Bundesfinanzhof, Beschluss vom 24.04.2012, Az. III B 180/11

3. Senat | REWIS RS 2012, 6993

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Gegenstand

Änderung der Lohnsteuerklasse eingetragener Lebenspartner - Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Ablehnung durch AdV oder einstweilige Anordnung


Leitsatz

1. NV: Der Senat neigt zu der Ansicht, dass vorläufiger Rechtsschutz gegen die Ablehnung der Änderung der Lohnsteuerklasse durch AdV zu gewähren ist. Ein gerichtlicher Aussetzungsantrag ist dann unzulässig, wenn die Zugangsvoraussetzungen des § 69 Abs. 4 FGO nicht erfüllt sind .

2. NV: Sollte der vorläufige Rechtsschutz stattdessen durch eine einstweilige Anordnung zu gewähren sein, so ist ein Anordnungsgrund gegeben, wenn die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Betroffenen durch die Ablehnung bedroht wäre. Liquiditätsnachteile und Zinsnachteile, eine vorübergehende Einschränkung des Lebensstandards sowie die Beschränkung des vorläufigen Rechtsschutzes im nachfolgenden Veranlagungsverfahren durch § 69 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 8 FGO sind keine Anordnungsgründe. Die Erfolgsaussichten der den Ausschluss eingetragener Lebenspartner vom Splittingtarif betreffenden Verfassungsbeschwerdeverfahren sind insoweit ohne Bedeutung .

Tatbestand

1

I. Die Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) haben im September 2002 eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründet. Sie sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig und leben nicht dauernd getrennt. Der Antragsteller zu 1. erzielt Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und der Antragsteller zu 2. ist Rentner. Am 1. April 2011 beantragten beide, auf der [X.] Lohnsteuerkarte 2010 des Antragstellers zu 1. die [X.] und auf der [X.] Lohnsteuerkarte 2010 des Antragstellers zu 2. die Lohnsteuerklasse V einzutragen. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt --[X.]--) lehnte diesen Antrag mit Schreiben vom 4. April 2011 ab. Über den dagegen eingelegten Einspruch hat das [X.] noch nicht entschieden.

2

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verpflichtete das [X.], mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011 die Lohnsteuerkarte 2010 des Antragstellers zu 1. hinsichtlich der Lohnsteuerklasse dahin zu ändern, dass die [X.] eingetragen wird, und auf der Lohnsteuerkarte 2010 des Antragstellers zu 2. die Lohnsteuerklasse V einzutragen.

3

Zur Begründung seiner Beschwerde trägt das [X.] vor, der Antrag auf einstweilige Anordnung (§ 114 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) sei nicht statthaft. Die Antragsteller hätten Aussetzung der Vollziehung (AdV) beantragen müssen, für einen Antrag auf AdV habe es jedoch an den Zugangsvoraussetzungen des § 69 Abs. 4 FGO gefehlt. Der Antrag auf einstweilige Anordnung sei zudem unbegründet, weil den Antragstellern durch einen vorläufig zu hohen Lohnsteuerabzug keine wesentlichen Nachteile entstünden.

Entscheidungsgründe

4

II. Die Beschwerde ist begründet, sie führt zur Aufhebung des [X.] und zur Ablehnung des Antrags auf Änderung der Lohnsteuerklassen.

5

1. Der Senat hat in seinem Beschluss vom 8. Juni 2011 [X.]/10 ([X.]NV 2011, 1692) offen gelassen, ob vorläufiger Rechtsschutz für die Änderung der Eintragung der Steuerklasse in der Lohnsteuerkarte nach § 69 Abs. 3 [X.]O im Wege der [X.] oder nach § 114 [X.]O im Wege der einstweiligen Anordnung zu gewähren ist. Im Streitfall braucht diese Frage wiederum nicht entschieden zu werden, denn das [X.] hätte den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für die Änderung der Lohnsteuerklassen in jedem Fall ablehnen müssen.

6

2. Geht man mit dem [X.] davon aus, dass vorläufiger Rechtsschutz bei Ablehnung der Änderung der Steuerklasse im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 114 [X.]O zu gewähren ist (so noch der Beschluss des [X.] --BFH-- vom 3. August 1990 [X.]/88, [X.]NV 1991, 242), so ist der Antrag jedenfalls unbegründet, da die Antragsteller keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht haben.

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a) Gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 [X.]O kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung für einen erfolgreichen Antrag ist, dass der Antragsteller sowohl einen Grund für die zu treffende Regelung (sog. Anordnungsgrund) als auch den Anspruch, aus dem er sein Begehren herleitet (sog. Anordnungsanspruch), schlüssig dargelegt und deren tatsächliche Voraussetzungen glaubhaft gemacht hat (§ 114 Abs. 3 [X.]O i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Fehlt es an einer der beiden Voraussetzungen, kann die einstweilige Anordnung nicht ergehen (z.B. [X.] vom 22. Dezember 2006 [X.], [X.], 38, [X.], 839).

