Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.02.2020, Az. StB 2/20

3. Strafsenat | REWIS RS 2020, 624

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Gegenstand

Strafvollstreckung: Aussetzung der Vollstreckung einer nach den Vorschriften des Erwachsenenvollzugs vollzogenen Jugendstrafe


Leitsatz

Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung einer Restjugendstrafe ist auch dann nach § 88 JGG zu treffen, wenn die Jugendstrafe gemäß § 89b JGG nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollzogen wird und ihre Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 Satz 1 JGG an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgegeben worden ist.

Tenor

1. Dem Verurteilten wird auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen [X.]and nach Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des [X.] vom 27. November 2019 (6 [X.] 1/19) gewährt.

2. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des [X.] vom 27. November 2019 aufgehoben.

3. Die Sache wird zu neuer Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

A.

1

Das [X.] hat den im Urteilszeitpunkt 38jährigen Verurteilten am 11. Juli 2018 wegen als Heranwachsender begangener Beihilfe zu neun Fällen des Mordes zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt; die Entscheidung ist seit dem 17. Januar 2019 rechtskräftig.

2

Mit Beschluss vom 4. April 2019 hat der Jugendrichter gemäß § 89b [X.] den Verurteilten vom [X.] ausgenommen und die Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 [X.] an den [X.] abgegeben. Der Verurteilte hat die Strafe am 11. April 2019 angetreten und befindet sich seitdem in Strafhaft. Am 11. September 2019 hat er die Aussetzung der Vollstreckung des [X.] zum 11. Dezember 2019 beantragt. Zu diesem Zeitpunkt ist unter Berücksichtigung anrechenbarer Untersuchungshaft ein Drittel seiner Jugendstrafe vollstreckt gewesen.

3

Das [X.] hat diesen Antrag mit dem angefochtenen Beschluss vom 27. November 2019 als unzulässig verworfen, weil er verfrüht gestellt worden sei. Die Aussetzung der Vollstreckung der Restjugendstrafe richte sich nach § 57 StGB; der danach maßgebliche Halbstrafenzeitpunkt sei noch nicht erreicht.

4

Die gegen den Beschluss gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten hat Erfolg.

B.

5

I. Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 85 Abs. 6 Satz 2 [X.] [X.]. § 454 Abs. 3 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 5 [X.] statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil dem Verurteilten auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach der Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde zu gewähren ist. Ihn trifft an der Fristversäumung aus den in der Antragsschrift des [X.]s genannten Gründen kein (Mit-)Verschulden.

6

II. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist begründet und führt zur Aufhebung des Beschlusses vom 27. November 2019 (Ziffer II.1.) sowie zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (Ziffer II.2.).

7

1. Das Rechtsmittel hat Erfolg, weil die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Restjugendstrafe entgegen der Auffassung des [X.]s nach § 88 Abs. 1 und 2 [X.] zu treffen ist. Der Verurteilte hat den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung zum Drittelzeitpunkt damit nicht verfrüht gestellt.

8

a) Die Frage, nach welcher Rechtsvorschrift die Aussetzung der Vollstreckung einer Restjugendstrafe zu beurteilen ist, wenn die Jugendstrafe gemäß § 89b [X.] nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollzogen wird und ihre Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 Satz 1 [X.] an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgegeben worden ist, ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung und im Schrifttum umstritten.

9

aa) In einigen Entscheidungen und von einem Teil der Literatur wird § 57 StGB als maßgebliche Norm angesehen ([X.], Beschlüsse vom 25. April 1995 - 1 Ws 332 - 333/95, juris; vom 5. März 2012 - [X.], juris; [X.], Beschluss vom 12. November 2008 - 2 Ws 986 - 988/08, juris; [X.], Beschluss vom 17. November 2009 - 2 Ws 410/09, juris; [X.], Beschluss vom 5. April 2011 - 2 Ws 102/11, juris; [X.], Beschluss vom 20. März 2015 - 1 Ws 19/15, unveröffentlicht; MüKoStGB/[X.], 3. Aufl., § 57 Rn. 9; [X.]/Graalmann-Scheerer, [X.], 26. Aufl., § 454 Rn. 105; [X.]/[X.]/[X.]/[X.]/[X.], Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl., StGB, § 57 Rn. 4; [X.], NStZ 2002, 182; [X.], Rpfleger 1991, 406, 407).

