Bundessozialgericht, Urteil vom 12.10.2017, Az. B 4 AS 34/16 R

4. Senat | REWIS RS 2017, 3999

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Absenkung des Arbeitslosengeld II - Aushändigung von Lebensmittelgutscheinen - eigenständiger Verwaltungsakt - Leistungsnachzahlung nach Rücknahme der Sanktion - keine Anrechnung des Wertes der Gutscheine bei alleiniger Aufhebung der Sanktionsbescheide


Leitsatz

Die Aushändigung von Lebensmittelgutscheinen als Sachleistung im Fall einer Sanktion stellt den Erlass eigenständiger Verwaltungsakte dar, sodass bei Rücknahme der Sanktion eine Anrechnung des Wertes der Gutscheine auf den Auszahlungsanspruch nicht in Betracht kommt, solange diese Verwaltungsakte wirksam sind.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 30. August 2016 aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des [X.] vom 29. Januar 2013 zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten im Berufungs- und Revisionsverfahren zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Auszahlung weiterer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] für die Monate April und Mai 2010. Im Streit ist die Anrechnung von Gutscheinen für Lebensmittel auf den Zahlungsanspruch.

2

Der Beklagte hatte dem Kläger ua für den streitbefangen Zeitraum, in dem dieser unter Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt für die Vermögenssorge stand, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] bewilligt. Der Betreuer hatte einer Überweisung auf das Konto des [X.] zugestimmt. Für die Monate April und Mai 2010 erbrachte der Beklagte zunächst keine Regelleistungen, weil er wegen Pflichtverletzungen des [X.] diesen Anspruch um 100 % gemindert und die ursprüngliche Bewilligungsentscheidung insoweit aufgehoben hatte (Sanktionsbescheide vom [X.]). Auf persönliche Vorsprache waren dem Kläger "Sachleistungen in Form von Gutscheinen" für "Lebensmittel ohne alkoholische Getränke" (im Folgenden: Gutscheine) durch die Aushändigung entsprechender Schreiben zuerkannt worden mit einem Nennwert von 131 Euro für April und 85 Euro für Mai 2010, im Einzelnen am [X.] im Wert von 53 Euro, am 16.4.2010 im Wert von 25 Euro, am 26.4.2010 im Wert von 53 Euro, am [X.] im Wert von 45 Euro und am 17.5.2010 im Wert von 40 Euro.

3

Nach Rücknahme der Sanktionsbescheide überwies der Beklagte auch die Regelleistung für April und Mai, allerdings abzüglich der in den Gutscheinen genannten Beträge in Höhe von 216 Euro. Der Kläger forderte den Beklagten erfolglos auf, ihm auch diese Beträge auszuzahlen.

4

Mit seiner Klage hat der Kläger die Zahlung von je 131 Euro für die Monate April und Mai 2010 begehrt. Das [X.] hat den Beklagten verurteilt, von den bewilligten Leistungen für April 2010 weitere 131 Euro sowie für Mai 2010 weitere 85 Euro an den Kläger auszuzahlen und im Übrigen die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom [X.]). Der Anspruch des [X.] sei nicht bereits teilweise durch die Gewährung der Gutscheine erfüllt, denn es handele sich hierbei um eine der Art nach andere Leistung.

5

Das L[X.] hat auf die Berufung des Beklagten den Gerichtsbescheid aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen (Urteil vom [X.]). Der Wert der eingelösten Gutscheine sei als Leistung des Beklagten an den Kläger an [X.] statt (§ 364 Abs 1 BGB) anzusehen, die dieser angenommen habe. Diese [X.]wirkung sei nicht wegen der Betreuung gehindert, weil eine konkludente Einwilligung des Betreuers anzunehmen sei.

6

Mit seiner vom L[X.] zugelassenen Revision macht der Kläger eine Verletzung von § 1903 BGB und § 364 Abs 1 BGB geltend. Aus der Einwilligung des Betreuers in die Auszahlung der Sozialleistung auf das Konto eines Betreuten folge nicht eine konkludente Einwilligung in die Erbringung einer anderen Leistungsform als der geschuldeten Leistung. Zudem sei die entsprechende Anwendbarkeit von § 364 Abs 1 BGB im Bereich des [X.] grundsätzlich zweifelhaft.

7

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom [X.] aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des [X.] vom [X.] zurückzuweisen.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er hält das Urteil des L[X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des [X.] ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 [X.]G). Das Urteil des [X.] vom [X.] ist aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid vom [X.] zurückzuweisen. Das [X.] hat den Beklagten zu Recht verurteilt, für April 2010 weitere 131 Euro und für Mai 2010 weitere 85 Euro auszuzahlen.