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b) Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Betroffenen durch die Ablehnung der beantragten Maßnahme unmittelbar bedroht ist ([X.] vom 25. November 1988 [X.], [X.]NV 1989, 520). Die für den Erlass einer Anordnung geltend gemachten Gründe müssen ähnlich gewichtig und bedeutsam sein wie die im Gesetz ausdrücklich genannten ("wesentliche Nachteile" und "drohende Gewalt"), über die üblicherweise mit der Zahlung von Steuern verbundenen Nachteile hinausgehen und eine einstweilige Anordnung unabweisbar machen (z.B. [X.] in [X.], 38, [X.], 839; vom 12. Mai 1992 [X.]/91, [X.]NV 1994, 103). Liquiditäts- und [X.] durch einen möglicherweise überhöhten Abzug von Lohnsteuern, die erst nach einem Obsiegen im Hauptsacheverfahren erstattet werden, eine deshalb notwendige Kreditaufnahme oder eine vorübergehende Einschränkung des gewohnten Lebensstandards sind --für sich allein gesehen-- keine Anordnungsgründe ([X.] vom 22. April 1991 [X.] 537/90, [X.]NV 1992, 118; vom 19. September 1991 [X.], [X.]NV 1992, 321; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 114 [X.]O Rz 29; Lange in [X.]/[X.]/[X.], § 114 [X.]O Rz 80).

9

Derartige gewichtige Gründe haben die Antragsteller weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht; eine Bedrohung ihrer wirtschaftlichen oder persönlichen Existenz ist angesichts der aus den vorgelegten Akten ersichtlichen Einkommensverhältnisse des Jahres 2009 auch nicht naheliegend.

c) Der erforderliche Anordnungsgrund folgt auch nicht daraus, dass die Antragsteller im nachfolgenden Veranlagungsverfahren vorläufigen Rechtsschutz hinsichtlich der dann streitigen Beträge wegen der Beschränkung in § 69 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 8 [X.]O nur erlangen könnten, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich sein sollte (Senatsbeschluss in [X.]NV 2011, 1692).

d) Das Maß der Erfolgsaussichten des Anordnungsanspruchs (hier einer lohnsteuerrechtlichen Gleichbehandlung von Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften) ist ohne Bedeutung für den Anordnungsgrund, d.h. die Erforderlichkeit einer einstweiligen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, drohender Gewalt oder anderer gewichtiger Gründe. Ob ein Anordnungsanspruch besteht, ist daher im Streitfall ebenso unerheblich wie die Wahrscheinlichkeit, dass das [X.] ([X.]) in den die Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses der in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebenden Steuerpflichtigen vom [X.] betreffenden Verfahren 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 [X.] zu Gunsten der Beschwerdeführer entscheiden wird.

e) Da es bereits am Anordnungsgrund mangelt, kommt es auch nicht darauf an, ob der begehrten Änderung der Lohnsteuerklassen im Wege vorläufigen Rechtsschutzes auch entgegen stehen würde, dass deren Folgen im Falle einer Entscheidung des [X.] zu Lasten der Antragsteller nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Da eine Änderung des [X.]s nach der Übermittlung oder Ausschreibung der Lohnsteuerbescheinigung nicht mehr erfolgen darf (§ 41c Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes --EStG--, § 42b Abs. 3 EStG) und eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren der Antragsteller bis dahin ausgeschlossen erscheint, könnte der mit einer "vorläufigen" Eintragung der [X.] erlangte Vorteil des Antragstellers zu 1. nur noch durch ein Veranlagungsverfahren wieder beseitigt werden, das indessen nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG von einem entsprechenden Antrag des Antragstellers abhängig wäre, wenn er lediglich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielt hätte.

3. Sollte vorläufiger Rechtsschutz gegen die Ablehnung der Änderung der Steuerklasse dagegen --wozu der Senat neigt- ebenso wie bei Ablehnung der Eintragung eines Freibetrags (vgl. die Nachweise im Senatsbeschluss in [X.]NV 2011, 1692) durch [X.] nach § 69 Abs. 3 [X.]O zu gewähren sein, so ist der Antrag unzulässig, weil die Finanzbehörde weder zuvor einen bei ihr gestellten Aussetzungsantrag abgelehnt hat (§ 69 Abs. 4 Satz 1 [X.]O) noch die Voraussetzungen des § 69 Abs. 4 Satz 2 [X.]O erfüllt sind.

4. Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 [X.]O bis zur Entscheidung des [X.] in den bei ihm anhängigen Verfahren 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 [X.] kommt nicht in Betracht. Zur Begründung verweist der Senat auf seinen Beschluss in [X.]NV 2011, 1692. Da der [X.] für das Kalenderjahr 2011 jedenfalls nach der Lohnabrechnung für März 2012 nicht mehr geändert werden kann, verliert die Änderung der Lohnsteuerkarte für 2011 zudem spätestens zu diesem Zeitpunkt ihre rechtliche Bedeutung. Damit entfiele auch das Rechtsschutzbedürfnis für den begehrten einstweiligen Rechtsschutz (Senatsbeschluss vom 30. Dezember 2010 [X.]/09, [X.]NV 2011, 786).

Meta

III B 180/11

24.04.2012

Bundesfinanzhof 3. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 16. Mai 2011, Az: 9 V 1339/11, Beschluss

§ 38b EStG 2009, § 69 Abs 3 S 4 FGO, § 114 FGO, § 69 Abs 2 S 8 FGO, § 69 Abs 4 FGO, § 69 Abs 3 S 1 FGO, § 69 Abs 2 S 2 FGO, LPartG, § 26 EStG 2009, § 26b EStG 2009

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 24.04.2012, Az. III B 180/11 (REWIS RS 2012, 6993)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6993

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