Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.03.2017, Az. III R 32/15

3. Senat | REWIS RS 2017, 14031

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Gegenstand

Kindergeldberechtigung von Unionsbürgern - Feststellung der fehlenden Freizügigkeit nur durch die Ausländerbehörden


Leitsatz

Die Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt --auch hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung-- allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen. Erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU benötigt der Unionsbürger gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz, will er sich weiterhin legal in Deutschland aufhalten und Kindergeld beanspruchen.

Tenor

Auf die Revision des [X.] werden das Urteil des [X.] vom 22. April 2015  12 K 12140/13 und die [X.] der Beklagten vom 7. Juni 2013 sowie ihre Ablehnungsbescheide vom 1. Februar 2013 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, Kindergeld für die Tochter des [X.] für den Zeitraum März 2010 bis April 2012 und den [X.] des [X.] für Januar 2011 bis April 2012 festzusetzen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

[X.]er Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist [X.] Staatsbürger und wohnt seit dem 18. März 2010 mit seiner im Januar 2004 geborenen [X.]ochter ([X.]) in [X.], für die er im November 2010 bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) die Gewährung von Kindergeld beantragte. Im Antragsformular teilte er mit, er sei weder unselbständig noch selbständig erwerbstätig und auch nicht in der Bundesrepublik [X.]eutschland ([X.]eutschland) sozialversichert. [X.]ie Familienkasse erbat daraufhin vom Kläger ohne Erfolg die Vorlage weiterer Unterlagen sowie die Auskunft, wovon er seit seiner Einreise seinen Lebensunterhalt bestreite.

2

Im Januar 2011 wurde der [X.] (S) des [X.] geboren, für den er im Februar 2011 ebenfalls Kindergeld beantragte. Auf eine erneute Nachfrage der Familienkasse teilte die Ehefrau des [X.] im März 2011 mit, dass ihre Schwiegermutter für den Unterhalt der Familie sorge. [X.]ie Schwiegermutter betreibe ein Gewerbe als Raumpflegerin. [X.]er Kläger, sie [X.], die beiden Kinder sowie die Mutter des [X.] wohnten zu fünft in einer Einzimmerwohnung mit ca. 37 qm Wohnfläche, deren Hauptmieterin die Mutter des [X.] sei.

3

Am 22. Mai 2012 erhielt der Kläger eine Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern a.F. ([X.]/[X.]). [X.]ie Familienkasse setzte daraufhin für beide Kinder Kindergeld ab Mai 2012 fest und lehnte zugleich den Antrag für die [X.]ochter für den Zeitraum März 2010 bis April 2012 und für den [X.] von Januar 2011 bis April 2012 unter Hinweis auf die seinerzeit noch fehlende Freizügigkeitsbescheinigung ab.

4

Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. [X.]as Finanzgericht (FG) entschied, ein etwaiges Recht auf Freizügigkeit bestehe unabhängig von der Erteilung einer entsprechenden Bescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 [X.]/[X.] (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2015, 1457). [X.]ie Bescheinigung wirke lediglich deklaratorisch, da sich das Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebe. § 13 [X.]/[X.] i.V.m. den besonderen Bedingungen in der Übergangsphase bis zum 31. [X.]ezember 2013 für Staatsbürger der beitretenden [X.] [X.] und [X.] beschränke das Freizügigkeitsrecht nur für Arbeitnehmer (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 [X.]/[X.]). Ein Freizügigkeitsrecht könne deshalb auch in der Übergangsphase auf einen der in § 2 Abs. 2 Nrn. 2 bis 7 [X.]/[X.] genannten [X.]atbestände gestützt werden. [X.]azu habe der Kläger aber nichts vorgetragen und damit seine Mitwirkungspflicht verletzt. Als nicht erwerbstätiger Unionsbürger wäre er gemäß § 4 [X.]/[X.] nur unter der weiteren Voraussetzung ausreichenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel freizügigkeitsberechtigt gewesen. [X.]as Freizügigkeitsrecht eines Unionsbürgers könne im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch auch nicht ohne weiteres unterstellt werden.

5

Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor, das [X.] widerspreche dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 2013 B 4 AS 54/12 R ([X.], 60), wonach sich [X.] Unionsbürger in der Übergangszeit bis zum 31. [X.]ezember 2013 auf eine europarechtliche Freizügigkeitsvermutung stützen könnten, die fortbestehe, bis der [X.] durch nationalen Rechtsakt festgestellt habe, dass Bedingungen [X.] 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der [X.] (A[X.]V) nicht erfüllt seien.

6

[X.]er Kläger beantragt sinngemäß,
das [X.] sowie die Ablehnungsbescheide vom 1. Februar 2013 und die [X.] vom 7. Juni 2013 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für seine [X.]ochter [X.] für den Zeitraum März 2010 bis April 2012 und für seinen [X.] S für Januar 2011 bis April 2012 festzusetzen.

