Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 01.06.2016, Az. 1 StR 597/15

1. Strafsenat | REWIS RS 2016, 10703

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[X.]:[X.]:[X.]:2016:010616U1STR597.15.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

IM NAMEN [X.]S VOLKES

URTEIL
1
StR
597/15

vom
1. Juni
2016
in der Strafsache
gegen

wegen Totschlags u.a.

-
2
-
Der 1.
Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 1. Juni 2016, an der teilgenommen haben:
[X.] am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Graf

als Vorsitzender,

die [X.] am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Jäger,
Prof. Dr. [X.],
Prof. Dr. Mosbacher
und die [X.]in am Bundesgerichtshof
Dr. [X.],

St[X.]tsanwalt

als Vertreter der [X.],

Rechtsanwalt

in der Verhandlung

als Verteidiger,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

-
3
-
1. Auf die Revision der St[X.]tsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 16. Juli 2015 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer [X.] und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als [X.]wurgericht zustän-dige Strafkammer des [X.]s zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Von Rechts wegen

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten von den Vorwürfen des [X.] gegenüber seinem Bruder und einer anschließend an seiner Lebensge-fährtin begangenen gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Hiergegen wendet sich die St[X.]tsanwaltschaft mit ihrer auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, mit der sie insbesondere die Beweiswürdigung des [X.]s beanstandet. Das insoweit vom [X.] vertretene Rechtsmittel hat hinsichtlich des Freispruchs vom Vorwurf des [X.]; im Übrigen ist es unbegründet.

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-
I.
1. Die zugelassene Anklage legt dem Angeklagten folgende Taten zur Last:
a) Bei einer Auseinandersetzung wurde der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des 1. Januar 2015 in seiner Wohnung von seinem Bruder, dem später getöteten

[X.].

,
massiv geschlagen. Nachdem die beiden Brüder von der Lebensgefährtin des Angeklagten, der Zeugin S.

, getrennt worden waren, griff der Angeklagte zu einem im [X.] liegenden zweiteiligen Ziermesser, das er auseinanderzog, sodass er in beiden Händen jeweils ein Messer hielt. Nachdem die Zeugin S.

in die Küche geflohen war, flüchtete

[X.].

in den Flur in Richtung des [X.] zum Ausgang. Dort drehte er sich nochmals zu dem Angeklagten um. In diesem Moment versetzte ihm der Angeklagte mit dem größeren der beiden Messer, das er in seiner rechten Hand hielt, in Tötungsabsicht zwei wuchtige Stiche in den [X.], die jeweils in die Brusthöhle eindrangen und den linken Lungenlappen verletzten. Als sich

[X.].

daraufhin in die Toilette flüch-ten wollte, versetzte ihm der Angeklagte mit diesem Messer einen weiteren wuchtigen Stich von hinten in den unteren Rückenbereich. Dieser Stich drang ebenfalls in den linken Lungenlappen und das Herz ein. Mit dem mitgeführten kleineren Messer stach der Angeklagte seinem Bruder außerdem noch in die rechte Hüfte.

[X.].

verstarb unmittelbar nach den Stichen an den ihm zugefügten Verletzungen.
b) Anschließend ging der Angeklagte zum Badezimmer, in dem sich sei-ne Lebensgefährtin aufhielt, packte sie am Kopf und schlug diesen gegen die 2
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ä-matome erlitt.
2. Demgegenüber hat das [X.] folgende Feststellungen getrof-fen:
a) Der Angeklagte und der später getötete

[X.].

sind Brüder. Zwischen beiden kam es zeitlebens zu heftigen, immer wieder auch körperlich ausgetragenen Auseinandersetzungen, die nicht nur auf die unterschiedliche Lebensweise, sondern vor allem auch auf den besonderen Charakter

[X.].

s zurückzuführen waren. Er zeichnete sich durch zwei völlig entgegen-gesetzte Wesenszüge aus: Einerseits war er überaus gutmütig, hilfsbereit und großzügig, andererseits aber auch extrem reizbar, jähzornig und [X.]. Aus dem nichtigsten Anlass heraus und für andere unvor-vollständig die Kontrolle über sich selbst verlieren, was sich sowohl in äußerst verletzenden verbalen Angriffen als auch in körperlichen Übergriffen äußerte.

