die Unterbrechung des Verfahrens gemäß § 240 ZPO nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der beklagten Partei steht einem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO nicht entgegen (Bestätigung von BGH, Beschluss vom 26. Juli 2022 - X ARZ 3/22, NJW 2022, 2936 Rn. 36).

2. Dem Gericht, bei dem der Rechtsstreit in der Hauptsache anhängig ist, ist es gemäß § 249 ZPO während einer Unterbrechung des Verfahrens verwehrt, sich für unzuständig erklären und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht zu verweisen.

3. Eine entgegen § 249 ZPO ergangene Entscheidung zur Zuständigkeit kann aber als rechtskräftige Entscheidung im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO anzusehen sein.

Tenor

[X.] ist das [X.].

Gründe

1

Das Verfahren betrifft die Bestimmung des zuständigen Gerichts zur Entscheidung über eine Vertragsrückabwicklung.

2

I. Der Kläger schloss nach seinem Vortrag mit dem früheren [X.] (nachfolgend: Schuldner) einen Vertrag über die Lieferung und Errichtung eines Zaunes nebst [X.] auf seinem Wohngrundstück in [X.]. In der zugrundeliegenden Auftragsbestätigung ist für den Schuldner eine Adresse im Bezirk des [X.]. [X.] angegeben.

3

Der Kläger trägt vor, er habe den [X.] nach Fristsetzung gekündigt, nachdem dieser Teile des Materials nicht geliefert und den Zaun nicht errichtet habe.

4

Mit seiner an das [X.]. [X.] gerichteten Klage begehrt der Kläger die Abholung bereits gelieferter Baumaterialien und die Rückzahlung geleisteter Anzahlungen. Die Klage konnte weder in [X.] noch an weiteren, in der Folge durch den Kläger benannten Anschriften in [X.] und [X.] zugestellt werden. Nachdem der Kläger eine Anschrift des Schuldners in [X.] mitgeteilt und um Abgabe an das dortige Amtsgericht gebeten hatte, hat sich das [X.]. [X.] mit Beschluss vom 10. Juni 2022 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit gemäß § 281 ZPO an das Amtsgericht [X.] verwiesen.

5

Das Amtsgericht [X.] hat die Akte mit Verfügung vom 21. Juni 2022 unter Ablehnung der Übernahme an das [X.]. [X.] zurückgesandt. Das [X.]. [X.] hat daraufhin mit Beschluss vom 4. Juli 2022 seinen Verweisungsbeschluss aufgehoben, die Klageschrift an den Schuldner zugestellt und Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Verweisungsantrag des Klägers eingeräumt.

6

Mit Beschluss vom 19. September 2022 hat sich das [X.]. [X.] erneut für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht [X.] verwiesen.

7

Das Amtsgericht [X.] teilte den [X.]en in einer Verfügung vom 11. Oktober 2022 mit, dass es die Verweisung für willkürlich und nicht verbindlich erachte. Mit Beschluss vom 23. Dezember 2022 hat es die Akten dem [X.] zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.

8

Mit Schreiben vom 6. Januar 2023 teilte der Insolvenzverwalter mit, dass über das Vermögen des Schuldners am 15. Dezember 2022 das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.

9

Das [X.] hat das Verfahren dem [X.] vorgelegt.

II. Die Vorlage ist zulässig.

Nach § 36 Abs. 3 Satz 1 ZPO hat ein Oberlandesgericht, wenn es im Rahmen eines Gerichtsstandsbestimmungsverfahrens nach § 36 Abs. 2 ZPO in einer Rechtsfrage von einer Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des [X.]s abweichen will, die Sache dem [X.] vorzulegen.

Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben.

1. Die Vorlage betrifft eine Zuständigkeitsbestimmung, die in den Anwendungsbereich von § 36 Abs. 1 ZPO fällt.

Die beiden mit der Sache befassten Amtsgerichte haben sich durch Beschluss für unzuständig erklärt. Das Amtsgericht [X.] hat das vorlegende Gericht unter Berufung auf § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO um die Bestimmung des zuständigen Gerichts ersucht.

2. Da die Amtsgerichte zu unterschiedlichen Oberlandesgerichtsbezirken gehören, ist der [X.] das nächsthöhere gemeinschaftliche Gericht und das vorlegende Gericht nach § 36 Abs. 2 ZPO zur Entscheidung berufen.

