Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.09.2023, Az. IV ZR 163/22

4. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 7728

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Tenor

Der Senat beabsichtigt, die Revision gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des [X.] vom 5. Januar 2022 gemäß § 552a Satz 1 ZPO auf Kosten der Klägerin zurückzuweisen.

Die Parteien erhalten Gelegenheit, hierzu binnen

eines Monats

Stellung zu nehmen.

Gründe

1

I. Die Klägerin begehrt Rückabwicklung eines Lebensversicherungsvertrages.

2

Auf ihren Antrag vom 24. November 1999 erhielt die Klägerin von der Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Begleitschreiben vom 2. Dezember 1999 einen Versicherungsschein über eine Kapitallebensversicherung mit Überschussbeteiligung. Als Vertragsbeginn war der 1. Dezember 1999 vereinbart, als Ablauf der Versicherung der 1. Dezember 2011.

3

Die Klägerin zahlte in der Folge die monatlichen Beiträge, zunächst regelmäßig. Mit Schreiben vom 19. Mai und 18. August 2008 sowie vom 15. Juni und vom 14. September 2009 übersandte die Beklagte der Klägerin jeweils Mahnungen und Kündigungen. Auf die Mahnungen und Kündigungen vom 19. Mai und 18. August 2008 sowie vom 15. Juni 2009 erfolgte jeweils die Zahlung rückständiger Beiträge durch die Klägerin. Nachdem auf die Mahnung und Kündigung vom 14. September 2009 keine Zahlung einging, stellte die Beklagte den Versicherungsvertrag nach Wirksamwerden der Kündigung mit Schreiben vom 28. Oktober 2009 beitragsfrei. Mit Schreiben vom 27. November 2009 unterbreitete sie der Klägerin auf deren Wunsch hin ein Angebot auf beitragspflichtige Wiederinkraftsetzung der Versicherung. Die Klägerin zahlte anschließend die rückständigen Beiträge an die Beklagte, die daraufhin die streitgegenständliche Versicherung wieder in [[X.].] setzte.

4

Nach Ablauf des [[X.].] erhielt die Klägerin die Ablaufleistung. Mit Schreiben vom 2. August 2019 erklärte sie den Widerspruch, den die Beklagte zurückwies. Die Klägerin verlangt in der Hauptsache, soweit für die Revisionsinstanz von Interesse, Rückzahlung aller Beiträge abzüglich der Ablaufleistung und einer Vergütung für den faktischen Versicherungsschutz sowie Herausgabe von [[X.].], insgesamt 2.239,43 €. Sie ist der Ansicht, sie sei nicht ordnungsgemäß über ihr Widerspruchsrecht belehrt worden, so dass die Widerspruchsfrist nicht zu laufen begonnen habe.

5

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen; das [[X.].] hat die Berufung zurückgewiesen. Mit der vom [[X.].] zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

6

II. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Versicherungsvertrag sei nach dem sogenannten [[X.].] zustande gekommen. Es könne dahinstehen, ob die Klägerin ordnungsgemäß über ihr Widerspruchsrecht gemäß § 5a Abs. 2 [[X.].] in der seinerzeit geltenden Fassung (im Folgenden: § 5a [[X.].] a.F.) belehrt worden sei, denn das Widerspruchsrecht sei im Zeitpunkt der Erklärung des Widerspruchs jedenfalls gemäß § 242 BGB verwirkt gewesen. Zwar könne der Versicherer im Falle nicht ordnungsgemäßer Belehrung grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen, weil er die Situation selbst herbeigeführt habe. Wenn besonders gravierende Umstände vorliegen, könne aber gleichwohl ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers in den Bestand des Versicherungsvertrages angenommen werden. Derartige Umstände lägen hier vor.

7

III. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision im Sinne von § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO liegen nicht mehr vor und das Rechtsmittel hat auch keine Aussicht auf Erfolg (§ 552a Satz 1 ZPO).