bb) Die größere Anzahl der [X.]e und der überwiegende Teil des Schrifttums halten hingegen § 88 [X.] für anwendbar ([X.], Beschlüsse vom 2. Februar 1996 - 3 Ws 40/96, juris; vom 28. Oktober 1999 - 2 Ws 317/99, [X.], 92 f.; vom 5. Februar 2015 - III-2 [X.], juris; [X.], Beschluss vom 21. Dezember 1998 - 3 Ws 1070/98, [X.], 91; [X.], Beschluss vom 15. November 2010 - 5 Ws 200/10, juris; [X.], Beschluss vom 11. Juni 2013 - 1 Ws 44/13, juris; [X.], Beschlüsse vom 3. Januar 2012 - 1 Ws 566/11, juris; vom 27. Juli 2016 - 1 Ws 307/16, juris; [X.], Beschlüsse vom 11. März 2008 - 2 Ws 374/07, [X.], 46; und vom 12. Oktober 2017 - 2 Ws 231/17, NStZ-RR 2018, 30; [X.], Beschluss vom 25. Oktober 2005 - [X.], juris; [X.], Beschluss vom 13. März 2012 - 2 Ws 59/12, [X.], 293; [X.], Beschluss vom 20. Mai 1994 - 1 Ws 220 - 222/94, juris; [X.], Beschluss vom 17. Dezember 2004 - I Ws 549/04, juris; [X.], Beschluss vom 24. Mai 2005 - 2 Ws 57/05, juris; [X.], Beschluss vom 13. November 2008 - 2 Ws 439/08 (282/08), juris; [X.], StGB, 67. Aufl., § 57 Rn. 2; LK/Hubrach, StGB, 12. Aufl., § 57 Rn. 2; [X.]/[X.]/Heger, StGB, 29. Aufl., § 57 Rn. 1; NK-StGB/Dünkel, 5. Aufl., § 57 Rn. 3; [X.]/[X.]/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 57 Rn. 3; [X.]/[X.], § 57 Rn. 2; [X.]/[X.], § 57 Rn. 6; [X.], StGB, § 57 Rn. 2; AnwK-StGB/[X.], 2. Aufl., § 57 Rn. 2; [X.]/[X.]/Sonnen, [X.], 7. Aufl., § 89b Rn. 5; [X.]/[X.], [X.], 10. Aufl., § 88 Rn. 1; HK-[X.]/[X.]/[X.], 2. Aufl., § 89b Rn. 16; [X.], [X.], 20. Aufl., § 85 Rn. 22; [X.] [X.]/Sengbusch, § 85 Rn. 19.1; [X.] [X.]/Kilian, § 89b Rn. 12; [X.]/[X.], [X.], 13. Aufl., § 85 Rn. 14; [X.]/[X.]/[X.], Jugendstrafrecht, 3. Aufl., Rn. 882; Streng, Jugendstrafrecht, 4. Aufl., Rn. 536; [X.], [X.], 8. Aufl., § 454 Rn. 3; [X.], [X.], 737; [X.], NStZ 1996, 478; [X.]., [X.] 1997, 213; [X.], NStZ 2010, 95; [X.], [X.] 10/2015 [X.]. 3; [X.], [X.], 526; Rzepka, [X.], 349; [X.], Rpfleger 1992, 145; [X.], Jura 1997, 72; Dehne-Niemann, [X.], 473; [X.], Rpfleger 1992, 147).