3. Eine Divergenz im Sinne von § 36 Abs. 3 ZPO liegt vor.

Das vorlegende Gericht sieht trotz der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Voraussetzungen einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO als gegeben an, da es davon ausgeht, dass ein Gericht, an das ein Rechtsstreit gemäß § 281 ZPO verwiesen worden ist, sich auch nach einer Unterbrechung wegen Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der beklagten [X.] noch für unzuständig erklären darf, um ein Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO einzuleiten. Damit weicht es von einer Entscheidung des [X.] ab (Beschluss vom 15. September 2020 - 1 AR 86/20, [X.], 621), das davon ausgeht, dass eine Unterbrechung des Rechtsstreits auch einer Entscheidung des Gerichts über seine Zuständigkeit entgegensteht.

4. Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die zur Vorlage führende Rechtsfrage eine der Voraussetzungen betrifft, unter denen eine Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO überhaupt zulässig ist.

Die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 ZPO sind als rechtliche Vorfragen derart eng mit den für die Zuständigkeitsbestimmungen maßgeblichen Erwägungen verknüpft, dass Divergenzen bei solchen Rechtsfragen ebenfalls das [X.] nach § 36 Abs. 3 ZPO eröffnen ([X.], Beschluss vom 6. Juni 2018 - [X.] 303/18, NJW 2018, 2200 Rn. 8 zu § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO).

III. Zu Recht hat das vorlegende Gericht angenommen, dass die Voraussetzungen für eine Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO im Streitfall gegeben sind.

1. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats hindert eine Unterbrechung des Rechtsstreits durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der beklagten [X.] eine Gerichtsstandsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nicht. Eine solche Entscheidung betrifft nicht die Hauptsache selbst, sondern nur die Zuständigkeit und hat daher nur vorbereitenden Charakter ([X.], Beschluss vom 7. Januar 2014 - [X.] 578/13, NJW-RR 2014, 248 Rn. 7).

Aus demselben Grund steht eine Unterbrechung des Rechtsstreits auch einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO nicht entgegen ([X.], Beschluss vom 26. Juli 2022 - [X.] 3/22, NJW 2022, 2936 Rn. 36; ebenso [X.], Beschluss vom 21. Dezember 2015 - 10 AS 9/15, [X.], 466 Rn. 16). Dies zieht auch das [X.] Oberste Landesgericht nicht in Zweifel (BayObLG, Beschluss vom 15. September 2020 - 1 AR 86/20, [X.], 621, juris Rn. 9).

2. Entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts ist es dem Gericht, bei dem der Rechtsstreit in der Hauptsache anhängig ist, gemäß § 249 ZPO während einer Unterbrechung des Verfahrens verwehrt, sich für unzuständig zu erklären und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht zu verweisen.

Während der Unterbrechung oder Aussetzung eines Rechtsstreits sind nach § 249 Abs. 2 ZPO die von einer [X.] in Ansehung der Hauptsache vorgenommenen Prozesshandlungen der anderen [X.] gegenüber ohne rechtliche Wirkung. Dieser Regelung ist zu entnehmen, dass auch Handlungen des Gerichts, die nach außen vorgenommen werden, grundsätzlich unwirksam sind (vgl. nur [X.], Beschluss vom 11. Januar 2023 - XII ZB 538/21, NJW-RR 2023, 630 Rn. 11).

Dieses Verbot gilt allerdings nicht für Nebenentscheidungen wie etwa die Kostenentscheidung ([X.], Beschluss vom 2. Februar 2005 - XII ZR 233/02) oder die Entscheidung über ein Prozesskostenhilfegesuch ([X.], Beschluss vom 23. März 1966 - [X.], NJW 1966, 1126). Ausgenommen sind auch - wie bereits erwähnt - vorbereitende Entscheidungen in einem gesonderten Verfahren nach § 36 Abs. 1 ZPO.

Ein solcher Ausnahmetatbestand liegt aber nicht vor, wenn das Gericht, bei dem die Hauptsache anhängig ist, sich für unzuständig erklärt. Eine solche Entscheidung hat nicht nur vorbereitenden Charakter. Sie führt vielmehr dazu, dass die Anhängigkeit der Sache bei dem entscheidenden Gericht insgesamt endet. Eine solche Entscheidung ist mit der Zielsetzung von § 249 ZPO nicht vereinbar.