8

Das Berufungsgericht hat die Revision in Anbetracht des Beschlusses des [[X.].] vom 9. November 2021 (4 [[X.].], juris Rn. 6) und dessen Erwägungen zur Einschlägigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [[X.].] in dessen Urteil vom 9. September 2021 ([[X.].] u.a., [[X.].]/20, [[X.].]/20 und [[X.].]/20, [[X.].]:[[X.].] = NJW 2022, 40) auch für Lebensversicherungsverträge zugelassen.

9

1. Die Frage der Reichweite der Entscheidung des Gerichtshofs der [[X.].] vom 9. September 2021 für [[X.].] ist mittlerweile geklärt. Mit Urteil vom 19. Juli 2023 ([[X.].], [[X.].], 1151 Rn. 13 ff.) hat der [[X.].] entschieden und im Einzelnen begründet, dass auch unter Berücksichtigung der neueren Recht-sprechung des Gerichtshofs der [[X.].] (Urteile vom 24. Februar 2022, A u.a. [[[X.].]], [[X.].]/20 und [[X.].]/20, [[X.].]:C:2022:118 = NJW 2022, 1513; vom 9. September 2021 aaO; vom 19. Dezember 2019, [[X.].] u.a., [[X.].]/18 bis [[X.].]/18 und [[X.].]/18, [[X.].]:[[X.].] = NJW 2020, 667) die Geltendmachung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 [[X.].] a.F. auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung ausnahmsweise [X.] und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein kann, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind.

Die Anwendung auf den Einzelfall obliegt dem nationalen Gericht und beeinträchtigt hier die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts und den Sinn und Zweck des Widerspruchsrechts nicht. Eine Vorlagepflicht ergibt sich entgegen der Ansicht der Revision auch nicht aus dem Umstand, dass das [[X.].] Erfurt (Beschluss vom 14. Oktober 2022 - 8 O 1462/20, juris Rn. 25 f.) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der [[X.].] ([[X.].]/22, juris) gerichtet hat, das die gleiche Problematik betrifft (vgl. [[X.].], Urteil vom 9. September 2015, [X.] und [[X.].], [X.], [X.]/14, [[X.].]:C:2015:564 = juris Rn. 56-63; vgl. [[X.].]surteil vom 19. Juli 2023 - [[X.].], [[X.].], 1151 Rn. 13).

Etwas anderes folgt - anders als die Revision weiter meint - auch nicht aus den Ausführungen des Gerichtshofs der [[X.].] zum unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs in dessen Entscheidung vom 9. September 2021 ([[X.].] u.a., [[X.].]/20, [[X.].]/20 und [[X.].]/20, [[X.].]:[[X.].] = NJW 2022, 40), die zu der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über [X.] und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. [X.], [X.]; im Folgenden: [X.]) ergangen ist (vgl. [[X.].] aaO Rn. 113 ff., 119 ff.; vgl. auch [[X.].]surteile vom 19. Juli 2023 - [[X.].], [[X.].], 1151 Rn. 15 ff. und vom 15. Februar 2023 - [X.], r+s 2023, 298 Rn. 30). Denn in einem Fall - wie hier -, in dem einem nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer ausnahmsweise wegen des Vorliegens besonders gravierender Umstände die Berufung auf ein ewiges Widerspruchsrecht verwehrt wird, richtet sich der Einwand des Rechtsmissbrauchs ausschließlich nach dem nationalen Grundsatz von [X.] und Glauben.

Damit ist die entscheidungserhebliche Frage geklärt und der im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts gegebene Zulassungsgrund der Sicherung einheitlicher Rechtsprechung entfallen.