b) Die vom Senat bislang offengelassene Rechtsfrage (vgl. Beschluss vom 11. Januar 2018 - StB 33/17, NStZ-RR 2018, 126) ist im Sinne der letztgenannten Auffassung zu entscheiden.

aa) Ausgangspunkt ist § 1 Abs. 1 [X.]. Nach dieser Vorschrift gilt das [X.], wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender eine Verfehlung begangen hat. Maßgeblich für die Einordnung als Jugendlicher oder Heranwachsender ist gemäß § 1 Abs. 2 [X.] die [X.]. Auch bei der für Heranwachsende mit Blick auf das anwendbare Recht maßgeblichen Norm des § 105 Abs. 1 [X.] wird auf den Zeitpunkt der Tatbegehung abgestellt. Wurde bei einem Heranwachsenden Jugendstrafrecht angewandt und gegen ihn eine Jugendstrafe verhängt, sind gemäß § 110 Abs. 1 [X.] die §§ 83 bis 93a [X.] entsprechend anzuwenden. Damit ist die grundsätzliche Geltung des § 88 [X.] in diesen Fällen gesetzlich vorgeschrieben.

bb) Diese gesetzgeberische Grundentscheidung gilt im Erkenntnisverfahren uneingeschränkt: Denn in einem Verfahren gegen einen zur Tatzeit Heranwachsenden, bei dem die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 [X.] vorliegen, ist für die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht selbst dann kein Raum, wenn sich der Angeklagte im Zeitpunkt seiner Verurteilung - wie hier - bereits im (fortgeschrittenen) Erwachsenenalter befindet (vgl. [X.], Beschluss vom 20. März 2019 - 3 StR 452/18, juris Rn. 6). In einem solchen Fall kommt dem Erziehungsgedanken allerdings bereits bei der Bestimmung von Art und Dauer der jugendrechtlichen Sanktion ein - wenn überhaupt - allenfalls geringes Gewicht zu (vgl. hierzu: [X.], Beschlüsse vom 20. August 2015 - 3 [X.], [X.], 101 f. mwN; vom 8. März 2016 - 3 [X.], [X.], 680 f.).

cc) Es besteht entgegen der Ansicht des [X.]s kein sachlicher Grund, davon für das Vollstreckungsverfahren abzuweichen und für die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Restjugendstrafe anstelle von § 88 [X.] die Vorschrift des § 57 StGB anzuwenden.

(1) Die Auffassung, der [X.] habe durch die Abgabeentscheidung gemäß § 85 Abs. 6 Satz 1 [X.] festgestellt, dass "die besonderen Grundgedanken des Jugendstrafrechts unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Verurteilten für die weiteren Entscheidungen nicht mehr maßgebend" seien, weswegen kein Bedürfnis mehr bestehe, Jugendrecht anzuwenden ([X.], Beschluss vom 5. April 2011 - 2 Ws 102/11, juris Rn. 7; [X.], Beschluss vom 17. November 2009 - 2 Ws 410/09, juris Rn. 19; [X.], Beschluss vom 12. November 2008 - 2 Ws 986 - 988/08, juris Rn. 3; [X.], Beschluss vom 5. März 2012 - [X.], juris Rn. 5) überzeugt aus mehreren Gründen nicht:

(a) "Die besonderen Grundgedanken des Jugendstrafrechts" waren - wie dargelegt - bereits im Urteilszeitpunkt von untergeordneter Bedeutung. Gleichwohl ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 [X.] eine Jugendstrafe mit den Strafrahmen der § 105 Abs. 1, 3, § 18 [X.] und keine Freiheitsstrafe nach Erwachsenenstrafrecht zu verhängen.

Dieser Vorgabe des Gesetzgebers ist auch in der Folge bei der Vollstreckung der Jugendstrafe Rechnung zu tragen, denn der Charakter der verhängten Sanktion als Jugendstrafe ändert sich durch die Herausnahme aus dem Jugendstrafvollzug nicht (vgl. [X.], Beschluss vom 3. Januar 2012 - 1 Ws 566/11, juris Rn. 20; [X.], Beschluss vom 12. Oktober 2017 - 2 Ws 231/17, juris Rn. 10).