[X.].

war dem Angeklagten in körperlicher Hinsicht klar überlegen, sodass der Angeklagte für

[X.].

, wenn es zu einer tätlichen Ausei-nandersetzung kam, niemals ein ebenbürtiger Gegner war.
An [X.] 2014 begaben sich die beiden Brüder mit der Lebensgefähr-tin des
Angeklagten, der Zeugin S.

, in eine Gaststätte, um dort den [X.] zu feiern. Nach einer verbalen Auseinandersetzung mit seinem Bruder zog sich der Angeklagte gegen 0.30 Uhr verärgert in seine Wohnung zurück. Zuvor machte er zumindest gegenüber seiner Lebensgefährtin klar, dass er seinen Bruder in dieser Nacht nicht mehr sehen wolle.
Gegen 1.30 Uhr begleitete

[X.].

gleichwohl die Zeugin S.

in die Wohnung des Angeklagten. Auf das Erscheinen der beiden reagierte der 5
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Angeklagte sichtlich verärgert. Daraufhin begann

[X.].

völlig unver-mittelt eine körperliche Auseinandersetzung, in deren Verlauf er dem
[X.]n mindestens 20 massive Faustschläge gegen den Kopf versetzte. Nachdem die Zeugin S.

zunächst vergeblich versucht hatte, die beiden Brüder zu trennen, ließ

[X.].

schließlich vom Angeklagten ab und stand auf.
Um seinen Bruder
aus dem Haus zu weisen, griff der Angeklagte nach einem im [X.] direkt neben ihm aufbewahrten zweiteiligen [X.]. Er zog dieses Ziermesser auseinander, wodurch er nun in der einen Hand ein Messer mit einer Klingenlänge von 18 cm und in der
anderen Hand ein solches mit einer Klingenlänge von 13,5 cm hielt. Mit den Messern in den erhobenen Händen forderte der Angeklagte seinen Bruder mit äußerstem Nachdruck zum Verlassen der Wohnung auf.

[X.].

, der sich [X.] wieder beruhigt hatte, ging den Flur entlang in Richtung der Treppe, die ins Erdgeschoss und zum Ausgang führt. Der Angeklagte folgte seinem Bruder mit einem gewissen Abstand, wobei er weiterhin die Messer in den Händen hielt, da er sichergehen wollte, dass sein Bruder auch tatsächlich das Haus ver-lässt.
Am oberen Treppenabsatz, an dem eine Tür in einen Abstellraum führt, drehte sich

[X.].

den Messern hinter sich erblickte, geriet er erneut in Zorn und ging den Ange-klagten sogleich verbal massiv an. Dem Angeklagten war klar, dass

[X.].

nun nicht mehr bereit war, das Haus umgehend zu verlassen. Er sah sich einem erneuten Angriff seines Bruders gegenüber, da

[X.].

ihm eindeutig zu verstehen gab, dass er sich auf keinen Fall gefallen lasse, vom Angeklagten mit Messern aus dem Haus geworfen zu werden. In Erinnerung an die massiven [X.]läge im Wohnzimmer stach der Angeklagte nunmehr aus Angst um sein Leben und in der Absicht, sich zu verteidigen, dreimal von vorne 9
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auf den Oberkörper seines Bruders ein. Zwei Stiche, die zeitlich unmittelbar hintereinander in den Bereich der linken Achsel erfolgten, drangen in die [X.] ein und verletzten jeweils den linken [X.]. Ein weiterer Stich traf

[X.].

in die rechte Hüfte.

[X.].

bewegte sich nach den ersten drei Stichen in einer ersten Reaktion auf den Angeklagten zu, wel-cher seinem Bruder weiterhin in Todesangst und wiederum von vorne einen vierten Stich in den Rücken nahe der linken Flanke versetzte, indem er um den Oberkörper des Bruders herumgriff. Der vierte Stich durchdrang den [X.], eröffnete den Herzbeutel und penetrierte sodann die links-seitige Herzhinterwand.