3. Wie das vorlegende Gericht im Ergebnis zu Recht angenommen hat, kann eine entgegen § 249 ZPO ergangene Entscheidung zur Zuständigkeit aber als rechtskräftige Entscheidung im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO anzusehen sein.

Gerichtliche Entscheidungen, die trotz Unterbrechung oder Aussetzung ergehen, sind nicht nichtig. Sie können lediglich mit den gegebenen Rechtsmitteln angefochten werden ([X.], Beschluss vom 11. Januar 2023 - XII ZB 538/21, NJW-RR 2023, 630 Rn. 11; Beschluss vom 17. Dezember 2008 - XII ZB 125/06, [X.], 1000, juris Rn. 14; Beschluss vom 31. März 2004 - XII ZR 167/00, [X.], 1077, juris Rn. 4).

Für einen Verweisungsbeschluss, der grundsätzlich nicht der Anfechtung unterliegt, ergibt sich daraus, dass er zu einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO führen kann, weil dies die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit ist, einander widersprechende Entscheidungen über die Zuständigkeit zu überprüfen. Dies entspricht auch der Zwecksetzung dieses Verfahrens, Zuständigkeitskonflikte auf möglichst schnelle und zweckmäßige Weise zu lösen.

4. Im Streitfall sind die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO damit erfüllt, weil beide beteiligten Gerichte sich durch Beschluss für unzuständig erklärt haben. Dass das Amtsgericht [X.] einen solchen Beschluss wegen § 249 ZPO nicht erlassen durfte, steht dem aus den oben genannten Gründen nicht entgegen.

IV. Zuständiges Gericht ist das Amtsgericht [X.].

Dies folgt aus der Bindungswirkung des nach Eintritt der Rechtshängigkeit und vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangenen Verweisungsbeschlusses des [X.]. [X.] vom 19. September 2022 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO).

1. [X.] nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO sind unanfechtbar und gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO für das Gericht, an das verwiesen wird, bindend. Dies entzieht auch einen sachlich zu Unrecht erlassenen Verweisungsbeschluss grundsätzlich jeder Nachprüfung (vgl. nur [X.], Beschluss vom 27. Mai 2008 - [X.] 45/08, NJW-RR 2008, 1309 Rn. 6).

Einem Verweisungsbeschluss kann daher die gesetzlich vorgesehene bindende Wirkung nur dann abgesprochen werden, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch [X.] erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss ([X.], Beschluss vom 13. Dezember 2005 - [X.] 223/05, [X.], 847 Rn. 12; Beschluss vom 27. Mai 2008 - [X.] 45/08, NJW-RR 2008, 1309 Rn. 6). Hierfür genügt es aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn dem Verweisungsbeschluss jede rechtliche Grundlage fehlt und er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist ([X.], Beschluss vom 10. Juni 2003 - [X.] 92/03, [X.], 3201; Beschluss vom 27. Mai 2008 - [X.] 45/08, NJW-RR 2008, 1309 Rn. 6).

2. Gemessen daran ist der Verweisungsbeschluss des [X.]. [X.] vom 19. September 2022 nicht willkürlich.

a) Anhaltspunkte für eine Verletzung von Verfahrensgrundrechten liegen nicht vor.

Insbesondere wurde den [X.]en vor der (erneuten) Verweisung rechtliches Gehör gewährt.

b) Der Verweisungsbeschluss entbehrt auch nicht jeder gesetzlichen Grundlage, so dass er als offensichtlich unhaltbar betrachtet werden müsste.

Wie das vorlegende Gericht zutreffend ausführt, ist eine Zuständigkeit des [X.]. [X.] gemäß § 29 ZPO entgegen der Auffassung des Amtsgerichts [X.] nicht ersichtlich, weil der Erfüllungsort des Vertrags nicht im Bezirk des zuerst genannten Gerichts liegt.

Bacher     

  

Deichfuß     

  

Kober-Dehm

  

Rombach     

  

Crummenerl     

  

Meta

X ARZ 119/23

19.03.2024

Bundesgerichtshof 10. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ARZ

vorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 24. Februar 2023, Az: 6 AR 1/23

§ 36 Abs 1 Nr 6 ZPO, § 240 ZPO, § 249 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.03.2024, Az. X ARZ 119/23 (REWIS RS 2024, 2356)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 2356

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