(b) Die Anwendung des § 57 StGB in diesen Fallkonstellationen ließe die aufgezeigte Grundentscheidung des Gesetzgebers unberücksichtigt. Der von den Vertretern dieser Auffassung vorgebrachte Gedanke, es bestehe nach Abgabe der Vollstreckung kein Bedürfnis mehr, Jugendrecht anzuwenden, weil die weitere Entwicklung des zur Tatzeit Heranwachsenden und sein im Urteilszeitpunkt sowie im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung fortgeschrittenes Alter Berücksichtigung finden müssten, erfordert es nicht, materielle Vollstreckungsregelungen des [X.] anzuwenden. Vielmehr kann dem durch eine entsprechende Auslegung der Vorschriften des [X.]es bei den zu treffenden Vollstreckungsentscheidungen Rechnung getragen werden.

Denn § 88 [X.] stellt die Entscheidung über die Aussetzung der Restjugendstrafe in das pflichtgemäße Ermessen des [X.]s ([X.], [X.], 20. Aufl., § 88 Rn. 14 ff.; [X.]/[X.], [X.], 10. Aufl., § 88 Rn. 7 f.; [X.]/[X.], [X.], 13. Aufl., § 88 Rn. 8; [X.]/[X.]/Sonnen, [X.], 7. Aufl., § 88 Rn. 15; [X.] [X.]/Kilian, § 88 Rn. 15 ff.; [X.], Beschluss vom 12. Oktober 2017 - 2 Ws 231/17, juris Rn. 11; [X.], Beschluss vom 17. Dezember 2004 - I Ws 549/04, juris Rn. 5; vgl. für § 21 [X.] aF: [X.], Urteil vom 23. Januar 1958 - 4 StR 664/57, [X.] 1958, 305). Dies bedeutet, dass insbesondere das Alter des Verurteilten sowie die weiteren Umstände, dass die gegen ihn verhängte Jugendstrafe gemäß § 89b [X.] nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollzogen wird und ihre Vollstreckung an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde gemäß § 85 Abs. 6 [X.] abgegeben worden ist, im Rahmen der durch § 88 [X.] eingeräumten Ermessensausübung berücksichtigt werden können; für eine Anwendung des § 57 StGB besteht deshalb kein sachliches Bedürfnis. Vielmehr können die genannten Umstände es im Einzelfall rechtfertigen, an die Regelungen in § 57 StGB angelehnte Erwägungen bei der Ermessensausübung nach § 88 [X.] anzustellen (vgl. dazu grundsätzlich HK-[X.]/[X.], § 88 Rn. 23; [X.]/[X.], [X.], 13. Aufl., § 88 Rn. 8; ablehnend: [X.], [X.], 20. Aufl., § 88 Rn. 18 f.; [X.] [X.]/Kilian, § 88 Rn. 16).