2. Die Revision hat auch in der Sache keine Aussicht auf Erfolg. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis rechtsfehlerfrei angenommen, dass ein Bereicherungsanspruch der Klägerin nach § 242 BGB hier ausnahmsweise wegen widersprüchlichen Verhaltens der Klägerin ausgeschlossen ist, auch wenn sie nicht ordnungsgemäß über das Widerspruchsrecht belehrt worden sein sollte.

a) Nach der Rechtsprechung des [[X.].]s kann auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung die Geltendmachung des Widerspruchsrechts ausnahmsweise [X.] und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind. Dementsprechend hat der [[X.].] bereits tatrichterliche Entscheidungen gebilligt, die in Ausnahmefällen mit Rücksicht auf besonders gravierende Umstände des Einzelfalles auch dem nicht oder nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer die Geltendmachung eines [X.] verwehrt haben (vgl. [[X.].]surteil vom 19. Juli 2023 - [[X.].], [[X.].], 1151 Rn. 9 m.w.[X.]). Allgemein gültige Maßstäbe dazu, ob und unter welchen Voraussetzungen eine fehlerhafte Belehrung der Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung des Widerspruchsrechts entgegensteht, können nicht aufgestellt werden. Vielmehr obliegt die Anwendung der Grundsätze von [X.] und Glauben im Einzelfall dem Tatrichter (vgl. [[X.].]surteil vom 19. Juli 2023 aaO Rn. 10 m.w.[X.]).

b) Das Berufungsgericht hat sich an diesen Grundsätzen orientiert und im Ergebnis rechtsfehlerfrei das Vorliegen besonders gravierender Umstände festgestellt, die der Klägerin die Geltendmachung ihres Anspruchs verwehren.

aa) Entgegen ständiger [[X.].]srechtsprechung (vgl. [[X.].]sbeschlüsse vom 13. Januar 2021 - [X.]/20, juris; vom 28. Oktober 2020 - [X.], juris) hat das Berufungsgericht allerdings gemeint, je länger der Zeitablauf bis zur Ausübung des Widerspruchsrechts sei, umso höher sei das schutzwürdige Vertrauen des Vertragspartners in den Bestand des Vertrages und umso mehr Gewicht erhalte es, während umgekehrt der gesetzliche Schutzzweck für die Einräumung des Widerspruchsrechts, den Vertrag widerrufen zu können, mit zunehmendem Zeitablauf immer mehr verblasse. Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass auch die lange Vertragsdauer von 12 Jahren, der wiederholte Widerspruch zur planmäßigen Erhöhung der Beiträge sowie die Übersendung von jährlichen Informationsschreiben über den aktuellen Stand der Versicherung Ereignisse aus dem "gelebten Vertrag" sind, die bei nicht ordnungsgemäßer Belehrung ein widersprüchliches Verhalten nicht zu begründen vermögen.

bb) Im weiteren hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung aber den in Einklang mit der [[X.].]srechtsprechung stehenden Obersatz zugrunde gelegt, dass bei - hier revisionsrechtlich zu unterstellender - nicht ordnungsgemäßer Belehrung besonders gravierende Umstände erforderlich sind, um den Widerspruch des Versicherungsnehmers nach § 5a Abs. 1 Satz 1 [[X.].] a.F. als treuwidrig erscheinen zu lassen und insoweit insbesondere berücksichtigt, dass die Klägerin mit ihrem Wunsch nach [X.] Fortführung des Versicherungsvertrages nach der Beitragsfreistellung den ausdrücklichen Willen zum Ausdruck gebracht hat, am Versicherungsvertrag festzuhalten, was bei der Beklagten ein entsprechendes Vertrauen begründen durfte. Diese Würdigung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Prof. Dr. Karczewski     

  

Harsdorf-Gebhardt     

  

Dr. Brockmöller

  

Dr. Bußmann     

  

Dr. Bommel     

  

Hinweis: Das Revisionsverfahren ist durch Rücknahme der Revision erledigt werden.

Meta

IV ZR 163/22

27.09.2023

Bundesgerichtshof 4. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Gera, 5. Januar 2022, Az: 1 S 41/21

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.09.2023, Az. IV ZR 163/22 (REWIS RS 2023, 7728)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 7728

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