[X.].

verstarb
an den zugefügten [X.] der Wohnung. Die auf Betreiben des Angeklagten und der Zeugin S.

herbeigerufenen Rettungskräfte konnten nur noch seinen Tod feststellen.
Im Tatzeitpunkt betrug die Blutalkoholkonzentration beim Angeklagten 1,86 Promille, bei seinem Bruder

[X.].

1,18 Promille.
b) Ob der Angeklagte nach den Stichen auf seinen Bruder seiner Le-bensgefährtin überhaupt [X.]läge zufügte, konnte das [X.] nicht fest-stellen.
3. Das [X.] hat den Angeklagten hinsichtlich des ihm zur Last liegenden Tötungsdelikts aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen, hinsicht-lich des Vorwurfs der Körperverletzung gegenüber der Zeugin S.

aus tat-sächlichen Gründen freigesprochen.
a) Bezüglich
des [X.] der vorsätzlichen Tötung seines Bruders getroffen.
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[X.]) Der Angeklagte ließ sich in der Hauptverhandlung ein, er habe sei-nen Bruder im Wohnzimmer nach dem Auseinanderziehen des Ziermessers zum Verlassen der Wohnung aufgefordert. Daraufhin habe ihn sein Bruder er-neut angegriffen, weshalb er mit beiden Messern zugestochen habe. Sein [X.] habe ihn trotz der Stiche nicht losgelassen, weshalb er erneut auf ihn ein-gestochen habe. Alle vier Stiche seien seiner Erinnerung nach im Wohnzimmer erfolgt. Er habe auf seinen Bruder eingestochen, weil er befürchtet habe, dieser würde ihn sonst totschlagen.
[X.]) Bezüglich des Ortes der Messerstiche und der Art und Weise der Stichführung hält das [X.] die Einlassung des Angeklagten für wider-legt. Es hat sich insbesondere im Hinblick auf die festgestellten Blutspuren da-von überzeugt, dass die Messerstiche nicht im Wohnzimmer, sondern im Be-reich der Tür zur Abstellkammer zugefügt wurden. Es konnte jedoch nicht fest-stellen, dass der Angeklagte das Gericht zum eigentlichen Tatgeschehen [X.] angelogen hat. Im Hinblick auf eine beim Angeklagten festgestellte Mischintoxikation mit Alkohol und Drogen konnte das [X.] nicht aus-schließen, dass der Angeklagte unter einer anterograden Amnesie litt.
[X.]) Die Aussage der einzigen Zeugin von Teilen des Tatgeschehens, der Zeugin S.

, hält das [X.] nicht für glaubhaft. Es hat deren Angaben daher nur insoweit herangezogen, als sie durch andere Beweise bestätigt [X.].
[X.]) Angesichts der außergewöhnlichen Charakterstruktur des [X.] konnte das [X.] im Ergebnis nicht ausschließen, dass der Angeklagte die Messerstiche aus einer Notwehrsituation heraus gesetzt hat. Ausgehend t-geschehen zu rekonstruieren und die dabei verbleibenden Sachverhaltslücken 15
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dabei bei ungeklärt
n-de gelegt.
(1) Auf diese Weise hat das [X.] festgestellt, dass der [X.] nicht seinem Bruder nachging, um sich für die vorangehenden Prügel zu rä-

(2) Nach dem [X.] ist es zudem zur Reihenfolge der [X.] davon ausgegangen, dass der erste Messerstich nicht während der [X.] erfolgte, sondern

[X.].

sich erst umdrehte und dann die Messerstiche erhielt.
(3) Weiterhin ist das [X.] zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass ein erneuter Angriff

[X.].

s auf den Angeklagten

und dem Verhältnis der beiden Menschen sogar naheliegend, dass es sich

[X.].