Die allein auf die Zahlung eines Geldbetrages gerichtete [X.]lage ist als (echte) Leistungsklage zulässig. Nach § 54 Abs 5 [X.]G kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Ein solcher Fall liegt hier vor, denn nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des [X.] hat der Beklagte durch bindenden Verwaltungsakt einen Zahlungsanspruch des [X.] begründet, den er in Höhe des noch geltend gemachten Betrags von 131 Euro für den Monat April 2010 und 85 Euro für Mai 2010 nicht durch eine Auszahlung an den [X.]läger erfüllt hat. In einem solchen Fall bedarf es keines weiteren Verwaltungsaktes; die Leistung kann unmittelbar durch [X.]lage geltend gemacht werden (vgl Bieresborn in [X.]/[X.], [X.]G, 1. Aufl 2014, § 54 RdNr 186; Söhngen in [X.]/Voelzke, jurisP[X.]-[X.]G, 1. Aufl 2017, § 54 RdNr 71).

Entgegen der Auffassung des [X.] ist dieser Zahlungsanspruch noch nicht durch den Beklagten befriedigt worden. Dem steht entgegen, dass die Aushändigung der Gutscheine an den [X.]läger den Erlass eigenständiger Verwaltungsakte darstellt, die als Rechtsgrund fortbestehen. Eine Anrechnung des Wertes dieser Gutscheine auf den Zahlungsanspruch des [X.] für die Monate April und Mai 2010 kommt schon deshalb nicht in Betracht. Auf die Anwendung zivilrechtlicher Bestimmungen zur Erfüllung von Leistungsansprüchen im vorliegenden sozialrechtlichen Regelungszusammenhang (vgl B[X.] vom [X.] - 5 RJ 52/94 - B[X.]E 80, 41, 42 f = [X.] 3-2200 § 1303 [X.]; B[X.] vom 17.12.2013 - [X.] [X.] 13/12 R - B[X.]E 115, 106 = [X.] 4-4300 § 143a [X.], Rd[X.]2; vgl auch B[X.] vom 23.5.2017 - B 12 [X.]R 2/15 R - zur Veröffentlichung in [X.] 4 vorgesehen, RdNr 17) kommt es nicht an.

Nach § 31 Abs 3 Satz 6 [X.]B II (in der bis zum [X.] geltenden Fassung des [X.] zur Änderung des [X.]B II vom 10.10.2007 - [X.]), der 2010 anwendbar war (vgl zur weiteren Anwendbarkeit auch § 77 Abs 12 [X.]B II), konnten im Falle der Minderung des [X.] um mehr als 30 % ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen dem von einer Sanktionsentscheidung Betroffenen zur Sicherung seines absolut unerlässlichen Existenzminimums erbracht werden. Diese Regelung ist inhaltsgleich ab 1.4.2011 in § 31a Abs 3 Satz 1 [X.]B II (eingefügt durch das Gesetz zur Ermittlung von [X.] und zur Änderung des [X.] und [X.] vom 24.3.2011 - [X.]) enthalten. Soweit solche ergänzenden Leistungen in Form von Gutscheinen erbracht werden, sind sie als Sachleistung anzusehen (allg Auffassung, vgl [X.] in [X.]/[X.], [X.]B II, [X.] § 4 RdNr 63, Stand I/13; S. [X.]nickrehm in Gagel, [X.]B II/[X.]B III, § 4 [X.]B II Rd[X.]5 f, Stand Oktober 2016; [X.] in LP[X.]-[X.]B II, 6. Aufl 2017, § 4 RdNr 6 f; [X.]emper in Eicher/[X.], [X.]B II, 4. Aufl 2017, § 4 RdNr 14 ff) und setzen - wenn der Leistungsträger nicht von sich aus tätig geworden ist - einen entsprechenden Antrag voraus, was in § 31a Abs 3 Satz 1 [X.]B II jetzt auch ausdrücklich geregelt ist (vgl dazu nur [X.] in LP[X.]-[X.]B II, 6. Aufl 2017, § 31a RdNr 40 ff; [X.]nickrehm/[X.] in Eicher/[X.], [X.]B II, 4. Aufl 2017, § 31a RdNr 37 ff).