(2) Gegen die Auffassung, die Anwendung des § 57 StGB folge aus der Entscheidung, die Vollstreckung an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abzugeben, sprechen zudem prozessuale Überlegungen. Die Frage der materiellrechtlich maßgeblichen Strafaussetzungsnorm spielt für die Abgabeentscheidung in der Praxis regelmäßig keine Rolle und wird daher in den Entscheidungsgründen nicht thematisiert. Abgesehen davon, dass der Verurteilte nach dieser Ansicht der damit einhergehenden Änderung der materiellen Rechtslage nicht gewahr würde, könnte eine gerichtliche Überprüfung nur nach Maßgabe der §§ 23 ff. [X.] stattfinden; denn der Beschluss gemäß § 85 Abs. 6 [X.] stellt keine beschwerdefähige jugendrichterliche Entscheidung (§ 83 Abs. 1 [X.]) dar, sondern einen Justizverwaltungsakt (vgl. insoweit [X.]/[X.], [X.], 10. Aufl., § 85 Rn. 17; [X.] [X.]/Sengbusch, § 85 Rn. 20; [X.], [X.], 20. Aufl., § 83 Rn. 3; [X.], Beschluss vom 27. August 1996 - 2 [X.], [X.], 53; [X.], Rpfleger 1992, 145, 146). Mit Blick auf die gesetzlich geregelten [X.] gegen [X.] (sofortige Beschwerde, vgl. § 454 Abs. 3 Satz 1 [X.], ausnahmsweise Anfechtbarkeit auch von Entscheidungen der [X.]e, vgl. § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 5 [X.]), ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber die gerichtliche Überprüfung einer - der Ansicht des [X.]s folgend - im späteren Verfahren nicht mehr korrigierbaren Verlängerung der [X.] von einem Drittel auf die Hälfte der Strafzeit der Nachprüfung gemäß den §§ 23 ff. [X.] unterwerfen wollte. Dort ist etwa - im Gegensatz zu § 35a [X.] - eine Rechtsmittelbelehrung nicht vorgesehen (vgl. dazu auch [X.], Rpfleger 1992, 145, 146).

(3) Hinzu kommt, dass § 88 [X.] den zu einer Jugendstrafe Verurteilten - wie der [X.] in anderen Zusammenhängen bereits ausgeführt hat (vgl. [X.], Urteile vom 7. Mai 1980 - 2 StR 10/80, [X.]St 29, 269, 272; vom 12. Oktober 1989 - 4 [X.], [X.]St 36, 270, 274) - bezüglich des frühestmöglichen Zeitpunkts der Prüfung der Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung "ungleich besser" stellt. Diese - jedenfalls abstrakte - Besserstellung ist eine unmittelbare Folge der gesetzlich angeordneten Geltung des [X.]es, die - unabhängig davon, dass im Vollstreckungsverfahren das Verbot der "reformatio in peius" nicht unmittelbar gilt - dem Verurteilten nicht ohne sachlichen Grund wieder genommen werden kann (vgl. dazu auch [X.], Beschluss vom 3. Januar 2012 - 1 Ws 566/11, juris Rn. 21; [X.], Beschluss vom 15. November 2010 - 5 Ws 200/10, juris Rn. 8; [X.], Beschluss vom 13. März 2012 - 2 Ws 59/12, juris Rn. 7).

Dass im konkreten Fall eine Aussetzung zum (in zeitlicher Hinsicht bereits überholten) Drittelzeitpunkt tatsächlich in Betracht kommt, steht damit noch nicht fest.

dd) Auch angesichts der vom [X.] angesprochenen Vorschriften des [X.]es ergibt sich kein Grund, anstelle von § 88 [X.] (gegebenenfalls [X.]. § 110 Abs. 1 [X.]) § 57 StGB anzuwenden. Weder § 89b Abs. 1 [X.] noch § 85 Abs. 6 [X.] sind in diesem Sinne zu verstehen. Dazu im Einzelnen:

(1) Dem jeweiligen Wortlaut ist eine solche Anordnung nicht zu entnehmen. Die Vorschrift des § 89b Abs. 1 [X.] sieht vor, dass "die Jugendstrafe statt nach den Vorschriften für den Jugendstrafvollzug nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollzogen werden" soll. § 85 Abs. 6 [X.], der in Satz 1 die Abgabe der Vollstreckung an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde regelt, bestimmt in Satz 2, dass mit der Abgabe die Vorschriften der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Strafvollstreckung anzuwenden sind.