gerade von seinem jüngeren Bruder nicht bieten lassen wollte,

22).
(4) [X.]ließlich ergab sich für das [X.] aus einer letzten Anwen-dung des [X.]es, dass der unter anderem den Herzbeutel verletzende Stich in den Rücken ebenfalls
von vorne erfolgt ist. Es ging zugunsten des [X.] davon aus, dass er seinen Bruder nicht von hinten in den Rücken gestochen habe, sondern dass er von vorn um dessen Oberkörper herumge-griffen und ihm dann in den Rücken gestochen habe. Da die Geschehensvari-ante, dass der Angeklagte diesen Stich erst nach beendetem Angriff seines Bruders gesetzt habe, wegen eines extensiven Notwehrexzesses sowohl die 19
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Berufung auf §
32 StGB als auch auf §
33 StGB ausschließe, sei in dubio pro reo nicht von dieser Variante auszugehen.
ee) Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen hält das [X.] die Messerstiche des Angeklagten für durch Notwehr (§
32 StGB) gerecht-fertigt. Der Angeklagte habe sich bei den Stichen einem unmittelbar bevorste-henden Angriff seines Bruders auf seine körperliche Integrität, wenn nicht sogar auf sein Leben, gegenüber gesehen. Dieser sei auch rechtswidrig gewesen, weil das Nachgehen und Drohen mit den Messern seitens des Angeklagten keinen rechtswidrigen Angriff auf seinen Bruder darstelle, sondern vielmehr seinerseits durch Notwehr gerechtfertigt gewesen sei. Denn es habe ein rechtswidriger Angriff

[X.].

s auf das Hausrecht des Angeklagten [X.].
b) Im Hinblick auf die nicht glaubhaften Angaben der Zeugin S.

konnte sich das [X.] auch nicht von einer zu ihrem Nachteil begange-nen Körperverletzung überzeugen.

II.

[X.] hat keinen Bestand.
1. Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichter-23
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liche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beur-teilung näher gelegen
hätte
oder überzeugender gewesen wäre (vgl. [X.], Ur-teil vom 24. März 2015

5 StR 521/14, [X.], 178). Dem Tatgericht obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine [X.]lussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 12.
Februar 2015

4 [X.], [X.], 148 [X.]). Die revisionsgerichtliche Prüfung be-schränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung wider-sprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesi-cherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche
Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteile vom
11.
November 2015

1 [X.], [X.], 78, vom 1. Juli 2008

1 [X.] und vom 23.
Juli 2008

2
[X.], [X.], 398; jeweils [X.]).
Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimm-ten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil ausschließende Gewiss-heit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt (st.
Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 29.
Oktober 2009

4 [X.], [X.], 292). Das Tatgericht ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen (vgl. [X.], Urteil vom 12.
Februar 2015

4
[X.], [X.], 148 [X.]). Dabei muss sich aus den Urteilsgründen auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung ein-gestellt wurden (st.
Rspr.; vgl. nur [X.], Urteil vom 23. Juli 2008

2 [X.], [X.], 398 [X.]). Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich 28
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allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, [X.] die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtheit dem Tatrichter die entspre-chende
Überzeugung vermitteln können (vgl. [X.], Urteil vom 11.
November 2015

1 StR
235/15 Rn.
43, [X.], 78, vom 30.
März 2004

1 [X.], [X.], 238 und vom 6.
August 2003

2 [X.], [X.], 369, 370 [X.]).

b) Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung hinsichtlich des [X.] des Totschlags nicht.
[X.]) Das [X.] hat den Anwendungsbereich des [X.]es verkannt. Der Grundsatz

-, sondern eine Ent-scheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach [X.] Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung von der [X.] zu gewinnen vermag. Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anzuwenden (vgl. [X.], Urteil vom 5.
November 2014