Die Entscheidung über einen solchen Antrag hat, schon weil es sich - abgesehen von den in § 31a Abs 3 Satz 2 [X.]B II geregelten Fällen mit minderjährigen [X.]indern im Haushalt - um eine Ermessensentscheidung handelt, in der Form des Verwaltungsakts zu erfolgen. Ein Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist (§ 31 Satz 1 [X.]B X). Dem entspricht die Vorgehensweise des Beklagten im vorliegenden Fall. Auf die persönlichen Vorsprachen des [X.], die jeweils als Antragstellung anzusehen sind, hat er als Behörde, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung iS von § 1 Abs 2 [X.]B X wahrnimmt, dem [X.]läger Schreiben über die "Gewährung von Sachleistungen in Form von Gutscheinen" ausgehändigt (so die Überschrift) für "Lebensmittel ohne alkoholische Getränke", die dem [X.]läger von [X.] auf [X.]osten der Beklagten "auszuführen" seien. Enthalten waren zudem "Wichtige Hinweise für den Lieferanten" zur Übertragbarkeit, zeitlichen Geltung und weiteren Abwicklungsfragen. Durch diese Schreiben ist der Beklagte iS von § 31 Satz 1 [X.]B X unter Anwendung des dem öffentlichen Recht zuzuordnenden [X.]B II im Einzelfall des [X.] und mit Rechtswirkung für den [X.]läger - und damit "nach außen" - hoheitlich tätig geworden. Die Zuerkennung von Sachleistungen in Form von Gutscheinen enthält auch eine Regelung. Diese liegt in der für den [X.]läger konkretisierten Rechtsfolge, sich in einem bestimmten Umfang Lebensmittel auf [X.]osten des Beklagten verschaffen zu können (näher zur Sachleistung in Form der Sachleistungsverschaffung B[X.] vom 28.10.2008 - [X.] [X.] 22/07 R - B[X.]E 102, 1 = [X.] 4-1500 § 75 [X.], RdNr 17; vgl zum Regelungsbegriff B[X.] vom 9.6.2017 - [X.] [X.] 6/16 R - vorgesehen für B[X.]E und [X.], RdNr 17).

Das Berufungsgericht hat zwar nicht festgestellt, ob und ggf in welchem Umfang der [X.]läger die ihm mit diesen Verwaltungsakten eingeräumten Rechte in Anspruch genommen hat. Doch gibt es andererseits keine Anhaltpunkte dafür, dass sich die in den Gutscheinen zu sehenden Verwaltungsakte etwa durch Rücknahme oder Aufhebung (vgl § 39 Abs 2 [X.]B X) erledigt haben könnten. Sie sind deshalb weiterhin wirksam iS von § 39 Abs 1 [X.]B X. Sollte der [X.]läger tatsächlich Sachleistungen erhalten haben, wären hierfür die ausgehändigten Gutscheine und nicht andere Bescheide des Beklagten über [X.] (weiterhin) die Rechtsgrundlage.

Ob und unter welchen Voraussetzungen der Beklagte nach Rücknahme der Sanktionsbescheide, die Voraussetzung für die Erteilung der Gutscheine waren, auch die darauf bezogenen Verwaltungsakte aufheben oder zurücknehmen kann, hatte der [X.] nicht zu entscheiden. Daraus resultierende Erstattungsansprüche wären allerdings, soweit sie sich auf die Erstattung von Sachleistungen richten, gemäß § 50 Abs 1 Satz 2 [X.]B X bzw § 40 Abs 6 [X.]B II (der § 40 Abs 3 [X.]B II in der vom 1.4.2011 bis 31.7.2016 geltenden Fassung entspricht) in Geld zu erstatten.

Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob die Annahme einer Leistung an [X.] statt hier mit einer stillschweigenden Einwilligung des Betreuers - wie es das [X.] angenommen hat - erfolgt ist (zur zivilrechtlichen Rechtslage vgl [X.] vom [X.] - XI ZR 234/14 - juris; zur Entgegennahme von Sozialleistungen im Fall einer Betreuung [X.] Marburg vom 1.2.2016 - S 2 [X.] 32/14 - juris, RdNr 16). Der persönlichen Antragstellung des [X.], gerichtet auf die Erteilung der Gutscheine, stand die Betreuung jedenfalls nicht entgegen, da diese für den [X.]läger lediglich einen rechtlichen Vorteil brachte und er insoweit deshalb in seiner Handlungsfähigkeit nicht beschränkt war (§ 11 Abs 2 [X.]B X; § 1903 Abs 3 Satz 1 BGB).

Die [X.]ostenentscheidung beruht auf § 193 [X.]G.

Meta

B 4 AS 34/16 R

12.10.2017

Bundessozialgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Neubrandenburg, 29. Januar 2013, Az: S 15 AS 1535/10, Gerichtsbescheid

§ 31 Abs 3 S 6 SGB 2 vom 10.10.2007, § 40 Abs 3 S 1 SGB 2 vom 13.05.2011, § 40 Abs 6 S 1 SGB 2, § 50 Abs 1 S 2 SGB 10

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 12.10.2017, Az. B 4 AS 34/16 R (REWIS RS 2017, 3999)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 3999

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

L 11 AS 163/16 (LSG München)

Wiederholte Pflichtverletzung, Sanktionsbescheid, Gerichtsbescheid, Widerspruchsbescheid, Eingliederungsvereinbarung, Vermittlungsvorschlag


L 11 AS 163/16 (LSG München)

Sanktion wegen Nichtbewerbung auf Vermittlungsvorschlag.


L 11 AS 162/16 (LSG München)

Wiederholte Pflichtverletzung, Sanktionsbescheid, Gerichtsbescheid, Widerspruchsbescheid, Eingliederungsvereinbarung, Ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung


L 11 AS 162/16 (LSG München)

Kein Anspruch auf Alg II bei wiederholter Pflichtverletzung


B 14 AS 20/14 R (Bundessozialgericht)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

XI ZR 234/14

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.