7

[X.]ie Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Sie trägt vor, bei Staatsangehörigen der [X.] der [X.] ([X.]) sei grundsätzlich von der [X.] auszugehen. Bei Zweifeln am Vorliegen der Voraussetzungen der [X.] seien diese jedoch unabhängig davon zu prüfen, ob die Ausländerbehörde die Freizügigkeit nach § 6 [X.]/[X.] aberkannt habe.

Entscheidungsgründe

II.

9

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des [X.] und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Unrecht entschieden, dass der Kläger vor Erteilung der Freizügigkeitsbescheinigung als nicht freizügigkeitsberechtigt zu behandeln war und daher wegen § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kein Kindergeld beanspruchen kann.

1. Der Kläger erfüllt --abgesehen von der [X.] unstreitig die Voraussetzungen für die Festsetzung von Kindergeld für seine beiden Kinder: Er hat mit seinen beiden Kindern einen gemeinsamen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 63 Abs. 1 EStG) und er ist aufgrund der Zustimmung seiner Ehefrau der berechtigte Elternteil (§ 64 Abs. 2 EStG).

2. Der Kläger ist --entgegen der Auffassung des [X.]-- auch freizügigkeitsberechtigter Ausländer und unterliegt deshalb nicht den Einschränkungen des § 62 Abs. 2 EStG.

a) Das [X.] ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger als [X.] Staatsbürger im Streitzeitraum innerhalb der [X.] freizügigkeitsberechtigt war. Es hat weiter zutreffend erkannt, dass die Bundesregierung in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 3 des Vertrages zwischen den Mitgliedstaaten der [X.] und der [X.] und [X.] (Amtsblatt der [X.] vom 21. Juni 2005, Nr. L 157, S. 11) und abweichend von den Art. 1 bis 6 der Verordnung ([X.]) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der [X.] bis zum 31. Dezember 2013 eine Beschäftigung von [X.] und [X.] Staatsangehörigen nach § 284 des [X.] ([X.]) von einer Genehmigung der [X.] abhängig gemacht hat. Dem trägt § 13 [X.]/[X.] Rechnung, wonach das [X.]/[X.] für diesen Zeitraum Anwendung finden soll, wenn die Beschäftigung durch die [X.] gemäß § 284 Abs. 1 SGB III genehmigt wurde.

b) Diese Einschränkung bewirkt aber nicht, dass ein Unionsbürger bei fehlender arbeitsrechtlicher Genehmigung als nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer zu behandeln ist. Denn jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

Für Angehörige eines Mitgliedsstaates gilt gemäß Art. 21 Abs. 1 A[X.]V ein von der [X.] unabhängiges Freizügigkeitsrecht, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt und aus dem sich ein Aufenthaltsrecht ergibt. Dieses unmittelbar anwendbare subjektiv-öffentliche Recht steht den Unionsbürgern, und zwar auch den Angehörigen der [X.], die hinsichtlich des Zuganges zum Arbeitsmarkt Beschränkungen unterlagen, unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zu (Senatsbeschluss vom 27. April 2015 III B 127/14, [X.], 519, [X.], 901). Das Aufenthaltsrecht entfällt auch bei Angehörigen der zum 1. Januar 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten [X.] und [X.] allein durch einen Verwaltungsakt nach § 5 Abs. 5, § 6 und § 7 [X.]/[X.] ([X.] in [X.], 60, Rz 20, betreffend Sozialhilfe für Schwangere; Siegers, [X.] 2015, 953; [X.], [X.] 2015, 358).

Die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit besteht zudem auch nach [X.] Recht nicht nur für Arbeitnehmer, die einer Genehmigung bedürfen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1, § 13 [X.]/[X.] i.V.m. § 284 [X.]), sondern nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 ff. [X.]/[X.] auch für niedergelassene selbständige Erwerbstätige, Empfänger von Dienstleistungen, Familienangehörige usw. Die förmliche Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt dabei allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen. Erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 [X.]/[X.] fände gemäß § 11 Abs. 2 [X.]/[X.] das [X.] Anwendung, so dass der Unionsbürger einen Aufenthaltstitel nach dem [X.] benötigt, will er sich weiterhin legal in [X.] aufhalten und Kindergeld beanspruchen (§ 62 Abs. 2 EStG). An einer derartigen Entscheidung der Ausländerbehörde fehlte es hier.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

III R 32/15

15.03.2017

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 22. April 2015, Az: 12 K 12140/13, Urteil

§ 62 Abs 2 EStG 2009, § 2 FreizügG/EU, § 11 Abs 2 FreizügG/EU, Art 21 Abs 1 AEUV, EStG VZ 2010, EStG VZ 2011, EStG VZ 2012

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.03.2017, Az. III R 32/15 (REWIS RS 2017, 14031)

Papier­fundstellen: NJW 2017, 2640 REWIS RS 2017, 14031

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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