1
StR 327/14 Rn.
44, [X.], 83 [X.]).
Das [X.] hat bereits einen rechtsfehlerhaften Ansatz gewählt, in-vom restlichen Sachverhalt gemäß dem [X.] zugunsten des [X.]n schließen. Denn hierdurch hat es die Betrachtung auf diejenigen Beweisan-zeichen verengt, denen es eine unmittelbare Aussagekraft für das jeweilige Sachverhaltselement beigemessen hat. Das [X.] hätte statt einer [X.] Beweiswürdigung für einzelne Sachverhaltselemente eine Gesamtbe-wertung aller be-
und entlastenden Beweisanzeichen mit dem ihnen jeweils zu-kommenden Beweiswert vornehmen müssen.
Die gebotene Gesamtbetrachtung aller festgestellten Umstände hätte dem Tatgericht möglicherweise eine sichere Überzeugung von einem nicht in 29
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-
Verteidigungsabsicht vorgenommenen Messerangriff des
Angeklagten vermit-teln können. Denn erst die Würdigung des gesamten Beweisstoffs entscheidet letztlich darüber, ob der [X.] die Überzeugung von der [X.]uld des Ange-klagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt.
[X.]) Indem das [X.] unter mehrfacher isolierter Anwendung des [X.]es den für den Angeklagten günstigsten Geschehensablauf an-nimmt, der nicht einmal mit der Einlassung des Angeklagten in Einklang zu bringen ist, hat das [X.] zudem verkannt, dass es weder im Hinblick auf den [X.] noch sonst geboten ist, zugunsten des Angeklagten Gesche-hensabläufe zu unterstellen, für deren Vorliegen
außer nicht widerlegbaren und
durch nichts gestützten Angaben des Angeklagten keine Anhaltspunkte beste-hen (vgl. [X.], Urteil vom 5.
November 2014

1
StR 327/14 Rn.
37, [X.], 83 [X.]).

e-rücksichtigung der
ganz außergewöhnlichen
Charakterstruktur des [X.] nicht ausschließen, dass der Angeklagte, wie von ihm geschildert, die [X.], das [X.] habe nicht beachtet, dass für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt eine absolute, das Gegenteil ausschließende Gewissheit nicht erforderlich ist (st.
Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 29.
Oktober 2009

4
[X.], [X.], 292).
2. [X.] hat ferner deshalb keinen Bestand, weil die Annahme des [X.]s, die Messerstiche des [X.]n seien durch Notwehr (§
32 StGB) gerechtfertigt gewesen, auch ausgehend von den getroffenen Feststellungen rechtlicher Nachprüfung nicht standhält.

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a) Nicht rechtswidrig handelt nur derjenige, der eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist (§
32 Abs.
1 StGB). Dabei erfordert das Merkmal der Gebotenheit im Einzelfall sozialethisch begründete Einschränkungen an sich erforderlicher Verteidigungshandlungen (vgl. [X.], Urteil vom 21.
März 1996

5 StR 432/95, [X.]St 42, 97). Die Verteidigung ist dann nicht geboten, wenn von dem Angegriffenen aus Rechtsgründen die Hinnahme der [X.] oder eine eingeschränkte und risikoreichere Verteidigung zu verlangen ist (vgl. [X.], StGB, 63.
Aufl., § 32 Rn.
36).
b) Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen ist das Gebotensein des vom Angeklagten gewählten tödlichen Messereinsatzes nicht dargetan. Denn das [X.] hat zwei Umstände, die zu einer Einschränkung des [X.] führen konnten, rechtsfehlerhaft nicht in den Blick genommen.
[X.]) Zum einen könnte eine [X.] vorgelegen haben. Wer durch ein sozialethisch zu beanstandendes [X.] einen Angriff auf sich schuldhaft provoziert hat, auch wenn er ihn nicht in Rechnung gestellt haben sollte oder gar beabsichtigt hat, darf nicht bedenkenlos von seinem Notwehr-recht Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutz-wehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst übergehen, nachdem er alle [X.] zur [X.]utzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit verschließt, ist er zu entsprechend weitreichender Verteidigung befugt (vgl. [X.], Urteil vom 25. März 2014

1 [X.], [X.], 451, 452). Gegen einen unbewaffneten Gegner kommt der Gebrauch einer lebensgefährlichen Waffe nur in Ausnahmefällen in Betracht; er darf nur das letzte Mittel zur [X.] sein ([X.] [X.]O; vgl. auch [X.], Urteil vom 30.
Mai 1996

4 [X.], [X.], 65 [X.]; zur Rechtsprechung zur [X.] vgl. auch [X.], Urteile vom 19.
Dezember 2013