Die Verwendung des Wortes "vollzogen" - nicht "vollstreckt" - in § 89b [X.] spricht gegen die Annahme, dass die materiellrechtliche Regelung des § 88 [X.] nach der Entscheidung über die Ausnahme vom Jugendstrafvollzug keine Anwendung mehr finden sollte, zumal ausdrücklich die "Jugendstrafe" und nicht etwa eine "Strafe" vollzogen werden soll. Gleiches gilt mit Blick darauf, dass in § 85 Abs. 6 Satz 2 [X.] nur auf die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz verwiesen wird, nicht aber auf das Strafgesetzbuch, welches die - ebenfalls materiellrechtliche - Regelung des § 57 StGB enthält.

Soweit das [X.] zur Entkräftung dieses Wortlautarguments ausgeführt hat, § 57 StGB werde im Wege einer "mittelbaren Verweisung" über § 454 Abs. 1 [X.] in Bezug genommen (so auch: [X.], Beschluss vom 5. April 2011 - 2 Ws 102/11, juris Rn. 6 u. 8; [X.], Beschluss vom 12. November 2008 - 2 Ws 986 - 988/08, juris Rn. 3 u. 6; [X.], Beschluss vom 5. März 2012 - [X.], juris Rn. 6), ist dem nicht zu folgen. Denn in der die Abgabe der [X.] ausdrücklich regelnden Vorschrift des § 85 Abs. 6 [X.] wird gerade nicht auf materiellrechtliche Vorschriften verwiesen. Es spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber das Gegenteil davon durch den pauschalen Verweis auf die Vorschriften der Strafprozessordnung - und damit auch auf § 454 Abs. 1 [X.] - regeln, so gerade nur die §§ 57, 58 StGB in Bezug nehmen und die nach § 1 [X.] bzw. § 110 Abs. 1 [X.] anzuwendende Regelung des § 88 [X.] abbedingen wollte (vgl. auch [X.], Beschluss vom 25. Oktober 2005 - [X.], juris Rn. 16; [X.], Beschluss vom 13. März 2012 - 2 Ws 59/12, juris Rn. 7). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass § 454 Abs. 1 [X.] nach seiner Stellung im Gesamtgefüge der allgemeinen Vorschriften das Verfahren gegen Erwachsene betrifft, ohne auf Besonderheiten des Jugendrechts einzugehen.

(2) Auch aus der Gesetzessystematik ergibt sich kein durchgreifendes Argument für die Anwendung des § 57 StGB. Die Erwägung des [X.]s, aus dem vom Gesetzgeber gewählten Aufbau des 1. Abschnitts des Dritten Hauptstücks des [X.]es folge, dass sich nach den im 1. Unterabschnitt "vorangestellten Regelungen der §§ 82 bis 85 [X.] [...] die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit der [im 2. Unterabschnitt] nachgestellten §§ 86 bis 89b [X.]" bemesse und § 88 [X.] daher nicht anzuwenden sei, weil in § 85 Abs. 6 [X.] nicht auf ihn verwiesen werde, verfängt nicht.

Der Systematik des hier einschlägigen [X.] kann lediglich entnommen werden, dass der 1. Unterabschnitt prozessuale Vorschriften wie etwa [X.] enthält, wohingegen in den ihm folgenden Unterabschnitten vorwiegend materiellrechtliche Regelungen getroffen werden (so auch: [X.], [X.], 737, 742 f.). Soweit in den Regelungen des 1. Unterabschnitts Vorschriften für anwendbar erklärt werden, handelt es sich um Verweisungen auf Normen außerhalb des [X.]es und durchweg nicht auf solche in den nachfolgenden Unterabschnitten. Dies könnte entgegen der Auffassung des [X.]s darauf hindeuten, dass der Gesetzgeber an der durch § 1 [X.] angeordneten Geltung des gesamten [X.]es nichts ändern wollte; jedenfalls lässt sich dieser Umstand nicht dafür anführen, dass gerade § 88 [X.] abbedungen sein sollte.