4 StR 347/13, Rn.
28, NStZ 36
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2014, 147 [X.] und vom 21.
März 1996

5 StR 432/95, [X.]St 42, 97, 100
f.; zur Notwehreinschränkung bei [X.] umfassend Fasten, Die Grenzen der Notwehr im Wandel der Zeit, 2011, 151
ff. [X.]).
Vorliegend war der Angeklagte seinem Bruder mit Messern in den Hän-den gefolgt, obwohl die vorherige Auseinandersetzung bereits beendet war und sich der Bruder, der sich bereits wieder beruhigt hatte, auf dem Weg zum Aus-gang befand. Hierin konnte

jedenfalls angesichts des Umstandes, dass von

[X.].

zu diesem Zeitpunkt kein Angriff auf das Hausrecht mehr aus-ging ([X.])

ein sozialethisch zu beanstandendes [X.] liegen, das zu einer Einschränkung des [X.] führte. Es hätte deshalb ergänzen-der Feststellungen und Erörterungen bedurft, ob der Angeklagte mit dem [X.] mit Messern den Anschein eines bevorstehenden, von ihm ausgehenden Angriffs erweckt hatte und damit sein Notwehrrecht aus [X.] Gründen eingeschränkt war, sodass er hätte versuchen müssen, dem Angriff seines Bruders auszuweichen (vgl. BSG, Urteil vom 25.
März 1999

[X.] VG 1/98
R, [X.], 54).
[X.]on bei der Verfolgung des Bruders mit Messern konnte sich der An-geklagte nicht auf Notwehr zur Durchsetzung des Hausrechts berufen. Ein Hausfriedensbruch gemäß §
123 Abs.
1 Alt. 2 StGB liegt erst dann vor, wenn der Täter nach der Aufforderung, sich zu entfernen, den Raum nicht unverzüg-lich verlässt. Das weitere Verweilen muss dabei von solcher Dauer sein, dass es sich als Ungehorsam gegen die ergangene Aufforderung darstellt. Erst das Überschreiten dieser Grenze führt dazu, dass der Täter ohne Befugnis verweilt und damit ein rechtswidriger Angriff auf das Hausrecht vorliegt (vgl. Lilie in [X.], 12. Aufl., §
123 Rn.
65 f. [X.]). Ein solches Verweilen hat das [X.] indes nicht festgestellt. Vielmehr leistete

[X.].

nach den Urteils-39
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feststellungen der Aufforderung des Angeklagten, das Haus zu verlassen, un-verzüglich Folge und begab sich zur Treppe, die zum [X.] führt.
[X.]) Ebenfalls zu einer Einschränkung des [X.] konnte das zwischen dem Angeklagten und seinem Bruder bestehende persönliche Nähe-verhältnis führen. Bei einer solchen engen familiären und persönlichen Bezie-hung, wie sie hier zwischen den beiden Brüdern bestand, dürfen lebensgefähr-liche Verteidigungsmittel nicht ohne Weiteres angewendet werden, wenn der Angreifer unbewaffnet ist (vgl. [X.], Urteil vom 25. März 2014

1 [X.], [X.], 451, 452 [X.]) und statt einer Trutzwehr auch eine [X.]utzwehr möglich ist (vgl. [X.] in Müko-StGB, 2.
Aufl., §
32
Rn. 219; vgl. auch [X.], Urteil vom 26.
Februar 1969

3 StR 322/68, NJW 1969, 802).
3. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entschei-dung.

41
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17
-
III.
Der Freispruch vom Vorwurf der Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen
hat demgegenüber Bestand. Das [X.] hat rechtsfehlerfrei [X.], aus welchen Gründen es sich nicht von der Richtigkeit der Angaben der Zeugin S.

zu diesem Tatvorwurf überzeugen konnte. Weitere Beweismit-tel sind ausweislich der Urteilsgründe nicht vorhanden.
Graf Jäger [X.]

Mosbacher [X.]
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Meta

1 StR 597/15

01.06.2016

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 01.06.2016, Az. 1 StR 597/15 (REWIS RS 2016, 10703)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 10703

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
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Zitiert

5 StR 521/14

4 StR 420/14

1 StR 235/15

1 StR 630/13

4 StR 347/13

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