(3) Die Gesetzgebungsmaterialien und die Gesetzgebungsgeschichte geben keinen Hinweis darauf, dass der [X.] die hier relevante Fragestellung im Blick gehabt hätte. Der Regierungsbegründung lässt sich in ihrer Gesamtheit zwar entnehmen, dass die unterschiedlichen Regelungen in den §§ 88 f. [X.] und §§ 56 f. StGB bekannt waren (BT-Drucks. 11/5829, [X.] [1. Spalte, 2. Absatz]), ein konkreter Hinweis darauf, welche dieser Vorschriften in welchen Konstellationen angewandt werden sollten, findet sich allerdings an keiner Stelle.

Den Ausführungen in der Regierungsbegründung zufolge sieht der Entwurf in § 85 Abs. 6 [X.] "die Möglichkeit der Abgabe der [X.] an die nach allgemeinem Recht zuständigen Vollstreckungsbehörden vor" (BT-Drucks. 11/5829, [X.]). Auch mit der Einführung des § 89a Abs. 3 [X.] sollte (lediglich) die "Abgabe der [X.] an die allgemeinen Vollstreckungsbehörden" zur Herstellung einer "einheitliche[n] Zuständigkeit" für Entscheidungen über Unterbrechung und Aussetzung der Strafvollstreckung ermöglicht werden (BT-Drucks. 11/5829, [X.]). Da es in beiden Passagen allein um die Änderung der Zuständigkeit geht, ist daraus nicht zu schließen, dass damit auch ein Wechsel der anzuwendenden materiellrechtlichen Bestimmungen mit der Folge der Anwendbarkeit von § 57 StGB einhergehen sollte (so auch: [X.], [X.], 526; [X.], NStZ 2010, 95 f.; [X.], [X.], 737, 742; [X.], Jura 1997, 72, 77; aA [X.], NStZ 2002, 182, 186). Entgegen der Auffassung des [X.]s spricht daher auch der Umstand, dass in den Materialien nicht ausdrücklich die Fortgeltung des § 88 [X.] erwähnt wurde, nicht für eine Anwendbarkeit von § 57 StGB (so aber [X.], Beschluss vom 5. März 2012 - [X.], juris Rn. 6).

2. Die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen, da dieses infolge der Verwerfung des Antrags als unzulässig noch keine Sachentscheidung getroffen hat (vgl. MüKo[X.]/[X.], § 309 Rn. 34; [X.] [X.]/[X.], § 309 Rn. 16; vgl. auch [X.], Beschluss vom 8. Oktober 2012 - StB 9/12, [X.], 16, 18). Eine eigene Sachentscheidung wäre dem Senat im Übrigen schon deswegen nicht möglich, weil die schriftlichen Gründe des am 11. Juli 2018 verkündeten und betreffend den Verurteilten bereits seit dem 17. Januar 2019 rechtskräftigen Urteils noch nicht vorliegen.

III. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die vom [X.] in seiner Stellungnahme vom 15. November 2019 unter Ziffer 2.b) aufgeworfenen Gesichtspunkte der Generalprävention und der Verteidigung der Rechtsordnung vor dem Hintergrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls, insbesondere des Alters des Verurteilten im Urteilszeitpunkt und der - dem Senat allerdings nicht bekannten - Erwägungen bei der Festsetzung der Art und Höhe der verhängten [X.], im Rahmen der Ausübung des durch § 88 [X.] eingeräumten Ermessens (vgl. oben unter Ziff. [X.])[X.])) berücksichtigt werden können.

[X.]

Meta

StB 2/20

04.02.2020

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

vorgehend OLG München, 27. November 2019, Az: 6 St 1/19

§ 85 Abs 6 S 1 JGG, § 88 JGG, § 89b JGG, § 105 Abs 1 JGG, § 57 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.02.2020, Az. StB 2/20 (REWIS RS 2020, 624)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 624


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. StB 2/20

Bundesgerichtshof, StB 2/20, 04.02.2020.


Az. 6 St 1/19

OLG München, 6 St 1/19, 24.08.2020.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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3 StR 452/18

3 StR 214/15

3 StR 417/15

2 Ws 33/15

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